Vom Volk der Zuflucht bisweilen fälschlicherweise als „Kerghanstag“, „Kerghansabend“ oder (verschliffen) „Kehraus“ bezeichnet, ist dieser Festtag ein weiteres Indiz für die grundsätzliche Zweiteilung der Zufluchtskultur.
Die Ursprünge des Feiertags sind offensichtlich. Schon am Abend des Tages, an dem der Verräter verbannt worden war, verkündete Marlina Bergwind die Losung des Widerstandes, die heute als geflügeltes Wort in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist. „Trinkt, esst und seid fröhlich! Heute Abend wollen wir Kerghan den Wert des Lebens beweisen.“ Und auch in den folgenden Jahren war es ausdrücklicher Wunsch der Gründer, dass sich am Tag des Triumphs alle Bewohner der Zuflucht, insbesondere aber die sonst so ernsten O Kosh, an den guten Dingen des Lebens erfreuen. Hintergrund, Ziel und Form des Tages der Verbannung sind also eindeutig. Manche Protagonisten der Ereignisse können heute noch (theoretisch) befragt werden, und von etlichen anderen existieren genaueste Aufzeichnungen.
Wie konnte es also dazu kommen, dass ein Fest mit einer so einfachen und klaren Prämisse eine solche Wandlung erfahren hat? Hier muss wieder auf die grundlegende Spaltung in der Zuflucht eingegangen werden. Der Kampf gegen Kerghan war ein Krieg von Magiern gegen Magier, mit fast ausschließlich magischen Mitteln. Mehr als die ersten Efekte von Kerghans „Befreiung vom Leid“ und einiger weniger Kollateralschäden wurden durch das Volk nie wahrgenommen. Der große Sieg fand im Verborgenen statt.
Die Traditionen, die den Verbannungstag heute bestimmen, sind also durch die Vorstellungen des gemeinen Volkes geprägt worden, welches nur wenig Aufmerksamkeit für abstrakte Diskussionen um die Natur des Lebens und den Wert von Leid und Freude übrig hat. Bestimmender Faktor ist hingegen der Zeitpunkt: Kerghan wurde im Winter verbannt. Die Zuflucht ist zwar durch ihre Eigenheiten mit einem Übermaß an billiger Arbeitskraft gesegnet, aber dennoch eine fundamental agrarische Gesellschaft, gerade auch wegen ihrer Abgeschiedenheit. Daher ist ihre Kultur trotz allem geprägt durch den uralten Zyklus der Jahreszeiten und der Fruchtfolge – Saat, Ernte und Brache. Ein Fest in der Brachezeit nimmt unweigerlich einen gewissen Charakter an.
Die wichtigsten Traditionen am Abend von Kerghans Verbannung sind:
Der Kampf gegen den Schwarzkehr (auch Schwartker, Svartken und Swart Kerch). Dies ist die bekannteste und bedeutendste Tradition am Abend. Zunächst trifft man sich zu einem gemeinsamen Mahl mit Freunden und Verwandten, gerne auch bei Musik und ein wenig Tanz. In dessen Verlauf werden die Kinder (die wissen, was kommt) immer aufgeregter.
Schließlich, wenn die Spannung schier nicht mehr auszuhalten ist, dröhnen vom Ende der Straße, aus der Scheune oder von einem anderen dunklen Eck her schwere Schritte. Das ist der Schwarzkehr, der Böse Mann, der in dieser dunklen Nacht alle schönen Dinge auf der Welt zu rauben sucht, um sie dann mit in sein finsteres Loch, irgendwo am dunklen Himmel mitzunehmen (denn er hasst alles Gute, Schöne und Lichte).
Außerdem ist er gekommen, unartige Kinder zu rauben (die braven hätte er zwar auch gerne, kann sie aber nicht anrühren – ihre Reinheit schützt sie). Die Schritte kommen immer näher, bis schließlich dreimal hämmernd eine schwere Hand an die Tür pocht. Was zumeist zu großem Geschrei und Gequiecke führt. Der Hausherr muss antworten – das verlangen die Regeln. Sodann entspinnt sich ein Dialog. Der Svartken darf nur eintreten, wenn es in diesem haus Unartigkeit gibt.
Es hat etwas von Anklage und Verteidigung – der Schwarzkehr beschuldigt die Kinder, diese müssen sich piepsend verteidigen. Am Schluss kommt, je nach Nachsichtigkeit der Eltern, entweder heraus, dass die Kinder leider nicht brav genug waren, oder aber der Schwartken muss sich mit dem Raub des Abendessens bescheiden. Auf jeden Fall aber tritt er ein. Gekleidet ist er, natürlich, ganz in schwarz. Eine Magierkapuze und klirrende Knochen am Gürtel verraten noch die Ursprünge dieser Figur. Auf dem Rücken trägt er den Sack mit allen guten und schönen Dingen, das Gesicht ist schwarz maskiert oder mit Ruß eingerieben.
Hat es im Haus unartige Kinder, werden sie jetzt in einen zweiten Sack gesteckt, ansonsten macht er sich daran, den Festtagsbraten zu rauben. Hier schlägt die Stunde der Verteidiger – der „Altväter“. Kinder, die ausreichend brav waren, dürfen sich jetzt in weiße Umhänge, Laken oder Ähnliches hüllen und den bösen Schwarzkehr mit ihren „Zauberstöcken“ vertreiben. (Es wird dem Darsteller geraten, sich dick zu polstern – Kinder kennen keine Hemmungen.) Es gibt einen möglichst dramatischen Kampf, den die Kinder aber natürlich gewinnen. Der Schwartken muss fliehen und lässt dabei seinen Sack zurück, in dem sich die Geschenke für die siegreichen Helden befinden (und auch ein paar für den Rest.)
Den Kindern wird dann noch einmal eingeschärft, dass der Swartken nur aus seinem Loch steigen konnte, weil man nicht ausreichend brav war. Sie versprechen Besserung für das nächste Jahr und erhalten ihr Geschenk. (Die Tatsache, dass es ohne Swartken keine Geschenke gäbe, geht an manchem altklugen Besserwisser nicht vorbei.)
Das Lebensgericht
(auch Lebensbeweis, Lebensfeier, Lebensmahl) Schon etwas näher an den Ursprüngen des Festes ist diese Tradition, die sich vor allem an die etwas Älteren und Unverheirateten richtet, aber auch in der Gilde sehr beliebt ist. Zunächst einmal einfach eine große Feier mit viel Alkohol, Musik und Tanz steht hierbei immer der Gedanke im Hintergrund, zu zeigen, dass das Leben eigentlich doch eine feine Sache ist. Von den Feiernden wird viel Ausgelassenheit erwartet, Trinksprüche auf die angenehmeren Dinge des Lebens und ganz allgemein einen an diesem Abend tolerierten Hang zur Dekadenz.
Besonders gerne werden dabei auch fremde Gebräuche integriert. Weitgereiste berichten von schönen, prachtvollen oder einfach nur erstaunlichen Genüssen „aus den vier Ecken der Welt“, die dann unter großem Gejohle und Geproste in den „traditionellen Kanon“ übernommen werden. Vertreter fremder Völker und Kulturen dürfen sich großer Aufmerksamkeit sicher sein – man säuft „wie die Hobbits“, tanzt „nach Elfenart“ oder „rummelt sich den Ork weg“.
Etwas feingeistiger geht es beim Dichterwettbewerb her.
Etwas. Elegische Oden sind nicht zu erwarten – die Tradition verlangt kurze, scharfsinnige Verse zum Thema, am fortgeschrittenen Abend auch in unreiner Form. Am einfachsten, aber auch am wenigsten beliebt sind Ganz allgemein Schönheit, Wahrheit und Freude zu preisen ist einfach, bringt einem aber auch wenig Ruhm (und mehr geworfene Knochen). Schon deutlich mehr Anerkennung finden Loblieder auf gewisse Genüsse – Alkohol, Musik und der menschliche Körper stehen dabei im Vordergrund. Die Vorzüge einer gewissen Person zu rühmen, kann sehr riskant sein, gerade wenn das Publikum diese Ansicht nicht teilt, gibt dem Abend aber den gewünschten Hauch von Frivolität.
In eine ganz andere Richtung gehen die Spottverse, die vor allem von Schülern auf ihre Lehrmeister verfertigt werden. Der Hintergrund ist, dass an diesem Abend ja gerade von den O Kosh erwartet wird, die Regeln des blasierten Anstandes und der eisernen Selbstzucht einmal fahren zu lassen. Die Eminenzen halten sich dabei gegenseitig im Zaum – wer seinen Schüler maßregelt, muss sich nachsagen lassen, ein Griesgram und Spielverderber zu sein. Nichts schützt den Schüler allerdings davor, seinerseits Ziel eines meisterlichen Spottgedichts zu werden – und wenn der Meister dann auch noch besser ist, ist dies die größte Niederlage.
Ein gelungenes Lebensgericht (an dessen Ende das Leben von Kerghans Anklage immer freigesprochen wird) endet erst mit Sonnenaufgang.
Grundlose Gaben:
Eine angeblich uralte Tradition, die mit verschiedenen Geschichten über großzügige, reiche Eminenzen, neckische Kobolde oder, in einem Fall, sogar mit dem Auftritt eines ungewöhnlich spendierfreudigen Piratenkapitäns begründet wird. In Wahrheit aber keine fünfzig Jahre alt und die Erfindung eines Schmuck – und Zierkramhändlers aus der Stadt.
Nichtsdestoweniger erfreuen sich die „grundlosen Gaben“ (dies ist gleichermaßen ein versteckter Hinweis auf die Gründer wie auch eine Koketterie – selbstverständlich hat jede Gabe einen Grund) wachsender Beliebtheit. Das Ziel ist es, einer besonderen Person in seinem Leben (dies muss durchaus nicht immer romantisch begründet sein – ebenso häufig sind Eltern, gute Freunde oder einfach jemand, dem man sich andienern will) heimlich im Verlauf des Festes ein kleines Geschenk zukommen zu lassen. Eine gelungene Gabe sollte dem Beschenkten erst im letzten Moment auffallen, sie sollte ihm (natürlich) gefallen, aber vor allem sollte sie so gewählt sein, dass der (offiziell anonyme) Spender durchaus herauszulesen ist.
Ebenso sollte dem Beschenkten die Intention klar werden. Der Schenkende hat sich nach der Tradition nicht zu offenbaren . Wird er darauf angesprochen, soll er leugnen und wüste Lügen erzählen. Es hat alles im Subtext stattzufinden, auch wenn diese Regel häufig verletzt wird.