Pacing beinhaltet eine Vielzahl von Komponenten und Einflüssen, die möglichst gut geplant werden sollten:
Pacing beinhaltet eine Vielzahl von Komponenten und Einflüssen, die möglichst gut geplant werden sollten:
Gerade in der Anfangszeit steht man recht verloren da, wenn es heißt “Teile dir deine Energie gut ein!”
Wie kann das gelingen, wenn man doch gar nicht weiß, wieviel Energie man zur Verfügung hat? (Spoiler: es ist weniger, als man vermutet. Oftmals ogar sehr viel weniger!)
Ein Aktivitäten-Tagebuch kann helfen. So sieht man, was man denn tatsächlich an einem durchschnittlichen Tag so alles leistet (sofern man gründlich und ehrlich ist beim Aufschreiben.)
Danach ist es für viele hilfreich, wirklich alles, was nicht mit dem reinen Überleben zu tun hat, wegzulassen.
Das kann tatsächlich dazu führen, in einen ersten großen Crash zu geraten - wenn das Adrenalin, welches einen bisher im Alltag hat funktionieren lassen, plötzlich nicht mehr da ist. Aber so kann man die eigene Leistungsgrenze kennenlernen. Wo diese liegt, das ist so individuell wie jeder Mensch.
Manche merken, dass sie nahezu bettlägerig sind, andere können täglich ein paar Schritte in den Garten gehen. In aller Regel ist die Auslastungsgrenze jedoch deutlich niedriger als erwartet, was viele Betroffene erschreckt und für Zugehörige kaum verständlich ist - aber je früher man bereit ist, das zu akzeptieren, umso eher kann man sich im jetzt (hoffentlich vorübergehend) neuen Leben einrichten und es gestalten. Und mir ist sehr wohl bewusst, dass das sehr zynisch oder sarkastisch klingen kann. Ich meine das aber ernst und ehrlich.
Solange man nicht bereit ist, mit der real vorhandenen Energie hauszuhalten und täglich weiter “auf Kredit lebt”, umso schwerer wird ein Ausstieg aus dem Hamsterrad und umso tiefer kann der Crash werden, der einem nach Ende des Adrenalin-Vorrates unweigerlich erwartet.
Eins vorab: die nachfolgende Liste ist enorm lang und bedeutet keine Handlungsanweisung!
Pacing ist kein Wettkampf und es gibt kein vergleichendes "Richtig oder Falsch". Was für mich leicht umsetzbar und gut funktioniert, das kann für dich absolut unpassend sein.
Pacing muss mit der eigenen Lebensrealität vereinbar sein und die individuellen Bedürfnisse und Vorlieben berücksichtigen.
Und: du bist nicht Schuld, wenn Pacing nicht funktioniert!
So, wie nicht jede Person jeden Beruf ausüben kann oder in unterschiedlichen Sportarten erfolgreich (oder eben auch nicht) ist - so ist Pacing für eine Person leicht umsetzbar, während eine andere auch nach langen Monaten noch daran verzweifelt und einfach keinen Zugang findet. Das ist frustrierend - aber das ist dann auch okay. Zwinge dich nicht, etwas zu tun, was dir nicht liegt. Das wiederum frisst nur Energie, die du (jetzt) nicht hast.
Vielleicht gibt es Menschein in deinem direkten Umfeld, die dir sufzeigen können, weinn du deine Grenzen erreicht hast? Oft merkt eine Partnerperson schneller als man selbst, dass die Energie zur Neige geht. Oder es finden sich andere Hilfsmittel, die signalisieren, dass deine Energieressourcen zur Neige gehen, bsp. eine Smartwatch, oder "Erbsen in der Tasche" (mehr dazu weiter unten).
Anbei habe ich ein paar Stichpunkte für hilfreiche Ansätze aus der Community zusammengetragen:
→Immer nur die Hälfte davon machen, was man sich momentan zutraut. Das gilt für Arbeit und Aktivität im Allgemeinen, aber auch fürs Sozialleben (wenn man bsp. denkt, man könnte gut und gerne 3 Stunden auf einen Geburtstag gehen, dann sollte man diese Feier dennoch nach 1,5 Stunden verlassen)
Wichtig ist, solche (auch nachfolgende) Grenzen zu verteidigen und sich nicht durch Dritte überreden zu lassen. Diskutieren nützt da ggf. nichts, eine einfache Lösung wäre “ich erkläre dir das später, im Moment bin ich mit meinem Energielevel wirklich am Ende”.
→führe Tagebuch und Kalender. So kannst du Trigger und Auslöser für Verschlechterungen aufspüren, so kannst du deine Aktivitäten planen und in der Rückschau eine Art Grundlinie deines Aktivitätsspielraumes erkennen.
→Nach aktiven Tagen sollten mindestens doppelt so viele Pausen-Tage eingeplant werden. Nach einem vollen Tag sollten zwei leere Tage folgen, wobei individuell und vom Krankheitsstadium abhängig ist, was “voll” bedeutet. Ist das nicht möglich, dann sollten nach zwei vollen Tagen VIER leere Tage eingeplant werden. So verhindert man, dass sich Aktivitäten addieren und dann unweigerlich ein großer Crash folgt.
→Finde deine persönlichen Energiefresser: Das können bestimmte Tätigkeiten, aber auch Menschen sein. Beobachte dich, wie du reagierst - wann zieht es dir besonders viel von deinen Ressourcen ab?
→Pacing ist kein statischer Prozess. Man muss das täglich Machbare an die vorhandene Tagesform anpassen. Die vorrätige Energiemenge richtet sich nach so vielen Komponenten, bsp. den Nachtschlaf, den Aktivitätsumfang der vorherigen Tage, die eigene Stimmung. Frauen sind leistungsfähiger in der zweiten Zyklushälfte, in der das Progesteron wieder ansteigt. Auch das Wetter ist nicht zu vernachlässigen, v.a. Sonnenschein und angenehme Temperaturen suggerieren möglicherweise mehr Energie, als man real zur Verfügung hat.
→Erledige auch an “guten Tagen” nicht mehr, als an “schlechteren Tagen” möglich wäre. In diese Falle tappen viele, dass sie an den besseren Tagen versuchen, aufzuarbeiten, was liegengeblieben ist. Die Verlockung ist groß, führt aber regelmäßig zu Überlastungen, was PEM (PENE) mit den “schlechten Tagen” nach sich ziehen wird - und das führt im Laufe der Zeit zu dem gefürchteten “Push-Crash-Circle”. Mehr dazu unter “Adrenalin, das Teufelszeug”.
→Pacing ist aber auch kein Wettkampf! Das Ziel von Pacing ist nicht, keine PEM (PENE) zu bekommen. Das Ziel sollte sein, den Alltag so ausgeglichen wie möglich zu gestalten, um so die Krankheit zu stabilisieren und perspektivisch Verschlechterung zu vermeiden.
→Kognitive Arbeit darf nicht vernachlässigt werden beim Planen von Aktivität! Vor allem auch das, was von der bisherigen Routine abweicht, erfordert Kopfarbeit - wenn die langjährige Routine krankheitsbedingt nicht mehr erledigt werden kann, dann geht ganz schön viel Kraft und Energie an Denkarbeit drauf, wie man Alltag und Verpflichtungen trotzdem geregelt bekommt. Das muss man als Betroffene*r auf dem Schirm haben.
Gleiches gilt für das neu zu erlernende Delegieren von Tätigkeiten. Alleine schon das Abgeben von Tätigkeiten, die normalerweise zum eigenen Aufgabenbereich gehörten, bedarf sooo viel Energie!
→Vereinfache deinen Alltag, reduziere Wege und Handgriffe. Vor allem alles, was mit Haushalt, Reinigung, Kochen zu tun hat, frisst enorm Energie.
Manche Erkrankte haben beispielsweise einen zweiten Wasserkocher und Toaster neben dem Bett und die Zutaten für ein Frühstück auch. Andere lassen sich mittags "Essen auf Rädern" liefern (das gibt es nämlich nicht nur für Senioren) oder haben eine Mikrowelle neben der Couch. Trinkwasser gibt es im Badezimmer, man muss nur auf dem Weg zur Toilette die Trinkflasche mitnehmen.
Feuchttücher (Babypflege sowie Allzwecktücher) sind ökologisch sicherlich nicht gut, ermöglichen aber kleine Reinigungen zwischendurch. Erfahrungsgemäß putzt man mit diesen Helferlein deutlich öfter mal zwischendurch und hat so vielleicht die Chance, eine gewisse Grundreinigung zu erhalten.
Rational betrachtet ist es auch ziemlich Quatsch, täglich benötigtes Geschirr nach dem Spülen in den Schrank zu räumen, nur, damit es "ordentlich aussieht". Spätestens zur nächsten Mahlzeit braucht man das eben erst weggeräumte Messer sowieso wieder… ;-)
→ „Nicht stehen, wenn man sitzen kann; nicht sitzen, wenn man liegen kann.“ gehört auch in diese Kategorie, egal, ob es der Hocker in der Küche oder unter der Dusche ist. Vieles kann man auch mit hochgelegten Beinen auf dem Sofa oder Bett tun, ein kleiner Beistelltisch leistet hierfür gute Dienste.
→ Pacing kann auch mit einer Smartwatch gelingen. Diese misst die Aktivitäten, man kann sich ein Ziel setzen, das man dann versucht, NICHT zu überschreiten (anstatt es zu erreichen). Je nach Modell kann man sich seine Kräfte gut visualisieren, man sieht auf einen Blick, wie viel Energie man noch hat bzw. wie viel Aktivität noch drin wäre.
Bei sportlichen Aktivitäten oder auch bei allgemeinen Tätigkeiten kann man damit auch den Puls im Auge behalten, wenn möglich nicht höher als 100-110 bpm (bzw: "220 - Lebensalter x 0,6", das ist eine häufig genutzte Regel). Wenn man den überschreitet: unbedingt Pause machen, bis der Puls wieder bei max. 90 ist.
Gerade anfangs ist eine solche SmartWatch hilfreich, wenn man die Signale des Körpers noch nicht kennt oder allgemein, wenn man ein Mensch ist, der Schwierigkeiten hat, Körpersignale wahrzunehmen und zu deuten.
Aufpassen muss man hierbei jedoch, dass man sich nicht zum Sklaven seiner Uhr macht und sich komplett von der digitalen Anzeige beeinflussen lässt. Panik bei Überschreitung des errechneten Maximalpulses löst das Gegenteil des Erwünschten aus! Und auch das ständige Beobachten der Uhr kostet sehr viel Energie. Besser ist es oft, die aufgezeichneten Werte in der Rückschau zu betrachten und zu analysieren, um eine langfristige Änderung des Verhaltens zu ermöglichen.
→Digitale Anwendungen können für manche Betroffene hilfreich sein, bsp.
- App Visible zur Pacing Kontrolle und Symptomprotokollierung: https://www.makevisible.com/
- Übersetzungstool DeepL für fremdsprachige Texte: https://www.deepl.com/de/translator
- Künstliche Intelligenz wie ChatGPT zum Verfassen von Texten für Behörden oder für die Zusammenfassung von Fachliteratur
- Blaulichtfilter/ Nachtmodus, App zum weiteren Dimmen der Smartphone-Helligkeit
→ Möglichst Akzeptieren, wenn etwas Geplantes nicht geht oder nicht in dem Umfang wie gewünscht funktioniert. Ärgern kostet viel zu viel Energie, die in Neuplanung besser eingesetzt werden kann.
→Im Alltag deutlich langsamer Agieren als gewohnt hilft, Energie zu sparen: Langsameres Tempo verhilft oftmals zu mehr Ausdauer und verbraucht wesentlich weniger Energie.
Das gilt für die Hunderunde genauso wie fürs Abwaschen, Wäsche aufhängen und allem anderen Kram, der "mal eben so" erledigt sein will. Mit ein bisschen Übung kann man sich sogar langsamer freuen - ohne gleich wie das Faultier Flash (im Film "Pets") zu wirken
→Thema Schlaf - hier streiten sich die Geister.
Oft heißt es, man soll schlafen, wenn der Körper danach verlangt. Vor allem anfangs nach überstandener Infektion bleibt einem oft gar nichts anderes übrig. Und später dann, an Tagen, die eh schon mies starten, und dann noch die eine oder andere Überraschung bereithalten, benötigt es manchmal zwingend einen (Nach-)Mittagsschlaf, um nicht zu sehr in PEM zu rutschen.
Andere Meinungen sind jedoch, dass man mit Schlaf am Tag den Tag-Nacht-Rhythmus kaputt macht, so dass man damit auch zu wenig Nachtschlaf abbekommt. Das muss - wie so Vieles - jede*r für sich selbst austesten.
→Generell sollte Pacing nicht “eindimensional” gedacht werden. Der Energievorrat eines Tages muss aufgeteilt werden in alles, was Energie verbraucht. Und dazu zählen neben körperlichen und kognitiven Aktionen auch Emotionen und ein gewisser Energiebedarf zum Aufrechterhalten aller Körperfunktionen.
→Manchen hilft eine Visualisierung, beispielsweise mit der Löffeltheorie nach Christiane Miserandino: Stell dir vor, jede Aktivität an einem Tag kostet immer einen Löffel: Aufstehen, Duschen, Anziehen, Frühstück machen … alles kostet je einen Löffel.
Gesunde Personen haben einen unerschöpflichen Vorrat an Löffeln, chronisch kranke Personen hingegen einen begrenzten Vorrat. In der Geschichte, die Christine Miserandino ihrer Freundin erzählt, beträgt die täglich maximal verfügbare Anzahl 12 Löffel und man muss sich genau überlegen, wie man diese einsetzt, so dass auch am Abend noch ein “Löffel” übrig ist, um heil ins Bett zu kommen. Nachzulesen ist diese Geschichte in zahllosen Varianten im Internet, auch gibt es inzwischen Erweiterungen oder umfangreiche Bilder oder gar Tabellen.
→ "Erbsen in der Tasche" sind eine weitere Möglichkeit, Energieressourcen und deren Schwinden sicht- und begreifbar zu machen. Dazu nimmt man die individuell passende Anzahl trockener Erbsen und steckt sie sich in eine Hosentasche - und immer, wenn man eine Aktivität beginnen will, nimmt man eine heraus. Das funktioniert auch mit Glasmurmeln in einer Schüssel auf den Esstisch oder anderen Gegenständen. Gerade die offen erkennbaren "Erbsen" signalisieren auch Familienangehörigen, wie weit man noch belastbar ist und selbst kleine Kinder können lernen, damit umzugehen (egal, ob selbst oder ein Elternteil betroffen ist).
→Nur (Aus-)Ruhen ist auch nicht gut! Das verstärkt den Muskelabbau und ebnet vielen Folgeerkrankungen den Weg. Ausruhen und Pacing ist nicht dasselbe, auch wenn es in schlimmen Phasen so aussieht. Pacing soll aktives Agieren sein.
→Wenn im Laufe der Zeit durch striktes Pacen der Aktivitätsraum größer wird, sollte man dennoch vorsichtig mit der zusätzlich verfügbaren Energie haushalten. Denn vor allem in der ersten Zeit benötigt der Körper sehr viel Energie zum Heilen und Reparieren. Diese Energie muss man ihm lassen!
Zusammenfassend halte ich fest:
- Erkenne und Definiere deine eigenen, individuellen neuen Grenzen
⁃ lerne aus Fehlern und passe notwendige Aktivitäten und Belastungen an
⁃ setze dir realistische Ziele
- priorisiere die notwendigen Aufgaben, teile in einzelne Arbeitsschritte
- plane Pausen ein
- kombiniere Tätigkeiten mit verschiedenen Anforderungen
- achte auf Frühwarnsymptome und reagiere entsprechend deiner Erfahrungen
Feiere Fortschritte und Erfolge - auch bzw. gerade dann, wenn andere das nicht nachvollziehen können.
- Lieferung von Lebensmitteln (in Etappen) eingeräumt und keinen Schwindel bekommen? Prima!!
⁃ beim Bearbeiten von Anträgen alle zwanzig Minuten aktiv Pause gemacht und deshalb mit wenig Stress viel geschafft? Genial!!
⁃ ein Telefonat ohne Luftnot geführt? Herrlich!!
- Grenzen verteidigt, ohne schlechtes Gewissen zu bekommen? Glückwunsch!!
Nimm diese Etappenziele wahr und schreibe sie dir auf. Vielleicht schafst du dir eine Art Dankbarkeits-Tagebuch an? Klar, mit ME/CFS ist es alles andere als leicht, einen neuen Alltag zu lernen und trotz der Einschränkungen und Symptome auch noch auf irgendwas dankbar zu sein.... Aber das kann wirklich derFall sein und es ist mitunter eine reine Übungssache.
Ich mache jetzt zum Beispiel eine Pause und feiere, dass wieder ein Abschnitt des Manuskriptes fertig ist.
Warum auch nicht? Wer bitteschön will mir das verbieten? ;-)