→ Einen Antrag auf Feststellung einer Schwerbehinderung kann und sollte jeder Mensch stellen, der umfangreiche Einschränkungen im Alltags- und Erwerbsleben hat, die mindestens schon seit 6 Monaten bestehen und deren voraussichtliche Behebung nicht absehbar ist. (Bei Erkrankungen oder Unfällen, die mit schweren körperlichen Veränderungen einher gehen, kann ein solcher Antrag auch schon früher gestellt werden, bsp. bei Verlust von Körperteilen.)
→ Einen solchen Antrag gibt es beim Sozial-oder Versorgungsamt. Man stellt ihn an das Landratsamt der Gemeinde, in der man seinen ständigen Wohnsitz hat.
Den Antrag kann man sich nach mündlicher (telefonischer) Anfrage zuschicken lassen oder sich von der Homepage der Gemeinde herunterladen. Gestellt wird der Erstantrag verbreitet noch immer in Papierform - heißt, Antrag ausfüllen, Begleitschreiben dazu und ab zur Post. Nach und nach stellen Kommunen aber um, und Anträge können digital gestellt und eingereicht werden.
→ Der/die behandelnden Arzt*innen brauchen nichts auszufüllen! Name, Fachrichtung(en) und letzte Behandlungen werden in dem Antrag abgefragt und sollten auch angegeben werden. Ebenso werden Krankenhaus- und Reha-Aufenthalte abgefragt. Klinik- und Rehaberichte kann (und sollte) man in Kopie beilegen, ebenso Facharztberichte, die die Beschwerden untermauern.
Das Versorgungsamt bzw. die begutachtende Person holt sich zwar die benötigten Unterlagen von den angegebenen Stellen selbst, das kann aber sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, und je mehr aber schon dem Antrag beigefügt wurde, umso schneller geht aber das gesamte Verfahren.
In dem Schreiben kann man sich übrigens auf maximal 6 unterschiedliche Diagnosen beziehen, die beachtet werden sollten. Ein Beiblatt ist zwar möglich, wird in aller Regel aber nicht zu einem höheren Ergebnis führen. Deshalb sollte man bereits im Vorfeld überlegen, welche Diagnosen zu den heftigsten Einschränkungen führen und es sollten auch die wichtigsten anderen Diagnosen aufgeführt werden, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben. Eine Schwerbehinderung wird allerdings nicht auf eine einzelne Diagnose gestellt, sondern auf die Summe der Einschränkungen, die ein Mensch hat.
→ Wichtig sind nicht unbedingt die Diagnosen - wichtig sind die individuellen Einschränkungen, die sich daraus ergeben. Als Vergleichswert gilt immer eine gleichaltrige gesunde Person. Heißt, es stehen beispielsweise einer 70jährigen Person nicht automatisch "Prozente" zu, nur weil sie nicht mehr so flink und agil ist wie in jungen Jahren. Und es gibt auch nicht automatisch einen hohen GdB bei schwerwiegender Behinderung oder chronischer Erkrankung.
Im Internet finden sich Listen, für welche Einschränkung es wie viele Punkte gibt.
Ein Problem ist nur, dass viele neurologische und fast alle psychisch/ psychiatrisch/ psychosomatischen Diagnosen mit "nach Schweregrad" beurteilt werden sollen, also individuell durch die begutachtende Person festzustellen ist. Eine (hoch-)dynamische Behinderung, wie es ME/CFS in aller Regel ist (zumindest in den ersten Jahren und/ oder bei mild oder moderatem Schweregrad) macht es schwer, die korrekte Einstufung zu treffen. Es ist fast unmöglich, die verschiedenen Tagesformen objektiv zu beschreiben. Es kann sinnvoll sein, die eigenen Einschränkungen mit anderen Erkrankungen zu vergleichen, die im System der Versorgungsstrukturen bekannter sind, beispielsweise Multiple Sklerose, Morbus Parkinson oder Herzerkrankungen.
Entscheidungsgrundlage sind immer die ärztlichen Befunde. Deshalb sollte man als Patient darauf achten, dass der/die Facharzt/Fachärztin nicht nur die Symptomatik in der Anamnese auflistet, sondern im Bericht diese auch als festgestellt beschreibt.
Leider ist das in der Regel bei Fachärzt*innen schwierig. Den meisten Ärzt*innen ist gar nicht bewusst, welches Gewicht ein solcher Bericht haben kann! Deshalb sollte man dies bereits beim Facharzt-Termin vorsichtig ansprechen.
Eine Selbstauskunft kann nie ausschließlich begründend für eine Bewertung im Gutachten sein - im Fall von ME/CFS und der Besonderheit, dass viele Einschränkungen (noch) nicht ärztlich beschrieben werden können, ist eine ausführliche Selbstauskunft jedoch wichtig. Eine Vorlage für eine solche Selbstauskunft stelle ich hier zur Verfügung, wobei so ein ausführliches Dokument individuell gestaltet werden sollte, um die eigene Erkrankung so objektiv wie möglich darstellen zu können.
Für ME/CFS fehlen jedoch noch immer fast überall Referenzwerte. Die Begutachtung erfolgt immer nach individuellen Einschränkungen und ist deshalb abhängig von der jeweilig begutachtenden Person. Eine Auflistung von Versorgungsmedizinischen Grundsätze bei Post COVID mit ME/CFS gibt es hier Man muss seine Einschränkungen so plausibel beschreiben, dass im Zweifelsfall ein Gericht ohne jegliches medizinisches Vorwissen den aktuellen Gesundheitszustand mit den Möglichkeiten und Einschränkungen gegenüber einer völlig gesunden gleichaltrigen Person neutral beurteilen kann.
→ Erkrankungen, die zu einer Einschränkung oder möglichen Behinderung führen, werden höher bewertet, wenn regelmäßig Medikamente eingenommen werden. Beispielsweise bekommt eine Person mit chronischen Rückenschmerzen, die sie mit Bewegung, Physio- und Ergotherapie im Schach hält, dafür in aller Regel keine Schwerbehinderung zuerkannt. Wenn die Person stattdessen regelmäßig (starke) Schmerzmedikamente einnimmt, wird das beim GdB berücksichtigt. Diese Beurteilungspraxis ist unfair und seit langem von verschiedenen Stellen angemahnt, jedoch noch immer Alltag.
Deshalb sollte man jeden Therapieversuch auflisten, den man schon gemacht hat, auch wenn er nicht erfolgreich war, ebenso jedes Medikament, welches gegen Symptome eingenommen werden muss (incl. Beschreibung, was passiert, wenn man dieses Medikament weglassen würde).
Allerdings zählen da wohl wieder nur "richtige Medikamente" (wobei ich ehrlich gesagt auch NEM auflisten würde, wenn sie sich an einem Protokoll oder einer Empfehlung orientieren, bsp. die Liste der Charité. Diese sollte man in solchem Fall dem Antrag beifügen).
→ Einschränkungen nach der GdB-Liste werden übrigens nicht addiert. Die Einschränkung oder Behinderungen mit dem höchsten Punktwert gibt i.d.R. den maximalen GdB (= Grad der Behinderung) an (bsp., wenn jemand alle Finger an einer Hand verloren hat, dann ergibt das lt. Tabelle einen GdB von 50. Bekommt dieser Mensch jetzt noch einseitig eine Prothese des Hüftgelenks, dann werden die dafür festgelegten 20 NICHT addiert, es bleibt bei dem höchsten Einschränkungsgrad von 50). Es gibt jedoch individuell einen höheren GdB, wenn man nachweisen kann, dass verschiedene Behinderungen sich gegenseitig beeiflussen und im Negativen "ergänzen". (siehe hier: Beitrag auf Betanet)
Ein GdB wird NICHT in Prozent angegeben. Ein GdB wird nur mit einer Zahl angegeben, die in Zehnerschritten gestaffelt wird.
Bei einem festgestellten GDB von mindestens 30 gibt es einen Bescheid vom Versorgungsamt, erst am 50 gibt es einen Schwerbehindertenausweis (weil man erst ab 50 als schwerbehindert gilt)
→ Im Erstantrag können jederzeit neue Befunde nachgereicht werden, auch im Widerspruchsverfahren und Klage bei Ablehnung des Erstantrages. Diese Befunde müssten sich jedoch auf den Stand vor der Antragstellung beziehen (es werden also keine Befunde gewertet, die eine zusätzliche Erkrankung oder neu erworbene Einschränkung beschreiben)
→ Den Kündigungsschutz nach dem Schwerbehindertenrecht gibt es ab einem GdB von 50.
Wichtig für Arbeitnehmer*innen: der Kündigungsschutz gilt bereits ab dem Tag der Antragstellung! Er erlischt erst, wenn ein GdB unter 50 festgestellt wurde und tritt sofort wieder in Kraft, wenn ein Widerspruch gestellt wurde.
Deshalb - bei zu erwartenden Kündigung - man sollte seine*n Arbeitgeber*in unverzüglich über eine solche Antragstellung informieren. Denn nur, wenn der/die AG informiert wurde, greift dieser Kündigungsschutz auch! (Diese Information deshalb entweder schriftlich geben oder unter Zeugen).
Ab einem GdB von 30 ist man berechtigt, einen Gleichstellungsantrag zu stellen, man wird dann im Kündigungsschutz einer/m schwerbehinderten Angestellten gleichgestellt. Heißt, eine mögliche Kündigung muss vom Arbeitgeber dann übers Integrationsamt gestellt werden. Den Antrag dafür gibt es bei der Arbeitsagentur.
→ Neben dem Kündigungsschutz gibt es noch eine Reihe weiterer Nachteilsausgleiche, die ein schwerbehinderter Mensch nach Beantragung in Anspruch nehmen kann. Dazu gehören u.a. höhere Steuerfreibeträge, günstigere Beiträge bei Versicherungen und je nach Merkzeichen eine Befreiung von der Rundfunkgebühr, freie Begleitung durch eine Person, Anrecht auf einen Behindertenparkausweis etc.
Diese Merkzeichen werden innerhalb des Bescheides separat ausgewiesen und können/ müssen auch separat beantragt oder dem widersprochen werden.
Merkzeichen müssen auch beim Erstantrag bereits mit beantragt werden, sie werden nicht automatisch erteilt!
→ Ein GdB kann zeitlich befristet erteilt werden. Dazu gehören "traditionell" therapierte Krebserkrankungen, bei denen keine oder nur eine geringe Gefahr eines erneuten Auftretens zu erwarten ist.
Bei chronischen Erkrankungen kann gegen eine solche Befristung widersprochen werden, sollte eine solche ausgesprochen worden sein. Ob das derzeit bei ME/CFS ratsam ist, bleibt noch unbeantwortet, dazu fehlen einfach noch Langzeiterfahrungen.
→ Bitte ärgert euch nicht über ein "psychovegetatives Erschöpfungssyndrom" im Bescheid! Sofern der gdb und eventuelle Merkzeichen der erwartung entsprechen ist ein Widerspruch dagegen nicht sinnvoll, und zwar deshalb:
Wenn ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom im Bescheid als Begründung für eine Schwerbehinderung genannt wird, dann bedeutet das nicht, dass die Ursache der Behinderung eine psychische Erkrankung sein soll. Auch postvirale Fatigue, ME/CFS oder andere neurologische Symptome, die mit Fatigue einher gehen, werden darunter zusammengefasst
Die Begutachtung im Rahmen der Zuerkennung einer Schwerbehinderung erfolgt nach den versorgungsmed. Grundsätzen.
Diese Versorgungsmedizinischen Grundsätze unterteilen den Körper in verschiedene Systeme, um eine umfassende Beurteilung zu ermöglichen, bsp:
"Kopf und Gesicht": Hier werden Auswirkungen von Erkrankungen und Verletzungen im Kopfbereich, wie z.B. Gesichtsnervenlähmungen, Schmerzen oder Einschränkungen der Sinnesorgane bewertet.
"Nervensystem und Psyche": Beeinträchtigungen der Nervenfunktionen und psychische Erkrankungen werden hier berücksichtigt, wobei sowohl neurologische als auch psychische Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben bewertet werden. - u.s.w.