Der Rübezahl vom Schüchthof

Ein Schrei durchschnitt die Stille. Urs erstarrte mitten in der Bewegung. Aus seinen Erinnerungen schälte sich ein Dezembertag hervor, welcher schon fünf Jahre zurücklag. Tränen, die er einfach nicht unterdrücken konnte, rollten über seine Wangen, erstarrten in der klirrenden Kälte und fielen als funkelnde Perlen in den Neuschnee. Er suchte mit den Augen die Flanke des Berges auf der anderen Seite des schmalen Tales ab. Damals gellte ein ähnlicher Schrei durch den Morgen. Es lag auch fast genau so viel Neuschnee, der sich in Bewegung gesetzt hatte, als Lawine ins Tal gerast war und die vier Häuser verschüttete. Eltern, Brüder, deren Frauen und Kinder ... alle tot. Urs war der Einzige, der das Inferno überlebt, nach der Schneeschmelze die Leichen mit aus den Trümmern gezogen und sie bestattet hatte. Er war hiergeblieben, hatte die am besten erhaltene Ruine wieder aufgebaut und lebte von dem, was ihm die Natur gab. Selten verirrten sich Fremde in diese Einöde.

Da bewegte sich etwas auf der anderen Seite. Urs‘ scharfe Augen erkannten eine dunkel gekleidete Person, die sich aus dem Schnee wühlte und dabei einen kleinen Rutsch auslöste, der aber nach wenigen Metern zum Stillstand kam. Dann schien ihn der Fremde ebenfalls zu bemerken, denn er begann, verzweifelt mit beiden Armen Zeichen zu geben. Urs winkte zurück und lief los, den Fremden zu retten. Der verhielt sich glücklicherweise ruhig, sodass die Chancen recht gut standen, ihn zu bergen, denn darüber, dass er mit einer Schneewächte vom Felsen gestürzt war, gab es für Urs keinen Zweifel.

„Halte durch!“, murmelte der Eremit, Seil und Eispickel von der Wand hakend, ehe er über den freigeschippten Pfad zum Bach hinunter stieg, wo er einen gut begehbaren Steg zum anderen Ufer gebaut hatte. Urs zog den Schal vor den Mund, denn die schneidende Kälte ließ fast den Dampf vor dem Mund gefrieren. Hin und wieder schaute er nach dem Fremden, der noch immer am selben Fleck verharrte, entweder weil er wusste, dass er eine Lawine auslösen konnte oder weil er ganz einfach verletzt und am Ende seiner Kräfte war. Es dauerte fast drei Stunden, bis sich Urs seinen eigenen Berg hinunter und durch den Tiefschnee auf der anderen Seite an den Verunglückten herangearbeitet hatte. Als er ihn endlich fand, war er bereits bewusstlos. Dass er noch lebte, verriet der kaum spürbare Puls der Halsschlagader.

Urs überlegte nicht lange, schlang ihm das Seil mehrmals unter den Armen hindurch und fierte ihn regelrecht den Hang hinunter vor sich her ab. „Tut mir leid, geht nicht anders“, brummte er. „Tragen muss ich dich drüben früh genug.“ Am Ufer des Baches kontrollierte er noch einmal den Puls des regungslosen Fremden, ehe er ihn sich mühevoll auf den Rücken huckte. Nach zwei weiteren Stunden stolperte er erschöpft in sein Haus, wo er den Mann mit allerletzter Kraft in sein Bett plumpsen ließ. Dann saß er minutenlang einfach nur da, um neue Energie zu schöpfen. Seufzend raffte er sich schließlich auf, zog sich aus, hängte seine wertvollen Hilfsmittel wieder an die Wand, dann erst widmete er sich dem Verunglückten. Er begann, ihn aus der Kleidung zu schälen, löste die Verschlüsse an den Handgelenken, welche auch die dick gefütterten Handschuhe umschlossen. Zwar waren die Hände eiskalt, wiesen aber keine sichtbaren Erfrierungen auf. „Junge, Junge, das wird jucken, wenn sie warm werden“, stellte Urs fest, sämtliche Reißverschlüsse öffnend. „Na, komm schon! Toter Mann spielen, gilt nicht. Mach irgendwas, auch wenn du nur die Augen verdrehst.“

Auf diesen Befehl öffnete sie der Fremde wirklich. Was ihm vor selbige kam, ließ sie groß und größer werden. Denn da war ein fast himmelblaues Augenpaar, das ihn neugierig aus einem wilden Gestrüpp von rabenschwarzem welligem Bart- und Haupthaar anschaute. So hatte er sich als Kind Rübezahl vorgestellt und nun schien die Legende, zum Leben erwacht zu sein.

„Wo tut es weh?“, fragte sein Retter, ihm die Jacke ausziehend.

„Überall“, quetschte der Unglücksrabe mühsam hervor, weil die aufgesprungenen Lippen wie Feuer brannten.

„Siehst auch nicht wirklich gut aus. Aber das kriegen wir wieder hin“, bekam er zur Antwort und gleichzeitig aus einem Näpfchen Salbe auf die Wunden im Gesicht. Die stank zwar fürchterlich, linderte aber sofort Schmerz und Juckreiz, der durch die Wärme im Haus rasch hervorbrach.

„Meine Hände!“, klagte der Verletzte, worauf Urs, dessen Finger mit Schnee abzureiben begann, bis die schlimmsten Symptome abklangen.

„Ich brühe dir jetzt einen Kräutertee auf, dann wird es dir rasch besser gehen“, erklärte er, den kleinen Kessel in die Flammen des offenen Feuers der Kochstelle hängend. „Hunger wirst du ja auch haben. Wie heißt du überhaupt?“

„Andreas.“

„Ich bin Urs.“

Andreas versuchte zu lächeln. „Der Bär.“

Urs lachte. „Also sei vorsichtig, du hast mich in meinem Winterschlaf gestört.“

„Oh je. Dabei habe ich dir noch nicht einmal gedankt. Ohne dich wäre ich sicher schon erfroren!“, rief Andreas.

„Viel hat wirklich nicht gefehlt.“ Urs bereitete den versprochenen Tee, dann zog er sich einen Schemel neben das Bett. „Was ist passiert? Was hat dich bei derartigen Temperaturen in die Berge getrieben?!“

Andreas öffnete ein paar Mal den Mund, ohne etwas zu sagen. Urs hob die Augenbrauen. „Ich bin mit dem Flugzeug abgestürzt“, sagte Andreas schließlich.

„Du bist was?!“ Urs glaubte, sich verhört zu haben.

„Abgestürzt. Mit einem Kleinflugzeug.“

„Wann? Wo? Ich habe nichts gehört!“

„Vor zwei Tagen schon. Der tiefe Schnee hat wohl den Aufprall gelindert. Dann habe ich versucht, mit dem Handy Hilfe zu rufen. Dummerweise ist es beim Absturz beschädigt worden. Als ich merkte, dass ich in der Falle sitze, bin ich auf allen vieren losgekrochen, weil ich in der Ferne eine dünne Rauchfahne gesehen habe. Es muss wohl dein Schornstein gewesen sein. Denn hier ist ja sonst nur weiße Einöde.“

„Noch mal ganz langsam“, bat Urs. „Du bist hier im Gebirge herumgeflogen?“

Mühsames Nicken.

„Und dann abgestürzt.“

Wieder nickte Andreas.

Urs schüttelte ungläubig den Kopf. „Treibstoffprobleme?“

Andreas presste die Lippen aufeinander. „Dummheit. Ich bin ohne verdunkelte Brille geflogen und dann habe ich mir wohl die Augen verblitzt, als die Sonne die Kristalle explosionsartig funkeln ließ. Ich muss eine Bergspitze gestreift haben ... denke ich. Dann hat es gekracht und ich war erst einmal k.o.“, erzählte er weiter. „Den Rest kennst du bereits.“

„Stopp! Nicht ganz. Warum bist du hier herumgeflogen?“

...