1977 war ich zum ersten Mal auf der documenta – ich war 17.
Ob ich mich damals schon als Künstler gesehen habe, weiß ich nicht … vermutlich schon. Kunst bedeutete für mich jedenfalls: Horst Janssen, Johannes Grützke, Ernst Fuchs – aber auch Arnulf Rainer mit seinen Foto-Übermalungen. Wenn ich mir Kunst anschaute, dann meist aus Genuss … und oft auch, um herauszufinden, wie die Künstlerinnen und Künstler es gemacht hatten.
Die documenta war natürlich ein schöner Schock für den kleinen Jungen in kurzer Trachten-Lederhose. Besonders beeindruckt hat mich die „Besucherschule“ von Bazon Brock. Seinen zentralen Satz – „Die Bedeutung steckt nicht in den Dingen wie der Keks in der Schachtel. Bedeutung entsteht durch Unterscheiden.“ – habe ich nie vergessen. Ob ich ihn damals wirklich verstanden habe, weiß ich allerdings bis heute nicht. Ob ich das heute so noch unterschreibe, weiß ich auch nicht sicher.
Seltsame Sache: Dieses Kunstwerk von Alice Aycock gehört "irgendwie" fest zu meinen documenta-Erinnerungen, aber nur, weil Brock damals ausführlich über diese Fassaden sprach.
Das Kunstwerk selbst und auch Brocks Erläuterungen sind mir allerdings nicht mehr präsent – und das, obwohl ich mich an erstaunlich vieles erinnere, wenn ich mir bei YouTube alte Videos zur d6 anschaue.
Diese Kreuzung („Union Pass“ von George Trakas) in der Karlsaue ist mir jedoch bis heute nahezu körperlich gegenwärtig – das Schwingen des Stahlbandes im Kontrast zur Holzbrücke, die einen zu einem ganz anderen Schritt zwang.
Linda von Chuck Close (hier als Zeichnung von mir) war zwar auch auf der d6 zu sehen, aber ich erinnere mich nicht an das Werk selbst, sondern nur an Brocks Erklärung: Nicht Linda sei Gegenstand des Bildes, sondern die Fotografie:
„Gemalt wird nicht, was auch das Foto zu zeigen scheint, sondern gemalt wird, wie das Fotografieren unsere Fähigkeit verändert hat, Bilder zu lesen.“
Diesen Unterschied zu kennen – und bei Gelegenheit darauf hinzuweisen – gehört seither gewissermaßen zum guten Ton und zu den "feinen Unterschieden".
Die erste Besucherschule Brocks fand bereits 1968 auf der d4 statt. Brock setzte sie 1972 auf der documenta 5 als „audiovisuelles Vorwort“ fort. Weitere Besucherschulen folgten 1977, 1982, 1987 (als TV-, Radio- und Katalogbeitrag) und 1992 (als Video „Der Körper des Kunstbetrachters“).
Meine erste Besucherschule war allerdings zugleich meine letzte. Warum? Ich weiß es nicht.
Erst 45 Jahre später, bei der d14, nahm ich erstmals seit Brocks Besucherschule wieder an einer "Führung" teil – als Mitglied des documenta forums, das "Dating The Chorus" unterstützte. "Dating The Chorus" ist eine Publikation von 30 Choristinnen der documenta 14, die ihre Erfahrungen, Konzepte und Reflexionen zur Kunstvermittlung während der 100 Tage dokumentiert. Die Choristinnen waren Teil des Vermittlungsprogramms der documenta 14 und führten sogenannte Spaziergänge durch, dialogische Rundgänge durch die Ausstellungen.