Titus Nervianus - Band 2

Bérénice

Seit Freyas Tod sind zwei Jahre vergangen, in denen Titus, der einsame Meermann, noch deutlicher als je zuvor spürte, wie allein er eigentlich war. An manchen Tagen überlegte er gar, sein Leben zu beenden. Doch die Kraft, die ihn immer wieder an Land trieb, hielt ihn auch davon ab. Zudem hätte es Freya nicht gewollt, wie er ganz sicher wusste, weil sie es stets betont hatte. Manchmal raffte er sich auf, an der kleinen Bandschleifmaschine seine Fingernägel, die eigentlich dolchspitze Krallen gewesen wären, zu maniküren, um im Notfall als Mensch agieren zu können. Er hatte sogar einmal einen Techniker bestellt, der seine Rollstühle wartete und reparierte. Dank Internet und Terminlieferung konnte er einkaufen, ohne das Haus verlassen zu müssen, wenn es ihn nach menschlicher Kost gelüstete oder er Material zum Arbeiten brauchte.

Heute hatte ihn eine merkwürdige Unruhe befallen. Weil die vom ziellosen Herumschwimmen nicht besser wurde, beschloss er, den Tag im Haus zu verbringen und alte Videos anzuschauen, obwohl er drei Tage zuvor erst ins Meer zurückgekehrt war. 

In der Nähe des privaten Bootsstegs ortete er plötzlich eine bekannte Aura. Er blieb unter der Oberfläche, um herauszufinden, wer sich auf dem Grundstück aufhielt. Von der Kante des Stegs baumelten zwei schlanke Beine ins Wasser. Bérénice! Die Urenkelin von Giulio, der Freyas Ex-Schwiegervater, zudem einer ihrer besten Freunde gewesen war. Die offizielle Besitzerin von Haus, Boden und Konto. Was mochte sie hierher getrieben haben?

Titus tauchte geräuschvoll direkt am Steg auf, sodass man von dort nur seinen Oberkörper sehen konnte. „Buongiorno, Bérénice!“

„Huch! Hast du mich erschreckt! Guten Morgen!“, rief die junge Frau. „Wunderbar, dass du doch zu Hause bist. Hast du ein paar Minuten Zeit für mich? Ich muss dringend mit dir reden.“

„Wäre schön, wenn du drinnen warten könntest, ich bin gerade kleidungstechnisch etwas unpässlich“, schmunzelte Titus, was sie glauben ließ, er sei nackt im Wasser. Er entriegelte mit der Fernbedienung die Tür.

„Oh ... natürlich“, stammelte Bérénice. „Du konntest ja nicht ahnen, dass ich ohne Voranmeldung hereinplatze.“

„Zweite Tür links! Ich bin gleich da!“, rief Titus noch hinterher, sich rasch abtrocknend, Shirt und Schlupfsack überstreifend, um seine untere Körperhälfte zu verbergen. Dann zog er sich in seinen Rollstuhl. 

Bérénice hockte fast verschüchtert auf der Sesselkante. Keine Spur davon, sowohl hier die Herrin als auch über das Bankimperium ihres Großvaters zu sein.

Titus kam hereingefahren und öffnete die Jalousien. Er las in ihren Gedanken, wie in einem offenen Buch, nur dass die Seiten durcheinander gekommen zu sein schienen. „Hattest du eine angenehme Reise?“, fragte er, um die Situation etwas zu entspannen.

„Der Urlauberverkehr hielt sich Grenzen“, sagte Bérénice lächelnd.

„Espresso?“

„Gern!“

Titus wechselte in den Rollstuhl mit Hubsystem über, füllte die Maschine und nahm aus dem Gefrierfach Gebäck. „Ich bin leider nicht ganz auf Besuch eingestellt.“

„Kein Problem. Ich hätte ja auch Kuchen mitbringen können, wenn ich hier einfach hereinplatze“, seufzte Bérénice. „Klassische Patt-Situation.“

Titus stellte Wasser und Saft auf den Tisch, polierte die Gläser aus dem Schrank noch einmal mit einem Tuch auf, ehe er sie zum Gebrauch freigab. „Du wirkst deprimiert“, sagte er mit prüfendem Blick. „Wo drückt der Schuh?“

„Überall“, murmelte Bérénice. „Ich bin hier, weil es mir mein Urgroßvater geraten hat.“

Titus machte eine überraschte Handbewegung, wobei er sie fragend anschaute. Giulio war schon vor vielen Jahren verstorben. Titus nahm den fertigen Kuchen aus der Mikrowelle, füllte die Tassen mit heißem Espresso und setzte sich Bérénice gegenüber an den Tisch. Die inhalierte mit einem hingebungsvollen Schnuppern den Duft des starken Gebräus. 

„Fast wie es Freya immer getan hat“, huschte es durch Titus‘ Gedanken. Ihm fiel auf, dass er Bérénice vielleicht nur fünf oder sechs Mal gesehen hatte. Als kleines Mädchen mit lustigen blonden Zöpfen, das es liebte, mit Freya zu basteln und sich von ihm Märchen oder über die Wunder des Meeres erzählen zu lassen.

Da begann Bérénice zu sprechen: „Urgroßvater hat immer gesagt: Wenn du mal groß bist, und gar nicht weiter weißt, und du glaubst, dass niemand mehr helfen kann, dann fahre nach Imperia zu Titus.“

„Das hat er gesagt?“, staunte der Meermann.

„Ja. Und er hat verlangt, dass das sein und mein Geheimnis sei. Kein anderer Mensch dürfe jemals davon erfahren“, erklärte Bérénice, Titus beinahe liebevoll anlächelnd. „Mit meinen Eltern hätte ich nicht drüber sprechen brauchen, denn die wollten einfach nicht begreifen, dass es irgendwas Besonderes geben musste, dass euch, meinen Urgroßvater und Onkel Gaspare ein so langes Leben schenkte. Ich sei eine unverbesserliche Träumerin, hieß es dann, und ich solle mich auf mein Studium konzentrieren, weil ich als einzig Fähige die Fahne des Imperiums hochhalten müsse. Punkt. Ich habe es dann auch ganz nach Wunsch durchgezogen ... bis ... bis ... bis deine Nachricht kam, Freya sei verstorben.“ Bérénice zog geräuschvoll die Nase hoch, ein Taschentuch hervornehmend. „Plötzlich waren da wieder die Worte meines Urgroßvaters, dass es für mich Besseres gäbe, als ein Zahnrad im Finanzgetriebe zu sein. Ich erinnerte mich Satz für Satz an das, was er mir aufgetragen hatte.“

„Dafür, dass du es, ohne die Hintergründe zu kennen, ganz nach seiner Bitte, Buchstabe für Buchstabe erfüllt hast, bin ich dir unendlich dankbar. Ich bin deinem Wohlwollen ausgeliefert, wenn es um dieses Fleckchen Land oder das Geld geht, was ich mit Freya gemeinsam erarbeitet habe“, bekräftigte Titus.

„Das habe ich begriffen, weil er es mir gar so intensiv und streng geheim ans Herz legte“, erwiderte Bérénice. „Und wenn ich sehe, dass du dich optisch nicht verändert hast, seit ich dich kenne, du seit fast einem Menschenleben auf allen Fotos gleich aussiehst, dann weiß ich, dass es ein sehr brisantes Geheimnis sein muss.“

„Aber du bist nicht in erster Linie hergekommen, um das zu lüften“, stellte Titus klar. „Was ist passiert?“

„Es ist kompliziert“, murmelte Bérénice. „Marcel, der Urenkel von Gaspare, versucht mich zu erpressen. Er will Großvaters Villa haben, seit meine oberschlaue Mutter lauthals getönt hat, sie werde dieses ‚Gruselhaus‘ nicht mehr betreten. Kostenlos will er es natürlich! Du hattest recht, dass ich mich möglichst von ihm fernhalten sollte. Nur ist das leichter gesagt als getan, wenn er seine Konten auf unserer Bank hat. Daher weiß ich aber auch, dass er die Villa nur haben will, um sie meistbietend zu veräußern, damit er seine immens hohen Spielschulden decken kann.“

Titus richtete sich auf. „Ach schau an, dann kommen also die Gene der Moreau in dieser Generation doch schon wieder durch. Damit habe selbst ich nicht gerechnet.“

Bérénice stellte mit einem Ruck die Tasse auf den Tisch. „Du weißt davon? Es hieß in Urgroßvaters geheimem Brief an mich, das sei ein absolutes Familiengeheimnis.“

„In das Freya und ich auf äußerst merkwürdige Weise verstrickt worden sind“, gab Titus bekannt. 

Bérénice zog eine Kassette mit vier Fingerprintfeldern aus der Aktentasche und einen handschriftlichen Brief Giulios. Sie stellte die Kassette auf den Tisch, ihm das Papier reichend.

Ein kurzer Blick. „Ich kenne den Inhalt des Briefes und des Kästchens.“ Titus schaute Bérénice forschend an. „Und ich denke, du bist stark genug, die Informationen zu verkraften. Es wäre trotzdem besser, du bliebest ein paar Tage hier. Dann könnte ich dir sofort Rede und Antwort stehen, denn es wird heftig werden.“

Bérénice nickte stumm, nahm das Handy aus der Tasche, um ihren Sekretär anzurufen. „Ich werde die nächsten fünf Tage nicht im Haus, nicht einmal im Land, und nur, im absoluten Notfall, telefonisch erreichbar sein.“

Titus zog die Box etwas näher heran, legte außer dem Daumen alle vier Finger der rechten Hand auf die Scanflächen. Ein leises Knacken. Er probierte, ob sich der Deckel wirklich anheben lassen würde, dann schob er es Bérénice zu, die er aufmunternd anschaute.

Sie klappte es auf und nahm ein kleines, aber ziemliches dickes, Buch heraus, dessen Seiten per Hand beschrieben waren.

Titus schlug vor: „Du machst es dir im Wohnraum bequem. Ich meine, richtig bequem – Beine hoch, Kissen im Rücken. Ich bestelle uns Essen und kümmere mich um alles andere.“ Er begleitete Bérénice in das geschmackvoll eingerichtete Zimmer. „Schau ganz in Ruhe nach, welch streng geheimes Material du nun in den Händen hältst.“

Bérénice blieb ein paar Augenblicke regungslos sitzen, um ihre Gedanken zu ordnen. Sie hörte, wie Titus aus dem Nebenzimmer eines der ortsansässigen Nobelrestaurants anrief und einen Rundumservice für fünf Tage orderte. 

Er lenkte den Rollstuhl wieder herein. „Möchtest du lieber allein sein?“

„Nein. Nein, bitte bleibe hier. Ich habe ein wenig Furcht vor dem, was ich gleich erfahren werde.“

„In Ordnung.“ Er nahm sich ein Buch aus dem Regal, um ebenfalls zu lesen.

Bérénice schlug die erste Seite auf, sich in die akribischen Aufzeichnungen ihres Urgroßvaters vertiefend, die damit begannen, wie seine Ex-Schwiegertochter Freya und ihr neuer Partner Titus seinen Sohn Gaspare vor dem Ertrinken bewahrt hatten. Bérénice las die Passage gleich mehrmals. „Deine Freya war Gaspares Frau gewesen?“, hauchte sie ungläubig.

„Das ist exakt“, bestätigte Titus.

Kopfschüttelnd vertiefte sich Bérénice wieder in die ungewöhnlichen Aufzeichnungen. Als zwei Stunden später der Lieferservice klingelte, schreckte sie zusammen. Sie eilte in die Küche, um Titus zu helfen.

Als er einwenden wollte, sie sei sein Gast, begann sie zu lachen. „Ich sehe dir an der Nasenspitze an, was du gerade dachtest! Ich habe mich dir regelrecht aufgedrängt, da ist es nur fair, wenn ich das erledige, was dir im Rollstuhl schwerer fällt.“

Titus schloss für einen Moment die Augen. Bérénice erwartete Vorwürfe. Stattdessen flüsterte er: „Du hast unglaublich viele Eigenheiten, die Freya so einzigartig machten.“

„Wirklich? Sie war, obwohl ich sie nicht oft gesehen habe, mein heimliches Vorbild bei allem, was ich bisher getan habe. Sie hat mit mir gebastelt und kleine Missgeschicke einfach weggelacht. Meine Mama hat stets nur die Nase gerümpft, wenn ich nicht sofort fehlerfrei agiert habe. Mir von Freya beibringen zu lassen, wie man Schmuck fertigt, hat sie mir schlichtweg verboten. Ich hätte euch so gern hier besucht.“

„Wenn du es immer noch lernen willst, kann ich dir zeigen, wie es geht“, schlug Titus vor. „Du wirst ja nicht volle fünf Tage brauchen, um Giulios Memoiren zu lesen. Bis wohin bist du überhaupt gekommen?“

„Bis da, wo in der Tiefgarage das Licht ausging. Das fiel genau mit dem Klingeln zusammen, weshalb ich gar so erschrocken bin.“