Aufgezeichnet durch Tarsach al’Iblis ibn Muqh, Sammler von Bräuchen und Volksglauben
Unter den Fest- und Feiertagen der Zuflucht nimmt der Siegestag eine besondere Stellung ein. An ihm zeigt sich klar die Trennung zwischen dem gewöhnlichen, praktischen Volk und der herrschenden Schicht, welche mitunter ein wenig vergeistigt und weltfern werden kann. Begangen wird die Wiederkehr jenes Tages, als es den Soldaten der Zuflucht gelang, die letzten Eroberer aus ihren Landen zu vertreiben.
Jene hatten es sich in diesen Tagen zum Ziel gemacht, die nekromantischen Praktiken der O Kosh not Un auszurotten, nebst allen Einwohnern ihrer Lande. Von besonderer Bedeutung bei diesem Feldzug waren die sogenannten ‚Inquisitoren‘, besonders befugte Kommandanten, denen es oblag, jedwede Fehlgläubigkeit unter den Bewohnern der Zuflucht auszutilgen. Sie begannen ihr Werk schon während der Kämpfe, eine Eigenheit, der man nachsagt, dass sie die Eroberer jegliche Sympathie von Seiten des Volkes gekostet habe wie auch den Sieg selbst. Die Figur des Großinquisitors nimmt in den Bräuchen besondere Stellung ein.
Von den Ursprüngen
Schon kurz nach ihrem Sieg über die Eindringlinge wurde im Volk der Zuflucht der Gedanke laut, die Siegesfeierlichkeiten zu einer wiederkehrenden Einrichtung zu machen. Zynischere Gelehrte mögen dies mit einem Verweis auf die Gier nach Festivitäten, alkoholischen Getränken und Gelegenheiten zur ehelichen Untreue abtun, doch ich halte es anders. (Selbst wenn die Gattenmordrate nach dem Siegestag immer bedenklich ansteigt.) Die einfachen Menschen verlangt es eben nach Bestätigung der Sicherheit ihres Lebens und nach dem Preis der glorreichen Taten ihrer Vorfahren. Allein, die Herrscher der Zuflucht dachten (und denken) anders. Für sie nämlich war der Krieg, trotz Sieg, eine Niederlage. Dass er tobte war, so sehen sie es, Zeichen ihres Versagens, Verständigung und Eintracht zwischen den Völkern und Denkungsarten zu schaffen. Obgleich mir einige, anonym bleibende Stimmen in der Zuflucht auch zugetragen haben, dass es „ohnehin unmöglich ist, mit diesen verdammten Fanatikern zu reden, geistlose Wilde, allesamt. Lieber hätten wir sie vollständig ausrotten sollen.“ Derlei Ansichten werden jedoch nicht offen vorgetragen. So gestatten die O Kosh ihren Untertanen widerwillig einen Tag zum Feiern. Es wurde auch beschlossen, dass an jenem Tag die Unkundigen und die Kinder über die Ereignisse der Kriegszeit sowie die Gründe unterrichtet werden sollen, nebst ständiger Mahnung, nur ja immer am Werk der Eintracht der Völker und der Belehrung der Unwissenden in den Dingen der Nekromantie zu arbeiten. Wie man sich leicht vorstellen kann, wurden diese Vorträge schon bald völlig ignoriert.
Von den Bräuchen
Am Siegestag ist zu feiern, je nach Vermögen zumindest am Abend, besser aber noch den ganzen Tag. (Dies sorgt oftmals für Unruhe unter den Soldaten, die das Pech haben, am Siegestag auf Manöver abkommandiert zu sein. Die O Kosh wollen von derlei Praktik nicht ablassen, obwohl sie immer wieder für ein Schwinden der Disziplin sorgt.) Die reicheren Bürger der Zuflucht geben Speise und Trank aus, um der Tradition und des Ansehens willen. Es wird aufgespielt und getanzt, häufig finden sich auch Gaukler ein. Aus den Erbauungspredigten der O Kosh, welche dieser Tage nur noch unglückselige Novizen ertragen müssen, hat sich mit der Zeit ein anderer Brauch entwickelt. Immer wieder treten während der Feierlichkeiten hinreichend betrunkene Bürger auf den Tisch und beginnen, die Geschehnisse des Krieges, zumeist aus Perspektive eines verdienten Vorfahren, zu schildern.
Die Interpretation des Volkes ist dabei von einer Derbheit und einem Triumphalismus, dass es den gemeinen, friedensseligen Nekromanten grausen muss. Die Tatsächlichkeit der geschilderten Ereignisse ist optional, wichtig ist, es möglichst blutig und spektakulär zu halten. Beliebt sind auch kämpferische, oder doch zumindest schaukämpferische Darbietungen, gerne auch durch Angehörige der lebendigen Hand, die damit ihre Kampfesstärke und ihren Mut unter Beweis stellen. Finden sich besonders viele Waffenfähige ein, welche nicht nur die nötigen Fähigkeiten sondern auch geeignete Zurückhaltung für derartiges Schauspiel besitzen, wird gar einmal ein Scharmützel aus dem Krieg nachgestellt.
Ebenfalls besonderer Beliebtheit erfreut sich auch das symbolische „Ringen um die Wahrheit“. Dabei treten zwei junge Frauen, in hauchfeine Tücher angetan, in einer schlammigen Grube gegeneinander an, wobei die eine den fanatischen Glauben, die andere die eherne Vernunft vertritt. Jene mögen sich zu Boden reißen, gegenseitig das Tuch zerfetzen und sich in wilden Griffen auf dem Boden wälzen. Im Namen der Ideale der Zuflucht ist es am Ende guter Brauch, dass sich die Feindinnen dann im Versöhnungskusse umschließen. Dieser Brauch gilt als unabdingbar – keine Siegestagsfeier ist ohne ihn.
Wenn die Nacht schon ein wenig fortgeschritten ist, die Feuer aber noch hell lodern, dann ist es Zeit für den Höhepunkt. Schon in den Tagen davor haben einige Bürger eine möglichst lebensechte Strohfigur verfertigt, eine gefragte Ehre. Wenn die Bürger schließlich trunken genug nach dem Erscheinen des Großinquisitors johlen, wird dieser aus seinem Versteck geholt, und unter lauten und launigen Zurufen um das Feuer getragen. Sodann wird Gericht gehalten, wobei der Inquisitor nicht, wie in den Tagen des Krieges, auf dem Richterstuhl, sondern vielmehr auf der Anklagebank Platz nehmen muss. Die Honoratioren des Dorfes eröffnen den Prozess, Anklage geschieht auf Zuruf.
Dabei gilt es, sich als Ankläger zu profilieren, entweder durch besonders amüsante oder aber besonders freche Anklagen, die gerne auch deutlich auf jemand anderen gemünzt sein dürfen. Diese Gelegenheit zu freier Rede wird besonders von den sonst bedrückten und vergessenen Klassen der Gemeinschaft der Zuflucht gebraucht. Die Anklagen sollen sich hierbei ins immer Groteskere und Wildere schrauben, bis das schließlich die Richter unbarmherzig ihr Urteil fällen – in die Flammen mit ihm. Noch einmal wird der Großinquisitor davongetragen und endet schließlich unter Jubel und Flüchen im Feuer. Danach ist die Feier eigentlich nur noch ein großes Besäufnis.
Von der Obrigkeit
Wie bereits erwähnt ist diese Art, den Siegestag zu begehen, bei den eigentlichen Herren der Zuflucht nicht gut angesehen. O Kosh, die ihre Würde und ihr Ansehen waren wollen, verbringen den Siegestag in stiller Meditation oder in ernstem Studium. Eine Beschäftigung mit den Kräften des Glaubens und der Missverständlichkeit ob der nekromantischen Künste wird gerne gesehen. Ebenfalls nehmen Eminenzen, denen Schüler zugeteilt wurden, den Tag gerne zum Anlass, auf die Gefahren der Welt im allgemeinen und des Fanatismus im Besonderen hinzuweisen, sowie jene erbaulichen und mahnungsvollen Vorträge zu halten, welche eigentlich dem gemeinen Volke zugedacht sind (das diese jedoch nicht zu hören gedenkt.) Mitunter werden in den Hallen der Zuflucht Stimmen laut, welche ein Verbot der Feierlichkeiten oder doch zumindest einen stärkeren Zwang hin zu ernsthafterem Verhalten hin fordern. Doch scheitern solche regelmäßig an den Einwänden besonnenerer Köpfe, welche ähnlich denken wie etwa eine Eminenz vergangener Tage, nämlich „dass es ja wohl kaum sinnhaft sein kann, am Tage des Sieges über die Mächte der fanatischen Moral sich eben so wie diese zu gebärden und das Volk aber mit Zwang zum Heil führen zu wollen.“ Nichtsdestoweniger machen immer einmal wieder besonders überzeugte O Kosh zu den Feierlichkeiten auf, um dem Volke die Denkungsart ihrer Herren nahezubringen – ein Ansinnen, das zumeist auf ebenso höfliches wie nachdrückliches Desinteresse stößt. Man sagt, dass eher nachlässige und den einfachen Freuden ein wenig zu sehr zugetane Schüler (aber auch Eminenzen sind darunter) gerne dieses Vorhaben als Vorwand nutzen, um dann auf den Feierlichkeiten nur zu trinken und dem Ringen um die Wahrheit zuzusehen.