Der Nixen-Clan

Band 3

...

Etwas später saßen die Meermänner mit Mario im Labor und packten ihre Rucksäcke aus. Der bekam riesengroße Augen, als er das erste, mit einem farbigen Gummi, markierte Glas in die Hand nahm. Auf dem Etikett standen, zwar in krakeliger aber lesbarer Schrift, alle Daten, die er mindestens benötigte. Tiku grinste jungenhaft. „Ich war so frei, die Proben vor Ort zu beschriften, um dir die Arbeit etwas zu erleichtern.“ „Seit wann kannst du schreiben?“, staunte Mario. „Schon ein Weilchen“, schmunzelte Tiku. „Kirk, Martin und Siria waren so lieb, es mir beizubringen. Ich habe auch immer einen Vorrat an geeigneten Stiften und laminiertem Material in der Grotte.“ „Darauf malt er auch ganz wundervolle Bilder!“, platzte Amar heraus. Mario schüttelte beeindruckt den Kopf. „Unglaublich! Die musst du mir unbedingt zeigen!“ Während er sprach, schob er die Hälfte der ersten Probe in ein Spektrometer und in den Rest hängte er einen Sensor, der die chemische Zusammensetzung an seinen Computer sandte. Sofort griff er nach dem nächsten Glas. Beim siebenten Behälter erklang ein schrilles Klingeln, rote Warnlampen blinkten auf und eine Trennwand schob sich vor die Messgeräte, die den Raum hermetisch abriegelte. Die vier Männer waren beim ersten Ton zusammengezuckt. Mario stoppte den Alarm und checkte die Daten am Computer.

„Giftgas“, flüsterte er erbleichend. „Wer von euch hat die Probe entnommen?“

„Auan“, erwiderte Tiku mit tonloser Stimme. „Und zwar genau dort, wo sich immer die Frauen aufgehalten haben, wenn Stürme den Ozean aufwühlten.“

Auan hatte inzwischen die Farbe einer frisch gekalkten Wand angenommen. „Da waren solche Blasen ... die kamen aus dem Boden ... ich habe zwei oder drei ins Glas blubbern lassen ...“

Mario brachte die geschockten Meermänner in sein zweites Labor. „Hast du die Blasen berührt?“, fragte er Auan.

Der schüttelte heftig den Kopf. „Das habe ich nicht gewagt, weil mir schon vom Wasser dort furchtbar übel war. Ich hatte starken Brechreiz und habe alles doppelt gesehen.“

„Du solltest besser ein paar Tage hier bleiben“, schlug Mario vor. „Ich möchte sicher sein, dass du in Ordnung bist.“

„Wir bleiben alle“, legte Tiku fest. „Wir werden Auan jetzt nicht allein lassen. Und wenn du irgendwas hast, wobei ich dir helfen kann, dann sag es.“

„Ich werde mich um Auan kümmern“, versprach Amar.

Siria kam herein. „Was ist passiert? Ich habe den Alarm gehört.“

Mario berichtete mit wenigen Worten, was geschehen war und fügte hinzu: „Die Neutralisation im abgeriegelten Laborbereich läuft bereits und sollte in einer Stunde abgeschlossen sein.“

„Was war es denn für Gift?“, fragte Siria.

„Tabun“, erwiderte Mario. „Das verdünnt sich im Wasser und wird biologisch abgebaut. Nur dauert das seine Zeit. Ich habe aber keine Ahnung, wie der Kampfstoff in unser Meer gelangt sein kann. Eigentlich ist das nur möglich, wenn vor langer Zeit Munition versenkt worden ist. Fakt ist, dass dieser Giftstoff sowohl Unfruchtbarkeit als auch in höherer Dosierung den Tod verursachen kann.

Wir haben an der Stelle, wo Auan die Probe genommen hat, zudem eine Strömung, die einem großen aber langsamen Wirbel gleicht und das Zeug beinahe auf der Stelle hält.“

„Oh Gott!“, rief Siria entsetzt. „Dann ist das Jahrhunderte lang absolut sichere Refugium zur Todesfalle geworden und die Frauen haben es nicht einmal gemerkt.“

Die Männer nickten mit düsteren Mienen.

„Was können wir tun?“

„Nichts. Wir müssen versuchen, die Nixen zu warnen“, murmelte Mario.

„Das werde ich tun, falls ich denn überhaupt noch eine finde“, sagte Siria mit fester Stimme. „Vielleicht hören sie ja auf eine Frau. Wenn nicht, dann gibt es nur noch drei mögliche Wege.“

„Drei?“, fragte Tiku erstaunt.

„Ja, drei. Der erste wäre: Hunderte von Jahren abzuwarten, bis sich die Population von allein erholt. Der zweite heißt: In die Ostsee auswandern und der dritte, nordische Damen zu finden, die den südlichen Herren Gesellschaft leisten wollen, um das Überleben hier zu retten, was wir bei Weg eins nicht garantieren können.“

„Nordische Damen?“, echoten die Meermänner sehr interessiert.

Siria musste lachen. „War ja klar, dass euch diese Variante am meisten behagt. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Damen wirklich auf einen von euch fliegen.“

„Stimmt.“ Tiku betrachtete die Sache nüchtern. „Aber wenigstens erhöht das die Chance, zu überleben.“

Siria fackelte nicht lange. Sie stellte die Verbindung zu Sina her und aktivierte die Videowand.

Das Gesicht der goldblonden Nixe erschien schon nach wenigen Sekunden. „Hallo, ihr Lieben! Verwandtschaftstreffen?“

„Überlebensberatung“, korrigierte Siria. „Sina, du musst uns helfen. Hier stehen alle Zeichen auf Weltuntergang für unseren Clan.“

Sina hörte schweigend, aber aufmerksam, zu, als Mario die Fakten nannte. Sie reagiert auch nicht sofort, als er geendet hatte. Mit beiden Händen rieb sie ihr Gesicht, bevor sie sagte: „Ich werde auf alle Fälle mit den Damen sprechen. Was dabei herauskommt, werden wir sehen. Fairerweise muss ich sie über alle Gefahren unterrichten, die vor dem Atoll lauern, Orcas, Haie, giftige Fische und giftiges Gas sind da nur ein paar Beispiele. Ich werde interessierten Nixen anbieten, für vier Wochen Gast auf Tuvalu zu sein, damit sie sich vor Ort ein Bild machen können. Wobei es natürlich sein kann, dass sie zwar den Urlaub dankbar annehmen, aber von vorn herein im Herzen nein zur Umsiedlung sagen.“

„Das müssen wir riskieren“, pflichtete Tiku bei.

„Egal, was sonst noch passiert, ich werde ein Tauchboot chartern und versuchen, die Quelle des Gases zu finden, sie zu neutralisieren und herauszufinden, woher das Zeug stammt“, überlegte Mario laut. „Es vergiftet ja auch unsere Nahrungsfische, sodass es die hier lebenden Menschen ebenfalls schädigen kann.“

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