Auch, wenn ME/CFS in Studium, Aus- und Weiterbildung bisher kaum eine Rolle spielt, so ist es doch inzwischen fast schon häufig geworden, mit Erkrankten im medizinischen, pflegerischen oder therapeutischen Alltag in Kontakt zu kommen. Normalerweise sind das dann die eher mild oder moderat Betroffenen, schwer und schwersterkrankte sieht man im Praxisalltag oder in einer Klinik fast nie.
Bei der Interaktion mit ME/CFS-Betroffenen gibt es einige Dinge zu beachten, die den Umgang mit den Personen jedoch nicht erschweren - wenn man sich drauf einlässt. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hat dazu eine Handreichung erstellt.
Ein Arzt- oder Therapietermin ist immer auch ein Grund für PEM (PENE), die meisten Betroffenen überstehen solche Termine nicht ohne eine Zunahme der Symptomatik.
Vorab sei erwähnt, dass die meisten sich selbst, die Erkrankung und die eigene Leistungsfähigkeit und damit auch die individuellen Auslastungsgrenzen sehr gut kennen. Gerade diese Grenzen müssen jedoch verteidigt werden, um einen Crash und damit eine potentielle Verschlimmerung der Erkrankung zu verhindern. Dieses Verteidigen der Grenzen kann oft sehr harsch und scheinbar ohne erkennbare Vorzeichen passieren und zu einem abrupten Abbruch jeder Konversation führen - das passiert jedoch rein aus Selbstschutz und ist der enorm geringen Leistungsfähigkeit der Betroffenen zuzurechnen. Dieser “Abbruch der Konversation” wurde sicherlich vorab auch angekündigt durch die*den Betroffenen oder eine Begleitperson, diese Ankündigung wurde wahrscheinlich aber nicht wahrgenommen oder als dringend verstanden. (Denn wenn eine an ME/CFS erkrankte Person sagt, dass sie in Kürze das Gespräch beenden muss, dann handelt es sich meistens nur noch um wenige Sätze und nicht um ein paar Minuten, wie es normalerweise im gesellschaftlichen Kontext üblich ist)
→möglichst nur kurze Wartezeiten zumuten, bei langen Wartezeiten ME/CFS-Betroffene vorziehen (wenn möglich)
→separates, ruhiges, abgedunkeltes Zimmer für Wartezeiten anbieten, idealerweise mit Liege
→zeitliche Orientierung geben bei Untersuchungen und/ oder Wartezeiten zwischen Untersuchungen (wie lange ein Test geht, wie lange gewartet werden muss auf den nächsten “Programmpunkt”
→Betroffene nach individuellen Bedürfnissen fragen, bsp. ob das Licht gedimmt werden soll oder ob eine Pause notwendig ist (bei langen Terminen).
→Begleitperson zulassen, wenn von Betroffener*m gewünscht
→zügig arbeiten, trotzdem Zeit lassen (für Notizen oder zum Sammeln der Gedanken). Beides ist ja kein Widerspruch.
→einfache Sprache verwenden, keine ausschweifenden Erklärungen geben (es sei denn, es wird gezielt danach gefragt)
→wichtiges Aufschreiben (Medikations- oder Therapiepläne, oder -vorschläge)
→weiterführende Diagnostik an Leistungsniveau der Patient*in anpassen, Absprechen, ob mehrere ambulante Termine sinnvoll sein könnten oder ob das in stationären Setting gemacht werden soll (hier ist dann gute Vorarbeit nötig, damit in der Klinik das dann auch funktioniert)
→ Allgemein bietet sich in meinen Augen ein Vergleich mit autistischen Menschen an. Nicht, dass die Krankheits- bzw. Störungsbilder vergleichbar wären, aber die Anforderungen an die Umgebung sind vergleichbar (Reizarmut, Struktur, Orientierung)
Auch, wenn die genannten Vorschläge für viele Abläufe in eingefahrenen Strukturen kaum umsetzbar scheinen, so ermöglicht es erfahrungsgemäß nicht nur eine gute und konstruktive Zusammenarbeit mit ME/CFS-Patient*innen, sondern solche Änderungen können insgesamt einen Mehrwert bringen und damit entspanntere Aufenthalte für alle Patient*innen und so einen entspannteren Arbeitsalltag für Ärzt*innen, Therapeut*innen und Praxispersonal.
Für einen notwendigen stationären Aufenthalt von Personen mit ME/CFS gilt Vergleichbares. Ein Aufenthalt im Krankenhaus ist durch lange Wartezeiten gekennzeichnet, unabhängig von der Fachrichtung. Warten ist jedoch für die meisten Personen mit ME/CFS der Energieräuber Nummer 1. Entsprechend hilft es den Betroffenen enorm, wenn ein grober zeitlicher Umfang der Wartezeit bekannt ist oder sogar das Angebot gemacht wird “Sie können Gehörschutz und Augenmaske aufsetzen. Ich hole Sie persönlich ab, wenn Sie dran sind.”
Millions Missing Deutschland hat eine Handreichung erstellt, wie mit ME/CFS-Erkrankten umgegangen werden sollte.
Personen im Crash können mitunter wirken wie eine Person, die einen Schlaganfall erlitten hat. Wenn durch die betroffene Person aber geäußert wird, dass kein Handlungsbedarf besteht und absolute Ruhe gewährleistet werden muss, dann ist dem unbedingt Folge zu leisten. Denn jede weitere Interaktion, jede Untersuchung, jedes Ansprechen verschlimmert den Crash und die damit verbundene Folter für die Betroffenen.
Vorab könnte die*der Betroffene gefragt werden, wie sich bei ihr*m individuell ein Crash äußert und was dann am notwendigsten ist. So kann schriftlich festgehalten und im Team verbindlich festgelegt werden, welche Maßnahmen gemacht werden sollen - und welche nicht.
Aber auch hierfür gibt es bereits allgemeinverbindliche Infos.