Die Welt im Wasserglas

Weihnachtstag

Mildred spähte durch den Spalt der Badtür. Ihre achtjährige Tochter Lissa war noch immer mit Zähneputzen beschäftigt. Wobei das eigentlich nicht der richtige Ausdruck war – sie schaute lächelnd in das Glas mit der blauen Mundwasserlösung. Seit dem Tod ihres Vaters verhielt sich das Mädchen so seltsam. Keith war vor drei Monaten nicht vom Tauchen zurück gekehrt. Seine Leiche wurde nie gefunden. Lizza hatte sehr an ihrem Vater gehangen. „Bist du endlich fertig?“, fragte Mildred. „Einen Moment noch.“ Lissa ließ das Glas hinter ihrem Rücken verschwinden. Mildred drückte sich an die Wand, von wo aus sie das eigenartige Treiben ihrer Kleinen weiter beobachten konnte, ohne jedoch selbst gesehen zu werden. Kaum wähnte sich Lissa allein, holte sie das Glas wieder hervor. „Bist du noch da?“, hörte Mildred sie flüsternd fragen. „Und dann zeigst du mir die Delfine und Wale?“ Das Gesicht der Kleinen nahm einen lauschenden Ausdruck an. Dann lachte sie glücklich und führte das Mundwasser seiner eigentlichen Bestimmung zu, spülte den Becher aus und verließ das Badezimmer. „Mit wem hast du dich unterhalten?“ Mildred schaute Lissa prüfend an. „Mit Daddy“, antwortete die Kleine ganz selbstverständlich. „Du weißt doch, dass er jeden Morgen zu mir kommt.“ „Lizza, Vater ist tot. Er kann nicht mehr zu dir kommen“, sagte Mildred beschwörend.

„Nein, ist er nicht! Er ist bei den Delfinen und den Rochen und den Seelöwen und den großen Walen!“ Lizza hob trotzig den Kopf. „Er hat mir erzählt, dass sich die Wale fast so unterhalten können wie wir. Morgen zeigt er mir wo die großen Kraken wohnen.“ Das Mädchen sprang auf, nahm ihre Schultasche und lief, ohne sich noch einmal umzudrehen, zum Bus.

Mildred starrte ihr beunruhigt hinterher. Dann ging sie langsam ins Badezimmer, wo sie mit gemischten Gefühlen das Zahnputzglas ihrer Tochter betrachtete. Lange drehte sie es zwischen den Fingern, füllte es mit Wasser, beobachtete die Oberfläche, ohne jedoch irgendwelche ungewöhnlichen Dinge zu entdecken. Kopfschüttelnd goss sie den Inhalt wieder aus und wartete ab, bis auch der allerletzte Tropfen im Ausguss verschwunden war. Was mochte nur in Lizzas Gedankenwelt vorgehen? In der Schule verhielt sie sich unauffällig, wie ihr der Direktor versicherte. „Vielleicht sollten Sie das Ganze nicht überbewerten“, riet ihr Lizzas Arzt. „Jedes Kind sucht einen anderen Weg, um mit derartig traumatischen Erlebnissen klar zu kommen. Ihr Mann ist ertrunken, deshalb hofft sie wohl, dass ihr das bläuliche Wasser im Becher Trost spenden kann.“

Mildred hatte genickt, war gegangen und doch keineswegs beruhigt. Der heutige Tag ängstigte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Jetzt, zwei Tage vor Weihnachten brach die Erinnerung an Keith mit aller Macht über sie herein. Lizza ging es sicher genau so. Mildred beschloss Geduld zu haben. Am Morgen des vierundzwanzigsten Dezembers, hörte sie wieder die Stimme ihrer Tochter aus dem Bad.

„Ja natürlich, das kenne ich. Dort liegen im Sommer die vielen weißen Boote.“ Eine kurze Pause, dann sprach sie weiter: „Ich vermisse dich.“ Das Geräusch des Mundausspülens erklang und Lizza erschien gut gelaunt zum Frühstück.

„Wo willst du hin?“, fragte Mildred erstaunt, als sich die Kleine ihren Mantel, Mütze und Handschuhe anzog. „Ich gehe jemanden besuchen“, murmelte sie, während sie die Reißverschlüsse der Stiefel schloss.

„Bleib nicht so lange!“, rief ihr Mildred hinterher.

Es begann zu schneien, die Flocken wirbelten im Wind. „Wie ein Wasserstrudel“, durchzuckte es Mildred siedendheiß. Lizza. Wo blieb die Kleine nur? Zwei Stunden später rief sie die Polizei, nachdem sie vergeblich alle Freundinnen ihrer Tochter abgeklappert hatte. Niemand hatte Lizza gesehen. Mildred wollte sich gerade die Tränen aus dem Gesicht waschen, als sie zutiefst erschrak. Lizzas Zahnputzglas war von der Konsole verschwunden. Ihre Gedanken begannen wild zu kreisen: Delfine – Kraken – Lizza hatte zuletzt von Booten gesprochen. Boote? Das musste es sein! Mit zitternden Händen griff sie erneut zum Telefon. „Officer, lassen sie bitte auch am Hafen suchen…“

Die Stunden vergingen. Dunkelheit senkte sich rasch über die verschneite Welt, die Mildred an ein riesiges Leichentuch erinnerte. Eisige Kälte griff nach ihr. Die Klingel schlug an. Sie rannte, durch die Wohnung, riss die Tür auf und erstarrte. Ein Polizist stand davor. Mildred bat ihn herein, setzte sich ihm gegenüber.

„Man hat ihre Tochter tot im Hafenbecken gefunden. Ein großer Delfin hatte die Leiche auf die Steine der Mole geschoben. Sie hielt dies hier fest umklammert.“ Er stellte Lizzas Wasserglas auf den Tisch.