Eine neue Dynastie

Man muss die Feste feiern, wie sie fallen

Es sind erst wenige Tage vergangen, seit Sir Jim die Geburt seiner Tochter Tessa mit einem großen Turnier gewürdigt hat. Ganz bewusst hatte er den neugeborenen Winzling Cedric, seinem ergebenen und gelehrigen Knappen, in die Arme gelegt, dem die intensiv leuchtenden Augen sofort verrieten, einen jungen Drachen beschützen zu dürfen. Zudem machten weder sein Herr noch Lady Fran, die Mutter der Kleinen, einen Hehl daraus, ihn als Schwiegersohn zu favorisieren. Eine unglaubliche Ehre für einen Menschenknaben, von einem der mächtigsten Drachenpaare als Clanmitglied ausersehen zu werden. Dass dies Cedric noch mehr beflügelte, sah man auf ebenjenem Turnier, wo der junge Mann alle Konkurrenten aus dem Feld stach. Von der Hilfe, die ihm seine zukünftige Gattin dabei gewährte, hatte nur Lady Fran etwas mitbekommen. Lady Tessa, das vermeintlich hilflose Baby, war ganz einfach dazu übergegangen, wenn sie fühlte, dass Cedric in Bedrängnis war, sein Bewusstsein so zu erweitern, dass er die Gespräche der anderen Drachen auf der Königstribüne mithören konnte, obwohl er deren geheime Sprache sonst gar nicht beherrschte. Die Fachsimpeleien, wie man den Gegner schlagen könne, setzte er natürlich sofort in die Tat um. Nur zu gern hob er mit der Lanzenspitze den Siegerkranz aus blutroten Blüten vom Körbchen des Babys, welcher alle anderen Kränze in den Schatten stellte, und widmete Tessa öffentlich, als zukünftiger Gattin, seinen Sieg. Zum größten Erstaunen aller anderen Drachen, die nicht geahnt hatten, dass Fran mit der Geburt der Kleinen auch Vorkehrungen getroffen hatte, ihre Familie und damit den Clan zu festigen.

Sir Vincent, ein starker Drache, aber ein schwacher König, schlug Cedric wegen des völlig unglaublichen Sieges sofort zum Ritter, denn er war auf die Macht guter und loyaler Männer angewiesen, um regieren zu können, und jeder ausgebildete Kämpfer zählte, selbst wenn dieser ein Mensch war. So gab es an einem Tag gleich mehrere Gründe zu feiern: die Geburt der kleinen Drachen-Lady, Cedrics Sieg über gestandene Ritter und der nachfolgende Ritterschlag, sowie die öffentliche Bekanntgabe der zukünftigen Verbindung zwischen dem neuen Ritter und der Tochter seines Dienstherrn.

Sir Benjamin drückte seinen Sohn Cedric stumm und fest an seine Brust. Der Stolz auf ihn leuchtete wie Flammen in seinen Augen. Keiner der missgünstigen Verwandten würde es jemals wieder wagen, Cedric die Schuld am Tod seiner Mutter zu geben, die während dessen Geburt verstorben war. Dann setzte es sicher mehr, als nur heiße Ohren.

„Viel Feind, viel Ehr‘!“, schmunzelte Lady Fran, als sie den neuen Ritter an ihre Seite bat.

Cedric folgte ihrer Blickrichtung. Drei der niedergerungenen Drachenritter beobachteten ihn wohl schon die ganze Zeit mit finsteren Gesichtern. Vor allem missgönnten sie ihm, der Schwiegersohn des gelben Drachen werden zu dürfen. Alle drei waren Emporkömmlinge jener Wolkensteiner Linie, die den König am liebsten stürzen wollte.

„Wenn ich mich nicht irre, gibt es mindestens eine Burg zu erobern“, gab Cedric breit grinsend zurück.

Fran lachte auf. „Genau die richtige Einstellung, Herr Ritter.“

Manchmal wünsche ich mir nichts sehnlicher, als die Drachensprache zu verstehen, dachte Cedric. Es war ganz sicher auch kein Zufall, dass Tessa just in diesem Moment erwachte, ihre magischen blauen Augen auf ihn richtete, lächelte und ihm die Ärmchen entgegenstreckte.

„Waltet Eures Amtes als Gesellschafter“, blinzelte Fran, ihm Tessa übergebend.

„Nun, kleine Lady, was wollen wir machen? Das siegreiche Pferd besuchen?“, fragte Cedric.

Tessa jauchzte, was der junge Mann als Zustimmung wertete und sie zur Wiese trug, wo sein Ross angebunden war. Der König, seine Ritter und die Damen beobachteten es mit zufriedenem Lächeln.

Lady Fran, die gefährlichste Kriegerin des Clans, musste wirklich vollstes Vertrauen in ihn haben.

„Ich bin sicher, er wird schnell merken, wann er nein sagen muss“, winkte Sir Jim ab, als Lady Maya Bedenken anmelden wollte.

„Ihr vertraut ihm also auch, wie einem von uns!“, staunte sie.

„Natürlich. Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich von uns wie ein leiblicher Sohn behandelt fühlt. Vergesst auch nicht, dass er ein Vertrauter von Lady Mo ist. Und sie lässt wirklich kaum jemanden in ihre Nähe“, erklärte Sir Jim.

„Stimmt“, gab Lady Maya zu. „Als er ihr Vertrauen gewann, war er ja sogar ganz neu bei Euch in Ausbildung.“

Sir Jim rieb sich die Hände. „Wenn ich daran denke, dass das alles erst wenige Monate her ist, könnte ich mich gleich dreifach freuen.“

Lady Maya verkniff es sich, zu sagen, dass Cedric vielleicht sogar der ideale Partner für Mo sein könnte, wenn er die magischen drei Drachenbisse überstände. Nur hätte der König fast die Hälfte des Clans gegen sich, würde er es befehlen, was tödlich für ihn wäre. Auch konnte noch keiner sagen, über welche Fähigkeiten Tessa einmal verfügen werde. Sie werde sich Cedric nicht wegnehmen lassen und auch keine Nebenbuhlerin dulden. Kam sie nach ihrer Mutter, würde sie bei solch einem Befehl verbrannte Erde und keinen Stein mehr auf dem anderen in der Hauptstadt zurücklassen.

Im Augenblick streichelten die kleinen Fingerchen der Drachen-Lady das Fell von Cedrics Braunem. Er tupfte ihr das weiche Maul ins Gesicht und Tessa lachte fröhlich, wobei ihre Augen erneut hell wie Laternen strahlten. Cedric wischte mit dem Zipfel seines Umhangs den feuchten Teil des Pferdekusses trocken, klopfte liebevoll den Hals des Tieres und schlenderte mit Tessa zur Tribüne zurück.

„Da war wohl jetzt jemand schneller, Eure zukünftige Gattin zu küssen“, witzelte Sir Timothy.

Cedric lächelte. „Ein Irrtum, mein Herr. Meinen innigen Kuss hat sie bereits am Tag ihrer Geburt bekommen.“

„Ihr lasst aber auch nichts anbrennen!“, staunte Sir Ian.

„Gute Schule macht den Meister“, lachte Cedric mit einer Verbeugung zu Lady Fran und Sir Jim.

Sir Jim blinzelte vergnügt. „Da kommt mir doch glatt eine Idee!“ Er ließ Mutter Anne und Sir Benjamin rufen. „Habt Ihr heute noch etwas Besonderes vor?“

„Uns mit Sir Cedric freuen“, antworteten beide völlig synchron.

„Dann schlage ich vor, der Feierlaune noch mehr Zündstoff zu geben, indem Euch König Vincent offiziell als Mann und Frau verbindet, um den Neidern richtig das Wasser abzugraben. Ihr habt doch sicher auch in den nächsten Minuten nichts anderes vor“, wandte er sich an Sir Vincent.

Der lachte herzlich. „Würde ich auch nur versuchen, mich ernsthaft zu wehren, machte mir Eure Gattin ein ordentliches Drachenfeuer unterm Hintern. Tretet also her, Frau Anne und Sir Benjamin! Kraft meines Amtes erkläre ich Euch zu Eheleuten.“

Lady Fran und Sir Jim zogen rasch je einen ihrer Prunkringe ab, die sie dem frischgebackenen Ehepaar als Glücksbringer und Trauringe verehrten. Cedric gehörte zu den ersten Gratulanten, die mit strahlendem Gesicht Glück und Wohlstand wünschten. „Damit ist einer meiner ganz großen Wünsche in Erfüllung gegangen“, seufzte er in tiefer Zufriedenheit.

„Nicht übel, Stiefbrüderchen!“, grinste Sir Jim, während der Clan große Augen bekam. Die Tatsache hatten alle völlig ausgeblendet.

Lady Shona fand zuerst die Stimme wieder. „Ich lasse alle Tiere und alle Habe von Lady Anne nach Burg Greifenstein bringen.“

Mutter Anne wurde puterrot, als sie sich herzlich bedankte. „Lady Anne“, flüsterte sie dann kopfschüttelnd.

„Keine Menschenfrau hat den Titel mehr verdient“, führte ihr König Vincent vor Augen. „Euer Sohn Jim ist ein Ritter und Drache geworden, gleichermaßen verehrt, wie gefürchtet. Und Euer Stiefsohn Cedric ist ebenfalls einer meiner Ritter. Noch dazu ein besonders guter, wie er heute bewiesen hat.“ Er winkte den Musikern, zum Tanz aufzuspielen, und das frisch vermählte Paar wirbelte über die Wiese.

„Ein wundervoller Tag!“ Lady Shona zog Sir Timothy an der Hand auf die Wiese, um genau so sorglos wie Lady Anne zu tanzen.

Sir Ian und Sir Patrick schauten dem bunten Treiben amüsiert zu, bis sie den Aufforderungen der jungen Menschenfrauen nicht mehr entgehen konnten und sich selbst bei den Tanzenden mit einreihten. Sogar Sir Cedric und Lady Tessa wiegten sich am Rande der Rasenfläche im Takt, denn die magischen Augen der Drachen-Lady hatten ihn so gebettelt, dass er weich geworden war und sie auf den Arm genommen hatte.

Am nächsten Tag endete das Fest mit dem gemeinsamen Frühstück des Drachenclans und bald kündete nur noch das zerdrückte Gras von der Anwesenheit so vieler Gäste. Die Ernte des reifen Getreides konnte weitergehen. Sir Patrick half noch dabei, die Scheunentüren wieder einzuhängen, die Sir Jim kurzerhand als Tischplatten umfunktioniert hatte.

„Euch drückt doch irgendwo der Schuh“, sagte Lady Fran schließlich. „Ihr wartet eindeutig auf den Moment, wo alle anderen weg sind, um Euer Herz auszuschütten.“

„Stimmt“, gab Sir Patrick sofort zu. „So, wie sich die Ereignisse im Augenblick überstürzen, wachsen meine Befürchtungen, dass die Zukunft für den Clan düster sein könnte. Ja, ich weiß, dass Ihr Euch wundert, warum ich darüber nicht mit Sir Timothy spreche, aber der Kernpunkt liegt nun mal in Eurer Familie.“

„Ich muss erst die junge Dame außer Hörweite bringen“, erklärte Fran, während sie nach Sir Cedric rufen ließ. „Ich gebe Bescheid, wenn ich mich wieder um Lady Tessa kümmern kann“, gebot sie, ihm die Kleine zur Aufsicht übergebend.

Cedric zog sich mit dem Babykörbchen in den Schatten eines alten knorrigen Baumes zurück, wo er Tessa in den Schlaf wiegen wollte. Nur kam er nicht dazu: Kaum saß er an den Stamm gelehnt, den Korb auf dem Schoß, starrte ihn Tessa so intensiv an, dass sich im Bruchteil eines Wimpernschlags ein blauer Strudel vor ihm auftat, der ihn regelrecht fortriss. Er hörte mehrmals wie durch eine Watteschicht seinen Namen, dann die ganze Unterhaltung der drei Drachen, obwohl mehrere dicke Mauern und viel Raum zwischen ihm und ihnen lagen. „... wird Sir Cedric von hier fortschicken, auf eine Mission, von der er vielleicht nicht zurückkehrt. So, wie ich Sir Cedric kenne, wird er sich sogar freiwillig melden. Das wiederum wäre sogar gut, um die beiden Drachen kontrollieren zu können, die weder königs- noch clantreu sind“, sagte Sir Patrick.

„Das kann er doch gar nicht allein bewältigen!“, warf Lady Fran ein.

„Eben!“, erwiderte Sir Patrick. „Ich weiß, dass er sich zwei Drachen-Ritter wählen muss, um lebend aus der Sache herauszukommen.“

„Einer wird ganz sicher Sir Ian sein“, bemerkte Sir Jim. „Wenn wir nicht dürfen, wer sind dann die ledigen Königstreuen? Mir fällt auf die Schnelle keiner ein.“ Er schloss die Augen, um besser nachdenken zu können. „Wir werden belauscht“, hauchte er im selben Moment kaum hörbar und riss die Tür auf, vor der sich der leere Gang präsentierte.

Lady Fran begann zu lachen. „Der unfreiwillige Spion sitzt vor der Burg unter einem Baum und zappelt im Netz einer Baby-Spinne. Verdammt schlau, das kleine Hexlein! Durch sie kann er unsere Sprache verstehen und über weite Entfernungen hören, wie ich gestern zufällig herausgefunden habe.“

„Das will ich genau wissen“, rief Sir Jim und ließ Sir Cedric rufen.

Der nahte sofort mit dem Körbchen. „Sie schläft.“

„Das glaube ich gern, nach dem Kraftakt“, schmunzelte Lady Fran. „Wie lange hat sie Euch lauschen lassen?“

Cedric wurde blass. „Von da an, wo es darum ging, mich fortzuschicken“, kam sofort die Antwort.

Die Drachen wechselten einen schnellen Blick, dann fragte Sir Jim: „Wer wäre Euer zweiter Drache?“

„Lady Tessa.“

Alle drei sprangen auf, um den jungen Ritter ungläubig zu mustern.

„Lady Tessa“, wiederholte er ganz ruhig und fügte hinzu: „Ihre Rache, wenn es anders käme, würde keiner überstehen.“

„Das glaube ich sogar aufs Wort“, murmelte Lady Fran. „Nun wird es schwierig.“

Cedric zog die Augenbrauen zusammen: „Sie hat mir gesagt, dass sie Sir Ian als Erzieher akzeptiert, solange ich nicht in Lebensgefahr schwebe.“

„Sie scheint etwas zu wissen, von dem nicht mal ich eine Ahnung habe“, entsetzte sich Sir Patrick.

Sir Cedric trat an das Körbchen, strich Tessa sanft übers Haar und murmelte: „In einem früheren Leben nannte man sie Lady Lilian Greyham of Dragonforest.“

Lady Fran kippte mit einem matten Seufzer ohnmächtig in ihren Sessel. Diese Information haute buchstäblich die stärksten Drachen um, denn auch Sir Patrick ließ sich mit zitternden Händen nieder.

Sir Jim betrachtete liebevoll das unschuldig wirkende Gesicht seiner ungewöhnlichen Tochter. „Dann weiß sie doch bestens, wie man einen Drachenclan vorm endgültigen Untergang bewahrt. Ob unseren oder den von Mo oder beide, dürfte dabei völlig egal sein. Egal ist aber nicht, ob wir sie als Baby oder Trägerin einer alten wissenden Seele behandeln.“

„Es dürfte auch kein Zufall sein, dass soeben ihre Augen magisch zu leuchten beginnen“, fügte Fran hinzu, die sich mühsam aufrappelte. Sie nahm Tessa aus dem Korb, drückte sie an sich und bat: „Ich bin unendlich stolz auf Euch, und darauf, Eure Mutter sein zu dürfen. Ihr müsst auch nicht den Säugling spielen, wenn Euch nach großen Taten ist.“

Lady Tessa begann herzlich zu lachen, während eine fremde Stimme laut und deutlich sagte: „Ein paar Tage werde ich den Kinderkörper noch ertragen müssen, auch Magie braucht ihre Zeit, um sich voll entfalten zu können. Ich werde aber rechtzeitig über alle Kräfte verfügen, wenn Sir Cedric ans andere Ende der Welt aufbrechen muss. Sir Patrick ahnt, was ich meine.“

„Wäre es nicht wichtiger, Euerm zukünftigen Gatten ein bisschen Hintergrundwissen zu geben?“, versuchte Sir Patrick abzulenken.

„Ganz bestimmt nicht“, lachte Lady Fran. „Der hat all meine Bücher verschlungen und kann den Weg des Clans praktisch im Schlaf herbeten. Kein Wunder, dass er das Interesse einer uralten Seele geweckt hat.“

„Richtig“, pflichtete Lady Lilians Stimme bei. „So, nun muss ich brav schlafen, weil ich sonst nicht schnell genug wachsen kann.“ Tessa schloss die Augen und schlummerte auf der Stelle ein.

„Ihr beide fliegt am besten mal rüber zur Smaragdburg“, riet Sir Jim, den beiden anderen Herren, die sich sofort still verabschiedeten und auf Zehenspitzen hinaus schlichen, um die kleine Lady nicht zu wecken.

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