Diese Seite ist für mich die schwerste. Ursprünglich hatte ich geplant, sie leer zu lassen - und nur das Bild der zerrissenen Dauerkarte zu zeigen.
Über der Ausstellung lagen dunkle Wolken – das ist eine der gängigsten Metaphern. Und sie trifft es.
Man liest bisweilen, die Ausstellung sei nahezu „kunstfrei“ gewesen. Das stimmt so sicher nicht. Zu Beginn der Ausstellung habe ich notiert:
„Heute ‚kleine‘ Tour durch Bettenhausen. St. Kunigundis, Hallenbad Ost, Hübner Areal. Ich bin sehr beeindruckt!“
Aber wie das mit Wolken und ihren Schatten so ist: Egal, was sich darunter befindet – es wird verdunkelt. Das gilt vermutlich sogar für die Erinnerung.
Später schrieb ich hingegen:
„Das war die erste documenta seit 25 Jahren, die mich nicht gefesselt hat. Das letzte Mal ist das passiert bei der documenta 10.“
So habe ich mir diese Diskrepanz damals selbst zu erklären versucht: "Ich habe durchaus einiges gesehen, was mir gut gefallen hat – zum Beispiel den Film "Asît" von Pinar Öğrencis im Landesmuseum.
Vor allem die Kunigundis-Kirche, den Raum von Jumana Emil Abboud, etliches im Naturkundemuseum, die Gesamtinszenierung in der documenta-Halle, die Zeichnungen von Nino Bulling und mehr.
Trotzdem ist der Funke am Ende nicht wirklich übergesprungen. Woran es liegt, weiß ich selbst nicht sicher. Über der Ausstellung stand eine tiefschwarze Wolke, und die konnte ich wohl nicht ausblenden. Einige Künstler:innen – Hito Steyerl, Randfilm – haben ihre Arbeiten deshalb zurückgezogen. Das sollte man weder vergessen noch unterbewerten.
Mit dem Slogan „make friends not Art“ kann ich nichts anfangen. Wenn am Status der documenta als Kunstausstellung gerüttelt wird, bin ich nicht mit im Boot. Ich glaube auch nicht, dass Kunst ihre Rolle als politische Kunst spielen muss. In freien Gesellschaften wirkt Kunst wohl kaum direkt auf die politischen Verhältnisse.
Wenn man so etwas überhaupt sagen will, dann geht sie im Grunde tiefer als Politik: Sie gehört zur – sich stetig wandelnden – Selbstbeschreibung des Menschen, also zum Geist …"
"Der Raum von 'Jumana Emil Abboud' hat mir gestern besonders gut gefallen. Witzigerweise könnte man dieses Stück sogar lesen als kleine kunsthistorische Anspielung an das berühmte "Ceci n'est pas ..." Das ist mir gestern gar nicht aufgefallen und wahrscheinlich ist es der Arbeit auch nicht wirklich angemessen, es so zu sehen.
Man könnte den Text lesen als Hinweis auf das Verwobensein jedes einzelnen Etwas in die verschiedensten Kreisläufe von Kreisläufen. (Aus denen man auch herausgenommen werden kann) Aber der Ausdruck "Memory" rückt es meines Erachtens noch in einen anderen Zusammenhang. Da scheint es mir mehr darum zu gehen, dass Menschen geschichtliche Wesen sind. Wesen, die Geschichten haben und erzählen, einzelne und gemeinsame.
Die Beschreibung der Künstlerin auf der Seite der documenta fifteen geht jedoch nicht auf diese "Metaebene" (das ist die Ebene, wo wir uns alle gegenseitig wiedererkennen könnten) sondern wird etwas konkreter.
Ich verlinke diese Beschreibung hier wegen der Informationen, die sie bietet, obwohl ich sie vom "Tonfall" ganz und gar fürchterlich finde. Sie ist Teil jener "kuratorischen Praxis" bei der jeder Künstler, jede Künstlerin und sicher auch alle Kollektive über denselben rhetorischen Kamm geschoren werden. Als gäbe es nur dieses eine Paradigma und alle Vielfalt müsse unbedingt dieser ganz besonderen Komplexitätsreduktion geopfert werden.
Aber egal, Hauptsache die Arbeit ist hier in Kassel zu sehen" (7. August 2022)
"Heute im Ottoneum: Ein netter documenta-Tourist an der Kasse sucht nach etwas. Ich oute mich als Eingeborener und weise ihm den Weg. Natürlich reden wir auch über unsere bisherigen Eindrücke. Die Frage meines Gesprächspartners, die mir besonders im Gedächtnis geblieben ist: Ist das alles Kunst? Sie ist freundlich formuliert und enthält, wenn ich mich nicht täusche, keinerlei Ablehnung, sondern wird in einem warmen, zugeneigten Ton gesagt.
Mein eigener Eindruck dagegen: Es gibt sehr viel Kunst – ganz anders, als man es im Vorfeld vielleicht befürchtet hatte. Ich bin bisher begeistert." (Facebook, 2. Juli 2022)
Das Hugenottenhausprojekt hat von 2019 bis 2023 im Hugenottenhaus in Kassel fünf Ausstellungen realisiert – im Wesentlichen initiiert und getragen von Silvia Freyer und Lutz Freyer, unterstützt von zahlreichen Helfer:innen, ohne die ein solches Vorhaben nicht umzusetzen gewesen wäre.
2022 fand die Ausstellung erste hilfe : first aid offiziell im Rahmen der documenta fifteen statt. Ich habe damals gemeinsam mit Ricky Weber einen Raum bespielt.
Insgesamt waren in 20 Räumen Arbeiten von rund 40 Künstler:innen zu sehen – u.a. von Alice Creischer, EVA & ADELE, Thomas Huber, Maik und Dirk Löbbert, Norbert Radermacher, Judith Samen, Gregor Schneider und Thomas Schütte.
Die Ausstellung und die sich daran anschließenden Diskussionen – um nicht von Streit oder Schlimmerem zu sprechen – haben (vermutlich nicht nur) in Kassel viele Freundschaften auf die Probe gestellt. Manche sind daran sogar zerbrochen – mitunter öffentlich sichtbar, dokumentiert in den sozialen Medien.