Seemannsgarn?
„Es geht die Sage ...“
Klaas packte mit genervt verdrehten Augen Sam am Arm. „Sag mal, wie oft willst du dir das Ammenmärchen des Alten noch anhören? Der faselt doch jedes Mal dasselbe!“
„Bis ich begriffen habe, was hinter der Geschichte steckt“, erwiderte Sam, Klaas‘ Hand abschüttelnd.
„Ein Hirngespinst.“
„Ach ja? Dann sind wohl die merkwürdigen Wirbel bei völlig ruhigem Wasser auch nur ein Hirngespinst?“, knurrte Sam mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Sind sie nicht! Die lassen sich messen!“, grinste Klaas. „Aber Nixen und solches Zeug kann man nicht messen und gesehen habe ich es auch noch nicht.“
„Ah ja“, witzelte Sam. „Hast du schon mal dein Gehirn gesehen?“
Klaas riss die Augen auf. „Ähhh ... nein. Aber was hat das jetzt damit zu tun?“
„Ganz einfach, wenn du es noch nicht gesehen hast, dann hast du nach deiner Theorie, die ich in dem Fall recht passend finde, auch keins“, grinste Sam.
„Blödmann!“
„Das Kompliment gebe ich gern zurück.“ Sam wandte sich um und spendierte dem alten Mann auf der verwitterten Bank eine Büchse Bier aus seinem Rucksack. „Wohl bekomm’s!“
„Danke! Vielen Dank!“ Die Augen des Alten leuchteten freudig.
„Als Wissenschaftler müsstest du eigentlich wissen, dass hinter jeder Sage aus alter Zeit ein Körnchen Wahrheit steckt“, begann Sam zu erklären.
„Boah eh, gehst du jetzt unter die Märchenerzähler, um rauszufinden, woher die Wirbel kommen?“, schnaufte Klaas.
„Warum nicht, wenn wir mit Messungen nicht weiterkommen?“, stellte Sam die Gegenfrage.
Klaas öffnete schon den Mund, um zum Gegenschlag auszuholen, als ihm einfiel, dass Sam der einzige Meeresarchäologe im Team war, und nicht nur einmal durch Recherchen nach den Erzählungen der Alten spektakuläre Funde gemacht hatte. So atmete er nur tief durch. „Okay. Hast gewonnen. Mich brauchst du ja nicht beim Zuhören. Oder?“
„Zieh ab!“, lachte Sam, dann setzte er sich zu dem alten Mann auf die Bank.
Der Strand leerte sich langsam, weil die Abendbrotzeit anbrach und alle ihren Hotels und Ferienwohnungen entgegenstrebten.
„Freunde oder Kollegen?“, fragte der Alte, mit dem Kopf Klaas hinterherdeutend.
„Kollegen. Noch dazu aus unterschiedlichen Sparten, die sich nicht immer untereinander grün sind“, seufzte Sam. „Er ist Hydrologe, ich bin Archäologe. Er glaubt nur an das, was er messen kann, ich an alte Überlieferungen.“
„Dein Spruch vom Gehirn war jedenfalls nicht schlecht“, kicherte der Geschichtenerzähler. „Ich bin übrigens Fiete.“
„Angenehm. Sam.“
„Abkürzung oder wirklich nur drei Buchstaben?“, fragte Fiete.
„Wirklich nur drei“, schmunzelte Sam. „Und natürlich immer wieder dumme Sprüche wegen des Namens.“
Fiete blinzelte. „Kann ich mir denken. Es hat eben jeder sein Päckchen zu tragen. Mich halten die meisten Zugezogenen für nicht ganz richtig im Kopf, weil ich bei Wind und Wetter hier hocke und den Kindern eine Geschichte erzähle.“
„Wegen der Geschichte?“
Fiete nickte traurig. „Dabei will ich doch nur, dass sie nicht in Vergessenheit gerät.“
„Schreib sie auf!“, schlug Sam vor.
„Aufschreiben?“, staunte Fiete. „Aufschreiben. Hm. Und dann setze ich mich mit dem Buch in der Hand hierher, tu ganz gescheit und erzähle sie trotzdem frei.“
„So wäre meine Empfehlung“, schmunzelte Sam. „Eine andere Variante könnte sein: Ich schreibe sie auf und veröffentliche sie in einem Wissenschaftsmagazin, wobei ich ganz genau angebe, dass du sie mir erzählt hast. Ich halte dich nämlich weder für senil noch wunderlich. Mich interessiert die Geschichte, weil ich glaube, dass sie das fehlende Puzzleteilchen für meine Arbeit da draußen ist.“ Sam zeigte ungefähr an, wo sie in den letzten Wochen getaucht waren. „Ich glaube sogar, dass sie mit dem zusammenhängt, was ich zu beweisen versuche. Nur, dass der Name meines versunkenen Schiffes vielleicht ein anderer ist. Aber in der Ostsee sind so viele Schiffe bei Sturmfluten untergegangen, dass beinahe jeder Name passen würde.“
„Dein Kollege hat von Wirbeln gesprochen“, stellte Fiete zur Diskussion.
Sam nickte. „Wir kriegen einfach nicht raus, was es damit auf sich hat.“
Fiete schaute sich um, winkte Sam, sich näher zu ihm zu beugen und flüsterte: „Die Alten, also mein Großvater und die Fischer, haben erzählt, dass man die überall dort findet, wo sich Nixen aufhalten. Sag’s nicht weiter, denn dann halten sie dich auch für einen Spinner.“
Sam schaute Fiete prüfend an, da berichtete der schon: „Mein Ururgroßvater war mit fünf anderen Fischern weit draußen, als ein Unwetter aus dem Nichts über sie hereinbrach. Das Boot sei, kurz bevor es kenterte, von schier unzähligen Wirbeln umgeben gewesen. Er war der einzige Überlebende und keiner hat je erfahren, wie er mehr tot als lebendig an den Strand gelangt ist. Die anderen und die Reste des Bootes blieben für immer verschwunden. In der Hand hatte er übrigens eine ur-uralte Münze gehalten, als man ihn fand, die er, als er starb, seinem ältesten Sohn vererbt hat. So ging es weiter, bis ich sie als ältester Sohn von meinem Vater bekommen habe.“ Fiete zog eine Kette aus dem Hemdausschnitt, an der eine durchbohrte altrömische Goldmünze hing.
Sam erkannte sofort, dass es sich um eine Traianus Aureus Münze handelte. Er wusste, dass diese, in dem Erhaltungszustand, rund 5000 Euro unter Sammlern wert war. „Ein äußerst wertvolles Erbstück“, flüsterte er. „Bewahre sie gut!“
Fiete lächelte. „Ich glaube, sie bewahrt mich. Großvater bezeichnete sie als Nixengold.“ Er ließ die Kette wieder verschwinden.
„Warum verrätst du mir solch ein Geheimnis?“, staunte Sam.
„Du wirst es erfahren“, strahlte ihn Fiete regelrecht an. „Nur nicht heute.“ Er schaute auf die Uhr. „Zeit, nach Hause zu gehen, ehe meine Frau eine Suchmeldung rausgibt. Ich wünsche dir einen wundervollen Abend und vielen Dank.“
„Gerne! Bis demnächst und gute Nacht!“ Sam nahm die leere Bierbüchse entgegen, um ebenfalls nach Hause um zu schlendern. Es war eine geradezu elektrisierende Unterhaltung gewesen. Er war in dem Vorhaben, den römischen Welthandel hier in der Region durch Funde im Meer nachzuweisen, durch die Münze an der Kette wieder ein bisschen mehr bestärkt worden. Wo eine Münze gewesen war, mussten ganz einfach noch andere zu finden sein.
Die Sache mit den Nixen bereitete ihm wenig Kopfzerbrechen. Obwohl ... das Motiv kehrte bei vielen Völkern immer wieder. Wunderschöne Mädchen, deren Körper in einem Fischschwanz endeten. Es gab aber auch Sagen, in denen die Frauen Beine hatten und in den Tiefen von Seen und Weihern lebten. Und die Wirbel, von denen Fiete gesprochen hatte? Na ja, Wale erzeugten Blasen, um ihre Beute einzukreisen. Aber warum sollten Wale ausgerechnet im Unwetter so etwas machen? Zumindest wäre ein Wal in der Lage, ein kleines Boot kentern zu lassen. Aber so große Wale hier? Fragen über Fragen.
Er hatte gerade sein Gartentor geschlossen, als das Handy eine WhatsApp-Nachricht meldete. Acht Tage, ab Montag nächster Woche, Urlaub genehmigt. Quasi ab morgen zum Feierabend, denn das Wochenende stand nicht in den Plänen. Tief aufatmend legte er das Gerät auf den Schreibtisch und nahm sich vor, die gute Kunde persönlich Linda zu überbringen. Gleich morgen zum Feierabend. Für heute wollte er nur noch einen Happen essen und ins Bett.
„Neues erfahren?“, fragte Klaas, als Sam zum Frühstück in den Pausenraum kam.
Der hob nur beide Daumen, setzte sich zu ihm an den Tisch, ohne sich über das Gespräch mit Fiete auszulassen. Zwei andere Kollegen horchten sofort auf. Sie kannten Sam schon länger und wussten die Geste zu deuten. Es war also mit Überraschungen zu rechnen.
Noch vor dem Mittag bat der Leiter der Gruppe die Mitarbeiter zur Konferenz wegen des weiteren Vorgehens. Vor allem ging es darum, dass die plötzlich auftretenden Wirbel eine Gefahr für Leib und Leben der Teilnehmer darstellten und an exakte Analysen nicht zu denken war. „Wir sollten eine halbe Seemeile weiter zur Fahrrinne der großen Schiffe rücken“, schlug er vor. „Die Untersuchung der Anomalie, die solche Wirbel erzeugen könnte, werden wir verschieben.“
Sam hörte auf sein Bauchgefühl und hob die Hand, um für den Vorschlag zu stimmen. Mit dem Urlaub im Hinterkopf wäre es völliger Unfug gewesen, dagegen zu sein. Und dieser veranlasste ihn auch, sich freudestrahlend eine Stunde eher auf dem Heimweg zu begeben, um Linda im Garten ihrer Eltern mit der guten Nachricht zu überraschen. Sein plötzliches Erscheinen war zwar für beide eine riesengroße Überraschung geworden, nur keine gute ...
Sam hatte schon vom Tor aus Lindas Stimme im Pavillon am hinteren Ende des Grundstücks gehört und sich zielgerichtet dahin begeben. Sie und ihr Vater schienen mit widerspenstigen Gartengeräten zu kämpfen, denn ertönten immer wieder Seufzen und Stöhnen. Sam drückte die Tür auf und blieb wie vor eine Wand gelaufen stehen.
Die eine Person war auch Linda, nur den Mann, der zwischen ihren Schenkeln lag, hatte er noch nie gesehen. Das abgrundtiefe Erschrecken der in flagranti Ertappten registrierte Sam wie durch eine Watteschicht, drehte sich in Zeitlupe um und verließ das Gartenhaus. Wie in Trance steuerte er das Auto zu seinem Häuschen, stellte es ab und schlurfte hinunter zum Strand.
...