Irgendwo auf der Documenta 11 lese ich: "… die einzige Chance für Subversion liegt darin, die Tradition von Ideen zu studieren … "
Zeichnungen. Fotografien. Videos. Texte. Gedichte. Leucht-Reklame. Stimmen. Geräusche. Musik. Skulpturen. Ready-mades. Theater. Tanz. Performance. Eine vieldimensionale Collage aus all dem sehe ich in Joan Jonas Installation "Lines in the Sand". Eine Installation, bei der ich mehr erahne, als verstehe. Aber es lohnt, hier Zeit zu verbringen. Ich habe aber einige Orientierungsprobleme: Nicht alle Verweise kann ich deuten. Ich kenne Hilda Dolittle (H.D.) nicht - ihr buchlanges Gedicht "Helen in Egypt" ebenso wenig wie ihren Aufsatz "A Tribut to Freud".
Es geht um Troja, Paris, Achilles, die schöne Helena, soviel ist mir klar … Ich brauche viel Nachhilfe ...
Helenas Entführung durch den Trojaner-Prinzen Paris als Ursache des Trojanischen Krieg ist nur die "offizielle" Version des Mythos. Eine andere Version, die des Lyrikers Stesichorus besagt, dass nur ein Phantom von Helena, in Troja war.
Die wahre Helena hingegen war in Ägypten. Auch Euripides Version "verlegt" Helenas Aufenthaltsort nach Ägypten. Warum? Helena ist nicht der Grund des Krieges. Es geht um Handelswege.
Man kann sie aus der Gleichung rauskürzen. Da sie nicht der reale Grund ist, erscheint sie auch bei Euripides nicht real, sondern als Phantom.
Hilda Doolittle folgt diesen Versionen, diesen Visionen – aus demselben Grund? Nicht ganz, vermute ich. In der „klassischen“ Überlieferung wird Helena zwar idealisiert, doch bleibt sie passiv; sie erleidet, sie erduldet Geschichte. Die Helden sind andere. Es geht um die Rolle der Frau. Achilles und Paris „kämpfen um Helena“ – H.D. kämpft um das Bild der Frau.
In dem 1928 entstandenen Gedicht Helen zeigt Hilda Doolittle, dass die „schöne Frau“ von der Kultur, die vorgibt, ihre Schönheit zu verehren, in Wahrheit gehasst wird. In patriarchalen Kulturen gilt: Nur eine tote Schöne ist eine gute Schöne. H.D.s Helen ist passiv, reglos – eine bittere Parodie auf ihre statische Erscheinung in Gedichten von Homer bis Poe und Yeats.
Drei Jahrzehnte später nimmt H.D. das Thema erneut auf, in ihrem Nachkriegs-Meisterwerk "Helen in Egypt". Wieder steht Helena im Mittelpunkt – diesmal als Figur, die von den Griechen gehasst wird, weil sie den Krieg „verursacht“ habe. Doch das Gedicht dekonstruiert genau dieses Bild: Helen, die archetypische Frau als erotisches Objekt, erscheint als von Männern erzeugte Illusion – ein Phantom. Griechen und Trojaner kämpfen um ein Trugbild. (Frei nach Susan Stanford Friedman)
"Helen in Egypt" schildert die Begegnung von Helena und dem Geist des Achilles nach dem Trojanischen Krieg. In Anlehnung an eine Version des Stesichoros erzählt Helena, dass sie nie mit Paris nach Troja ging – eine Göttin habe sie für die Dauer des Krieges nach Ägypten entführt.
Ausgewählte und von mir (sehr) frei übersetzte Ausschnitte aus den Gedichten von Hilda Doolittle zu Helena
Joan Jonas folgt H.D. … bis nach Las Vegas. Dort finden wir eine neuzeitliche Version des alten Ägypten, besser der Pyramiden. Schöner, leuchtender und authentischer noch als das Original. Eine 1:1 Kaufhausversion. Waren haben kein Gedächtnis. In einer Zeit ohne Geschichte betreibt Joan Jonas eine Archäologie der Bilder.
Es geht um verschüttete, verlorene und flüchtige Bilder, Schatten und Linien im Sand; Filme, Fotos, also Lichtbilder und Zeichnungen sind im Grunde nichts anderes.
In einer Szene sehen wir die Ausgrabung eines alten Bildgenerators …
Mit der gleichen Souveränität mit der sie Film, Zeichnung und "Tanz" mischt, vermengt sie auch Vergangenheit und Gegenwart und legt weit auseinander liegende Orte zusammen: Troja, Las Vegas, Ägypten, ihr Atelier. Reißt alles aus seiner zeitlichen und räumlichen, gewohnten Ordnung und ordnet es neu …
Mit der gleichen Souveränität, mit der sie Film, Zeichnung und "Tanz" mischt, vermengt sie auch Vergangenheit und Gegenwart und legt weit auseinander liegende Orte zusammen: Troja, Las Vegas, Ägypten, ihr Atelier. Reißt alles aus seiner zeitlichen und räumlichen, gewohnten Ordnung und ordnet es neu …
Vor Sigmund Freuds Arbeitszimmer, auf dem Weg zur berühmten Couch, hing ein Foto der Pyramiden, ähnlich dem in Joan Jonas Installation. Psychoanalyse und Archäologie sind verwandt. Natürlich. Geschichtsunbewußtsein freilegen.
Auch in Joan Jonas Installation finden wir eine Couch – aus Holz, wie das trojanische Pferd. Das eine zum ent-bergen. Das andere zum ver-bergen. Natürlich.
Dirk Schwarze beschreibt eine Performance von Joan Jonas auf der d11 auf seinem Blog so:
"Ein Höhepunkt im Programm der documenta11: Die New Yorker Künstlerin Joan Jonas (Jahrgang 1936) präsentiert im Studio-Theater im Fridericianum (Frizz) eine Performance, die in atemberaubender Weise ihre in der Binding-Brauerei Video-Installation erweitert. Mit dieser Arbeit beweist die Künstlerin, dass sie im Bereich der Video-Performance immer noch eine Pionierin ist. Joan Jonas war zuvor seit 1972 viermal an der documenta beteiligt. Inspiriert zu ihrer Arbeit wurde Joan Jonas durch das Gedicht Helen in Egypt von Hilda Doolittle, das die griechische Sagenheldin Helena zu einer Ägypterin macht. Auf dieser Basis gewinnt der Trojanische Krieg, der durch den Raub der schönen Helena entfacht wurde, eine andere Dimension und wird zum Kampf um die Vorherrschaft über die Handelswege ..." weiter lesen