"Wiener Schachzeitung", n° 12, décembre 1901, pages 224-227
In einem in der "St. Petersburger Zeitung" von mir veroffentlichten Aufsatze: "'Natürliche' und 'unnatürliche'' Schachzüge'' bezeichnete ich gelegentlich in der Variante 1. e2-e4 e7-e5 2. Sg1-f3 Sb8-c6 3. Lf1-b5 Lf8-c5? 4. c2-c3! Sg8-e7? 5. O-O! Lc5-b6 6. d2-d4 e5xd4 diesen letzten Zug e5xd4 als 'Tempoverlust' für Schwarz. Es wurde mir darauf die Einwendung gemacht, dass diese Bezeichnung entschieden incorrect sei, denn ein Zug, durch welchen ein feindlicher Stein geschlagen werde, könne allerdings unter Umstanden nachtheilig sein, dürfe aber keineswegs als 'Tempoverlust' definirt werden.
Die Begriffe 'Tempo', 'Tempogewinn', 'Tempoverlust' sind bis jetzt so schwankend begrenzt und in der Praxis so ungenau und abweichend gebraucht, dass es sich der Mühe lohnt, ihre Bedeutung näher zu untersuchen.
Wenden wir uns dem Begriffe 'Tempo'' zu, so dürfte es geeignet sein, zunächst zu constatiren, dass die inhaltliche Bedeutung dieses Wortes mit derjenigen des Wortes 'Zugrecht'' vollständig zusammenfällt. Dieses will ich im Folgenden nachzuweisen suchen.
Sehen wir vom Material, aus dem Schachsteine und Schachbrett angefertigt sind, ab, so wird jedermann einleuchtend sein, dass das Schach, wie alles auf der Welt, ein Product der Grundelemente 'Raum', 'Kraft' und 'Zeit' ist. - Den 'Raum', in 64 Einheiten 'Felder' ein getheilt, gibt uns das Schachbrett, die 'Kraft' wird durch die conventionellen Gang- und Schlageigenschaften der verschiedenen Steine repräsentirt, und endlich kommt durch die Regel des abwechselnden Zugrechtes der Parteien die schachliche 'Zeit' zum Ausdruck; die Zeiteinheiten sind aber die 'Züge'.
Würden keine anderen Uebereinkommen vorhanden sein, so würde, wie im Damenspiel, der Zweck einer Schachpartie einfacher Figurenraub sein. Das Schach hat aber noch eine privilegirte Repräsentationsfigur, den König, dessen Existenz innerhalb der 64 Felder Gewinn und Verlust bedingt. Durch sein Vorhandensein wird beim Schachspiel der Figurenraub ceteris paribus nur Mittel zum Zweck, während der endgiltige Zweck die Eroberung des Königs ist. Der Konig ist aber selbst ein Stein, welcher wie jeder andere Stein mit conventionellen Gang- und Schlageigenschaften ausgestattet ist, sich auf dem Brette bewegt und auf einmal auch nur einen Zug machen darf. Somit erscheint auch der König nur als Product von 'Kraft', 'Raum' und 'Zeit' und die oben ausgesprochene allgemeine Auffassung des Schachspieles wird durch die Sonderstellung des Königs nur complicirt, keineswegs aber umgestossen.
Die Begriffe 'Tempo', 'Tempogewinn', 'Tempoverlust' sind (...) so ungenau (...) gebraucht (...) daß es sich der Mühe lohnt, ihre Bedeutung näher zu untersuchen. (...) Schach, wie alles auf der Welt, [ist] ein Product der Grundelemente 'Raum', 'Kraft' und 'Zeit'.
Die Mechanik lehrt uns, dass die Abhängigkeit der erwähnten Grundelemente voneinander durch jede einfache Maschine umgestaltet werden kann, dass man z. B. auf Kosten von Kraft an Zeit und Raum gewinnen kann und umgekehrt. Analoge Beziehungen lassen sich haufig genug auch beim Schachspiel nachweisen. - Die meisten Gambitspiele beruhen beispielsweise auf diesem Princip. lm Königsgambit sucht Weiss durch Aufopferung von Kraft (eines Bauern) räumliche Vortheile (Bildung eines Centrums) zu erlangen. lm Evansgambit soll hiermit auch noch ein Zug gewonnen werden (Oeffnung der Diagonale c1/a3 für den Damenläufer). Stellen wir uns folgende Eröffnung vor: 1. Sg1-h3 f7-f5? 2. e2-e4 f5xe4 3. d2-d3 e4xd3 4. Lf1xd3, so finden wir, dass Schwarz an Kraft zwar gewonnen hat (Schwarz hat einen Bauern mehr), dennoch aber dem Angriff der weissen Figuren kaum wird Stand halten konnen. Der Angriff von Weiss resultirt nämlich aus dem bedeutenden Uebergewicht in der 'Entwicklung', d. h. aus dem Gewinn an schachlicher 'Zeit'. Weiss hat durch seine vier Züge beide Centrumslinien frei gemacht, der Dame und dem Damenlaufer die Moglichkeit eines eventuellen Eingreifens in das Spiel verschafft, und ausserdem sind Königsläufer und Königsspringer bereits in voller Thätigkeit. Schwarz dagegen hat noch nichts gethan! Umgekehrt lässt sich durch eine weitere Verfolgung des gewählten Beispieles leicht illustriren, dass Weiss den erlangten Vorsprung an Zeit leicht wieder in Kraft transformiren kann: 4... Sg8-f6 5. Sh3-g5 g7-g6 (es drohte Sg5xh7!) 6. h2-h4 Lf8-g7 7. h4-h5 g6xh5! 8. Th1-h5! h7-h6 9. Ld3-g6+ Ke8-f8 10. Sg5-f7 Dd8-e8 11. Sf7xh8 De8-d8 12. Sh8-f7 Dd8-e8 13. Lc1xh6 u. s. w.
Das 'Tempo' ist selbstverstandlich weder ein Stein noch ein Feld, es kann also nur einen rein 'schachzeitlichen' Begriff bedeuten. Da aber die schachliche 'Zeit' in Züge eingetheilt ist, so kann der Begriff 'Tempo' nur in Beziehung zum Begriff 'Zug' stehen. Unter 'Zug' verstehen wir aber einen ganzen Complex schachlicher Erscheinungen. Wir haben bei einem 'Zuge' ins Auge zu fassen: den ziehenden Stein; das Feld, welches derselbe verlasst; dasjenige, welches er betritt; das ausgeübte Recht zu ziehen und endlich gar das nunmehr eintretende Recht des Gegners zu ziehen. - Man sieht, dass der Begriff 'Zug' ausser rein zeitlichen, auch noch räumliche und Kraftbeziehungen enthält. Abstrahirt man die beiden letzten Elemente, so wird uns das 'Zugrecht' allein als rein zeitlicher Begriff übrig bleiben.
Letzteres wäre demnach dasjenige, was man unter dem Worte 'Tempo' zu verstehen hat. Und die Begriffe 'Tempo' und Zugrecht dürften als identisch zu betrachten sein. 'Tempogewinn' bedeutet folglich das Recht, ein überschüssiges Mal zu ziehen; 'Tempoverlust' bezeichnet das abhanden gekommene Recht zu ziehen.
Die Worte 'Tempogewinn' und 'Tempoverlust' geben dem grossen Schachpublicum häufig zu einer unbegründeten Verwechslung mit den Begriffen 'Vortheil' und 'Nachtheil' Veranlassung. Diese Verwechslung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn das Recht zu ziehen nicht auch zu gleicher Zeit eine Pflicht zu ziehen wäre. Da aber nach den Regeln des Schachspiels eine solche Pflicht besteht, so ist es einleuchtend, dass unter Umstanden das Zugrecht (respective die Zugpflicht) auch nachtheilig wirken kann und dass umgekehrt die Möglichkeit, auf das Recht (respective Pflicht) des Zuges Verzicht leisten zu können, oft einen Vortheil involviren würde.
Den einfachsten Beleg für diese Behauptung gibt folgende symmetrische Stellung:
8/8/6K1/4p3/2P5/2k5/8/8 w - - 0 1
Der Anziehende gewinnt, indem er das Feld f5 (respective d4) unter 'Tempoverlust' zu erreichen sucht! Z. B. 1. Kg6-f6! (1. Kg6-f5? Kc3-d4 und Schwarz gewinnt) 1... Kc3-d4 2. Kf6-f5, und Schwarz muss die Deckung des Bauern aufgeben. - Man sieht, dass hier der 'Tempoverlust' (Kg6-f6-f5) Vortheil bedeutet, während der 'Tempogewinn' (Kg6-f6) Verlust nach sich zieht.
Natürlich ist das nicht immer der Fall; das gebrachte Beispiel lehrt uns aber, dass wir im Allgemeinen zwischen den Begriffen 'Tempogewinn' und 'Tempoverlust' einerseits und den Begriffen 'Vortheil' und 'Nachtheil' andererseits streng zu unterscheiden haben.
Kehren wir nun zu der Variante zurück, welche mir Veranlassung zu obigen Auseinandersetzungen gab und mit welcher ich diesen Aufsatz begann, so wird es klar sein, dass nach 1. e2-e4 e7-e5 2. Sg1-f3 Sb8-c6 3. Lf1-b5 Lf8-c5? 4. c2-c3! Sg8-e7? 5. O-O! Lc5-b6 6. d2-d4 e5xd4! dieser letzte Zug von Schwarz trotz des Ausrufungszeichens, d. h. trotzdem er als der bestmögliche in der vorliegenden Stellung erscheint, dennoch ein 'Tempoverlust' sein kann. Dass durch ihn ein feindlicher Stein geschlagen wird, thut gar nichts zur Sache.
Gerade diese letzte Behauptung könte vielleicht noch einige Leser consterniren; ich füge daher meinen theoretischen Maximen folgenden praktischen Beweis hinzu. - Man vergleiche folgende zwei theoretisch als vollkommen correct anerkannte Varianten:
A.
1. e2-e4
2. Sg1-f3
3. c2-c3
4. d2-d4
5. d4xe5
6. Ff1-b5
7. Cf3-d4
e7-e5
Sb8-c6
Sg8-f6
Sf6xe4
d7-d5!
Ff8-c5
B.
1. e2-e4
2. Sg1-f3
3. Lf1-c4
4. c2-c3
5. d2-d4
6. e4-e5
7. Fc4-b5
8. Cf3xd4
e7-e5
Sb8-c6
Lf8-c5
Sg8-f6
e5xd4
d7-d5
Sf6-e4
C44
Ponziani: Jänisch Counterattack
C50
Giuoco Piano
Die Endstellungen in beiden Varianten sind identisch, und in beiden ist Schwarz am Zuge.
Nun ist aber diese Endstellung in Variante A. in sieben Zügen (von Weiss) entstanden, während bei Variante B. hiezu acht Züge (von Weiss) erforderlich waren. Dieses konnte nur geschehen, indem beide Parteien (Weiss sowohl als auch Schwarz) in der Variante B. je ein Tempo im Vergleich zur Variante A. verloren haben. - Bei den weissen Zügen erkennt man leicht, dass der Tempoverlust durch die Bewegung des Läufers (Lf1-c4-b5 an Stelle von Lf1-b5 in A.) zu Stande kam. - Wo hat aber Schwarz das Tempo verloren?
Wenn wir die Züge von Schwarz in den beiden Varianten vergleichen, so finden wir, dass alle Züge der Variante B. sich auch in Variante A. befinden mit alleiniger Ausnahme des Zuges eSxd4, welcher nur in Variante B. vorhanden ist. Dieser Zug schliesst also dasjenige Tempo in sich ein, welches sich mit dem 'Tempoverlust' von Weiss compensirt hat; demgemass ist dieser Zug selber ein 'Verlorenes Tempo'.
Man sieht also an diesem der Praxis entlehnten Beispiele, dass ein Zug, durch den ein feindlicher Stein geschlagen wird, trotzdem unter Umständen ein 'Tempoverlust' sein kann.
Als ich daher in der diesen Aufsatz einleitenden Variante den Zug 6... e5xd4! einen 'Tempoverlust' nannte, lag in meinen Worten kein Widerspruch, trotzdem durch diesen Zug ein feindlicher Stein geschlagen wurde.