Neben der bei manchen Ärzt*innen noch immer vorhandenen Überzeugung, dass ME/CFS eine psychosomatische Erkrankung sei, kann auch ein Codierfehler dazu führen, dass Betroffene eine F-Diagnose bekommen. Unter dem Buchstaben F werden in der Liste der international geltenden ICD-10-Liste psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen geführt.
Wenn bei einem Termin bei einem Arzt/ einer Ärztin diese*r “Fatigue” oder “Erschöpfung” als Stichwort in die Suchmaske der Praxissoftware eingibt, dann erscheint oftmals als erster Diagnose- und Codiervorschlag “F48.0”. Auch andere Erkrankungen aus dem psychiatrischen und psychosomatischen Fachbereich gehen mit Fatigue bzw. Erschöpfung einher, beispielsweise eine Depression. Und manche Ärzt*innen übernehmen einen dieser Vorschläge ungeprüft in die Dokumentation.
Damit gilt aber eine solche Diagnose als gestellt und kann im Krankheitsverlauf vielfältige Probleme verursachen.
Beispielsweise richten sich Therapievorschläge und Kostenübernahmen der Krankenkasse nach den Diagnose-Codes. Für fast alle mit Fatigue einhergehenden Erkrankungen wird kognitive Verhaltenstherapie und körperliches Ausdauertraining in den Leitlinien empfohlen - mit Ausnahme von ME/CFS. Beide genannten Therapien sind bei ME/CFS nutzlos und mitunter so schädlich, dass eine nachhaltige Verschlechterung passiert.
Auch eine Zuweisung in die Fachrichtung einer Rehaklinik orientiert sich an bestehenden Diagnosen. Die Zuerkennung einer Schwerbehinderung wird erschwert, wenn die diagnostizierte Erkrankung nicht zu den geschilderten Einschränkungen passt.
(In der Community werden F-Diagnosen auch "Psych-Diagnosen" genannt.
Das ist keineswegs abwertend gegenüber psychischen Erkrankungen gemeint! Diese Bezeichnung entstand im Kampf der Betroffenen und ihrer unterstützenden Ärzt*innen und Therapeut*innen um die Anerkennung der somatischen - also körperlichen - Ursache der Erkrankung.)
Sollten F-Diagnosen notwendig sein, beispielsweise wenn im Rahmen von Verarbeitungsprozessen Psychotherapie gewünscht wird oder eine psychosomatische Reha sinnvoll erscheint, dann könnte die F54 genutzt werden oder F43.2.
Das Vorhandensein von ME/CFS ist übrigens kein Ausschlussgrund für eine psychische oder psychosomatische Erkrankung. Genauso, wie man zusätzlich zu einem Diabetes mellitus sich ein Bein brechen kann, so kann auch bei Personen mit bestehender ME/CFS-Erkrankung eine Depression, eine Angststörung o.ä. auftreten.