Es ist schon beinahe ein Jahrhundert her, als die Zuflucht von einer großen, spirituellen Erneuerungsbewegung erfasst wurde. Die zentrale Figur war ein Mann namens Enoch Scyld, der sich selbst Meister Melior, Sohn der Ewigkeit, nannte. Er zog durch das Tal, die kleineren Dörfer und schließlich auch die Stadt. Er bezeichnete sich selbst als Weisheitslehrer, von den Schicksalsmächten auserwählt um den Menschen einen Weg zu höherer Selbstvervollkomnung und Einklang mit den sie umgebenden Mächten zeigen sollte. Er verkündete eine Lehre einfacher Reinigungs- und Meditationsriten, gebaut auf einen recht harmlose, von Geistern, Schicksalsmächten und kosmischen Harmonien ausgehenden quasireligiösen Mischmasch.
Sie wurde in Form einfach zu merkender, kurzer Sprüchlein verkündet, die seine Anhänger begeistert aufsaugten und sich gegenseitig immer wieder vorsagten. Er war auch imstande, kleinere Wunder zu bewirken, vor allem in den Körpern seiner Anhänger. Er wurde von einer wachsenden Anhängerschar geliebt, verehrt und verfolgt. Und er war ein Betrüger, wie nach einigen Monaten von den O Kosh eingesetzte Investigatoren herausfanden, ein magiebegabter Scharlaten, der auf diese Weise ein nicht unbeträchtliches Vermögen ergaunern konnte. Diese Tatsache wurde dem Volk mit großem Pomp und Zeremonie verkündet, welches sich davon recht unbeeindruckt zeigte. Der Guru selbst wurde von den O Kosh heimlich außer Landes geschafft, zusammen mit einem tolerierten Anteil an seinem Vermögen, gegen das Versprechen, niemals wieder zurück zu kommen.
Von seinen Lehren ist im Volk nicht mehr viel übrig geblieben – sie ist in tausende kleiner Strömungen zerfasert. Das einzig gemeinsame Element, das sich erhalten hat, ist Yoa Tahara – die Idee, dass eine Seele zumindest einmal im Jahr von störenden, beschwerenden oder belastenden Verunreinigungen befreit werden muss. Die Formen haben sich allerdings im Laufe der Jahre recht frei entwickelt, so dass es viele Möglichkeiten gibt, diese Reinheit zu erlangen. An Yoa Tahara begrüßen sich die Reinheit Suchenden traditionell mit folgendem Gruß:
Gruß: „Yoa Tahara, wasche uns rein“ – Antwort: „Tahara Yoa – so soll es sein“. (Auch verkürzt verwendet.)
Es ist festzuhalten, dass diese Worte nicht die geringste Bedeutung haben und von Meister Melior erfunden wurden, um Frauen zu beeindrucken. Das Besondere an diesem Fest ist, dass auch und gerade die Untoten der Zuflucht teilnehmen dürfen (und wollen). Reinheit der Seele ist auch für sie ein wichtiges Thema und entgegen den überzeugten Vorträgen der O Kosh, dass es sich bei denen, die den Untod wählen, stets um rationale, logisch denkende und handelnde Individuen handelt, gibt es in der Toten Hand und bei den freien Toten durchaus Seelen, die einer oder auch mehreren nicht sonderlich vernünftigen Hypothesen über den Zustand der Seele, das Wesen der spirituellen Welt und dergleichen mehr folgen. Daher sind in den Festdörfern des Reinigungsfestes einzelne Gruppen von Untoten, die merkwürdige esoterische Rituale vollführen, kein ungewöhnlicher Anblick. Tatsächlich verschwimmt häufig die Grenze zwischen Leben und Tod und Untote und Lebende vollführen gemeinsam meditative Tänze.
Zu den gewöhnlichen Reinigungsriten gehört vor allem das Atmen heilsamer Dämpfe in speziell konstruierten Hütten oder Zelten, das Singen von meditativen, repetitiven Gesängen, das Durchspülen und Entgiften des Organismus durch das Einnehmen von mit scharfem Feuer gesegneten Gebräuen (dieser Brauch entstammt dem Hobbitvolk). Ebenso hat sich vor allem unter den Untoten die methodische Abfolge meditativer Bewegung eingebürgert, welche oftmals über Stunden hinweg durchexerziert werden. (Lebende Teilnehmer geben meist nach der zweiten Stunde auf).
Es haben sich allerdings auch ungewöhnlichere Riten etabliert:
Die Läuterung von den Kulaken
„Kulaken“ sind die vielen kleinen Sünden, die eine Seele im Laufe der Zeit anhäuft. Diebstähle, Prügeleien, negative Gedanken, verborgene unreine Gelüste ... all diese Dinge häufen sich an und beflecken die ewige Seele. Um diese Makel zu entfernen, muss sich die entsprechende Seele, möglichst vor der Gemeinschaft, dieser Sünden bezichtigen, sich rituell läutern (meist durch Asche oder ein Sprengsel Wasser auf die Stirn) und sodann Besserung zu versprechen und sich von der Gemeinschaft freisprechen zu lassen. Mitunter legt die Gemeinschaft per Zuruf auch kleinere Bußetaten auf – je lauter eine gefordert wird, umso besser steht es dem Delinquenten an, sie auch zu befolgen. Sowohl als Anreiz wie auch um den sozialen Druck zu erhöhen gibt es vor der eigentlichen Zeremonie noch die Tradition des Kulakenziehens. In eine Schüssel werden verdeckt Zettel geworfen, welche den Namen eines anderen und die Sünde enthalten, derer man ihn bezichtigt. Diese Kulakenzettel werden dann öffentlich gezogen und verlesen. Nimmt jemand die Sünde an, hat er nun die Möglichkeit, sich zu reinigen. Lehnt er ab oder nimmt er nicht teil, so macht er sich damit vor der Gemeinschaft verdächtig und muss damit rechnen, dass im folgenden Jahr viel über ihn getuschelt wird. Es ist allerdings auch guter Brauch, einem alle Kulaken zu verzeihen, die er annimmt und von denen er sich reinigt. Die Zettel aller Kulaken, von denen man gereinigt wurde, werden am Ende von Yoa Tahara rituell verbrannt. In der Zuflucht selbst werden sie auf kleine, hölzerne Flöße gelegt, die man brennend den Elem hinunterfahren lässt.
Obwohl Yoa Tahara nicht offiziell sanktioniert ist, ist doch am ganzen Tag ein subtiler sozialer Druck spürbar, der die Anwesenden dazu bringt, sich der Reinigung anzuschließen. Wer sich den Reinigungsriten verweigert, spürt Seitenblicke, Getuschel und muss sich Fragen gefallen lassen, was er denn angestellt habe, dass er zu verbergen sucht.
Die Kulakentaufe
Eine weitere (zusätzliche) Möglichkeit, Kulaken loszuwerden, ist ein Bad in der symbolischen „Quelle der Reinheit“ – dieser Tage meistens ein Zuber, Bachlauf oder klarer See. Diese „Quelle“ wurde ursprünglich durch Meister Melior rituell gesegnet , heutzutage übernimmt diese Rolle eine eigens ausgewählte Jungfrau. Danach, besitzt die „Quelle“ zumindest temporär, jungfernhafte Reinheit, welche sich auf die Badenden überträgt. (Wenn keine echte Jungfrau zu finden ist, kann auch eine Ehrenjungfer auserwählt werden).
Üblich ist es dabei, vor allem unter jüngeren Leuten, sich laut quietschend und platschend vollzuspritzen, um sich gegenseitig bei der Reinigung zu helfen. Traditionell ist der Nasseste auch der Reinste – allerdings ist es meist schwer zu sagen, um wen es sich dabei handelt. Es ist aber auch Sache der persönlichen Ehre, mehr zu spritzen als bespritzt zu werden. Denn Geben ist seliger als Nehmen. Es ist auch manchmal Sitte, Äpfel oder Birnen als Symbol der Reinheit der Natur in das Wasser zu geben – stets einen weniger als Badende im Gewässer sind. Wer die Quelle ohne Frucht verlässt, der ist offensichtlich immer noch unrein ... Solange noch alle in der Quelle sind, ist niemandes Frucht vor Zugriff sicher, was das Konfliktpotential unter den Teilnehmern noch steigert. Die Quelle eilig zu verlassen, ist ein Zeichen von Feigheit.
Das Martyrium des Feuers
Um den ewigen Kampf mit der Unreinheit zu symbolisieren wird, bevorzugt nach Einbruch der Dunkelheit, wenn das Fest schon fortgeschritten ist, der Brauch des Feuermartyriums verwendet. Hierbei dient eine (brennende!) Fackel den Festteilnehmern als Bürde. Wird sie einem angeboten, ist es zumindest verdächtig und ein Eingeständnis von Schwäche, sie abzulehnen. (Ausnahmen gelten für Köche, schwangere Frauen und Offiziere im Felddienst.) Mit der Fackel in der Hand muss man das Lager zumindest einmal umschreiten, den Boden dreimal durch die Fackel bespuckt haben, die Fackel dreimal mit etwas Lebendigem (einer Blüte oder einem Grashalm – Tiere sind nicht so üblich) gefüttert haben und lautstark geloben, im nächsten Jahr die Flamme der Reinheit durch Verzicht (auf zuviel Alkohol, Ehebruch, Völlerei o.ä.) zu nähren. Erst dann darf man die Fackel dem nächsten Unglücklichen in die Hand drücken. Man beachte: All diese Dinge sind, mit der Fackel in der Hand, neben den üblichen Aufgaben zu erledigen. Der Träger von ihnen keineswegs ausgenommen. Bei der Übergabe wird traditionell folgende Satzfolge ausgetauscht:
Geber: „Flamme der Reinheit, Licht des Friedens. Nimm, Freund (Name) und trage ihre Last.“
Empfänger: „Ich danke dir Freund (Name), für Reinheit und Licht. Mit Demut will ich sie tragen.“
Wenn sich jemand weigert, skandieren die Umstehenden traditionell folgenden Spruch, immer lauter, bis der Empfänger nachgibt:
„Wer nicht will die Lasten teilen, den wird Ungemach ereilen!“
Die Fackel wird so lange weitergereicht, bis jeder sie einmal in der Hand hatte. Geht sie in der Zwischenzeit aus, hat der derzeitige Träger die Pflicht, eine neue zu entzünden. Bei größeren Gruppen sind auch mehrere Fackeln unterwegs. Findet sich niemand, der die Fackel nicht schon einmal trug, wird lautstark von allen Teilnehmern die Reinheit von Yoa Tahara proklamiert, was sofort begossen werden muss. Der traditionelle Spruch dazu lautet:
„Nun sind wir rein! Schenkt reichlich ein!“
Dies ruft zuerst der letzte Fackelträger, dem sich immer mehr Teilnehmer anschließen, auf dem Weg zum Fass. Danach artet das Fest meistens in ein Saufgelage aus.
Weitere Traditionen
Yoa Tahara ist keineswegs ein organisiertes, starres Gebilde. Jeder kann kommen, jeder kann seine Idee von Reinheit verkünden und entsprechende Riten vollführen. Yoa-Tahara–Festfelder sind voller Buden, Zelte, kleiner Hütten und anderer Angebote, in denen Ahnenverehrung, Wahrsagerei, der Verkauf spirituell signifikanter Kleinodien oder auch das gemeinsame Genießen von verdächtigen Substanzen ausgeübt wird. Kurz: An Yoa Tahara ist es letztlich jedem selbst überlassen, wie er oder sie feiern und Reinheit finden will. Nur dem Druck der großen Riten kann man sich manchmal schwer entziehen ...
Die Rolle der O Kosh
Die O Kosh haben die Yoa Tahara zugrundeliegende Idee schon vor Jahren als reine Scharlatanerie entlarvt und müssen nun mit der frustrierenden Tatsache leben, dass dies beim gewöhnlichen Volk kaum Beachtung findet. Zwar hören sich die Bürger der Zuflucht die vielen logischen Argumente ihrer Herrscher geduldig an und nicken auch gerne und oft dazu, gefeiert wird das Fest aber trotzdem jedes Jahr wieder. Die Antworten und Ausreden sind verschiedenartig – „es kann nicht schaden“ – „es ist eben Brauch“ – „nur zur Sicherheit“ ... missionarisch eingestellte Magier, die im Volk eine vernünftigere und rationalere Denkweise verbreiten wollen, stoßen auf viele Hindernisse. Schlussendlich ist es aber vor allem die dem Volk der Zuflucht eigene, träge Sturheit, die auch die enthusiastischsten Modernisierer langsam aber sicher verzweifeln lässt. Daher ist es unter den Mitgliedern der Magierschaft selbstverständlich verpönt, sich auf den Festplätzen von Yoa Tahara sehen zu lassen. Es gibt aber in jedem Jahr durchaus hie und da verhüllte Gestalten, die sich ebenfalls in eine der Schwitzhütten und Zuber begeben .... „nur zur Sicherheit“.
Da die O Kosh ihrem Volk nur verbieten wollen, was wirklich bedrohlich ist, wird an Yoa Tahara von Seiten der Obrigkeit lediglich darauf geachtet, dass niemand verletzt oder (zu sehr) betrogen wird. Eine Religionspolizei, wie sie in anderen zivilisierten Völkern üblich ist, gibt es in der Zuflucht nicht, trotz gewisser, wiederkehrender Anträge im Hohen Rat.