Das Gold der Marques'

...

Strandfund

Ein Blitz, ein Donnerschlag, Dunkelheit.

Sie versuchte, die Lider einen Spaltbreit zu öffnen. Dämmerlicht, feuchte Wärme, der Hauch salziger Seeluft. Ein Augenpaar, welches sie neugierig und erleichtert musterte.

„Gott sei Dank! Sie lebt!“

Sie war sicher, die wohlklingende Stimme noch nie gehört zu haben.

„Gib mir die Wasserflasche!“

Wasser! Sie hatte wahnsinnigen Durst. Ich möchte auch trinken, formulierte sie in Gedanken, ohne es aussprechen zu können.

Jemand hob ihren Kopf an, stützte ihren Körper mit seinem Oberschenkel, dann spürte sie das ersehnte Nass auf ihren Lippen. Gierig begann sie zu schlucken.

„Na, na, ganz langsam, es ist genug da!“, mahnte der Mann mit der freundlichen Stimme, ihr fast tropfenweise die Flüssigkeit einflößend.

Sie versuchte zu blinzeln, doch etwas verklebte ihre Augen. Im selben Moment fühlte sie sanfte Finger in ihrem Gesicht, welche äußerst vorsichtig die lästigen Sandkrusten entfernten.

„So sieht die Welt doch gleich freundlicher aus“, murmelte der Fremde, den sie endlich anschauen konnte.

Ein kühn geschnittenes Gesicht umrahmt von sattbraunem welligem Haar.

„Ihr seid in Sicherheit“, erklärte er lächelnd.

Sicherheit? Sie ließ ihren Blick schweifen, soweit es die Lage ihres Kopfes zuließ. Ein weißer Strand, ein sattblaues Meer und eine Schleifspur, die vom Spülsaum des Wassers bis zu dem Platz führte, an dem sie der Fremde im Arm hielt. Die Reste eines Fasses und einer Schiffsplanke konnte sie mehr erahnen als sehen.

Wie kam sie hierher? Wo war dieses Hier? Warum konnte sie ihren Körper nicht spüren? Wer war der Fremde?

„Ich bin Rodrigo Alvarez“, stellte er sich soeben vor.

Ich bin – ich bin … Ihre Augen wurden unnatürlich groß. Ich weiß nicht, wer ich bin!

Rodrigo seufzte. „Es sieht ganz so aus, als habe sie durch den Schock die Sprache verloren. Aber vielleicht versteht sie mich auch nicht.“

Sie brachte, statt einer Antwort, nur ein unartikuliertes Krächzen heraus. Für den jungen Mann das Zeichen, ihr noch einmal behutsam Wasser zu geben.

Nach dem letzten Schluck schloss sie die Augen. Schlafen. Einfach schlafen! Und wenn sie erwachte, war sie sicher wieder da, wohin sie gehörte. Das konnte nur ein seltsamer Traum sein.

„Amin! Mein Pferd!“ Rodrigo reichte seinem Diener die Flasche, um den halb toten Findling aufheben zu können. Dieser merkte nichts mehr davon. Tiefschlaf hielt ihn umfangen.

Der Schimmel lief mit seiner ungewöhnlichen Last besonders ruhig, als spüre er, wie schlecht es um die Frau im Arm seines Herrn stand.

„Wir reiten durch das kleine Tor ins Fort“, legte Rodrigo fest, worauf Amin sofort die Richtung wechselte. „Warte! Nimm du den Brief! Er muss heute noch dem Kommandanten übergeben werden.“

„Sehr wohl, mein Herr.“ Amin steckte das Schreiben in den Gürtel und trabte voraus.

Als Rodrigo das Tor erreichte, hatte Amin seinen Auftrag bereits erfüllt und sie konnten sofort passieren. In der Dunkelheit blieb unbemerkt, dass Rodrigos Pferd doppelte Last trug.

Im Garten des eigenen Hauses sprang er von seinem Schimmel, schickte Amin nach einem Heilkundigen und bettete die Fremde inzwischen in eines der schmucken Zimmer im oberen Stockwerk.

Warum er sie nicht einfach im Fort gelassen hatte? Er wusste selbst keine Antwort auf die Frage. Da war einfach dieses Gefühl, sich ihrer annehmen zu müssen.

Dem hellen Haar nach schien sie eine Europäerin zu sein. Darüber konnte auch die sonnengebräunte Haut nicht hinwegtäuschen. Er schätzte sie auf etwa zwanzig. Warum sie Männerkleidung trug, werde er wohl erst ergründen können, wenn sie endlich wieder aufwachte.

Die vielen Schürfwunden im Gesicht weggedacht, musste sie auch sehr hübsch sein. Vielleicht war es ja das, was ihn sofort zu ihr hingezogen hatte.

Er fühlte nach ihrem Puls. Ein kurzes Nachdenken, dann ließ er seine Hände über den Stoff ihrer Kleidung gleiten. Deutlich spürte er die Reste der Feuchtigkeit. Mit einem unwilligen Kopfschütteln eilte er in sein Schlafzimmer, holte eines seiner langen weißen Hemden, um es ihr überzustreifen, nachdem er sie entkleidet hatte.

Die geheimnisvolle Fremde schlief einfach weiter, was ihm im Augenblick auch ganz recht war. Also wagte er auch, mehr als ein Auge auf das zu werfen, was unter ihrer Kleidung zum Vorschein kam.

Der heftige Stich in seinem Herzen musste wohl von Amors Pfeil herrühren, der ihn just in diesem Moment zielgenau und sehr tief getroffen hatte.

Auf das laute Klopfen an der Tür zuckte er wie ein ertappter Sünder zusammen. Er raffte die nassen Kleider zusammen und öffnete.

„Tritt ein“, bat er den alten Mann. Amin drückte er die Wäsche in die Hand. „Waschen, trocknen, reparieren.“

Der Alte warf einen Blick auf die Frau, dann schaute er Alvarez fragend an.

„Ich kann dir weder sagen, wer sie ist noch woher sie die Verletzungen hat. Ich habe sie halb im Wasser liegend am Strand gefunden und mitgenommen, weil sie noch lebte. Schau, was du für sie tun kannst.“

Der alte Malaysier nickte. Der Portugiese Alvarez stand in dem Ruf, sofort und gut zu bezahlen. Anreiz, seine Wünsche auf der Stelle und gründlich zu erfüllen.

„Was hältst du davon?“

„War das gerade ihre Kleidung?“, fragte der Alte.

„So ist es.“

„Dann vermute ich, dass ihr Schiff bei dem gestrigen schweren Gewittersturm gesunken ist. Es grenzt an ein Wunder, wenn sie so ein Inferno überlebt hat.“ Er schob ihre Augenlider nach oben. Kontrollierte an der Halsschlagader den Pulsschlag und erfühlte die Temperatur ihrer Stirn. „Sie schläft tief und fest.“

„Wird sie denn wenigstens wieder aufwachen und gesund werden?“ Rodrigo Alvarez zog sorgenvoll die Augenbrauen zusammen.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich muss schauen, ob sie schwerere Verletzungen hat.“ Der Heiler tastete akribisch seine Patientin ab. „Ein paar Quetschungen und Blutergüssen, etliche Schürfwunden, aber keine Knochenbrüche. Möglich, dass sie eine Gehirnerschütterung hat.“

Alvarez blies erleichtert Luft aus.

„Ich mixe ihr einen stärkenden Trank und heilende Salbe. Den Rest muss die Natur erledigen.“

„Wann kann ich es holen lassen?“

„Morgen früh.“ Der Alte erhob sich.

Alvarez drückte ihm dankbar ein Goldstück in die Hand. Das hätte als Bezahlung für viele Behandlungen mitsamt den Medikamenten gereicht.

Vor der Tür hielt Alvarez den alten Mann noch einmal zurück. „Zu keinem ein Wort!“

Und auf dessen kaum merkliches Lächeln: „Ja, es liegt mir sehr viel an ihr. Ich will nicht, dass man sie zu irgendetwas zwingt. Sie soll sich frei entscheiden können, wenn sie wieder gesund ist.“

Der Alte legte einen Finger auf seine Lippen, um Stillschweigen anzudeuten, dann eilte er durch die Nacht davon.

Rodrigo zog einen Stuhl neben das Bett der geheimnisvollen Fremden. Die Flamme der Öllampe reichte gerade aus, um ihr Gesicht erkennen zu können. Wer seid Ihr? Und welcher Wind hat Euch hierher geweht?

Seufzend lehnte er sich zurück, schloss die Augen und glitt in einen unruhigen Schlaf. Alle paar Minuten schreckte er auf, schaute nach der schönen Unbekannten und döste wieder ein.

Leises Stöhnen weckte ihn im Morgengrauen endgültig. Große Augen musterten ihn ängstlich, als er sich über das Bett beugte.

„Guten Morgen. Wie geht es Euch?“, fragte er besorgt.

„Ich habe furchtbaren Durst“, flüsterte sie mühsam.

Rodrigo nahm den Krug vom Tisch und füllte einen Becher halb. Er schob ihr zwei Kissen unter den Rücken, setzte ihr den Becher an die Lippen und half behutsam. Sie musste Unmengen Salzwasser geschluckt haben. Es werde wohl noch ein paar Tage dauern, bis sie sich davon erholt hätte.

Das Klappen einer Tür deutete an, dass Amin mit der Medizin zurückgekehrt war. Rodrigo rief ihn zu sich. Amin packte ein Fläschchen, einen Beutel Tee und ein Salbentöpfchen auf den Tisch. „Er hat gesagt: Tee bereiten, abkühlen lassen, zwei Tropfen – niemals mehr – aus dem Fläschchen dazugeben. Sie kann davon trinken, soviel sie möchte. Die Salbe morgens und abends dünn auftragen.“

„Danke, Amin. Brühe sofort eine Kanne Tee auf. Bring etwas Schiffszwieback zum Einweichen mit.“

Der Diener nahm den Beutel vom Tisch und verschwand in der Küche. Erstaunlich, dass sein Herr der schönen Fremden so viel Zeit widmete. Andererseits auch nicht erstaunlicher, dass sie tatsächlich aus ihrem komatösen Schlaf wieder erwacht war.

Ihre Kleidung hatte er noch in der Nacht gewaschen. Sie hing hinter dem Haus auf einer Leine. Solange sie krank im Bett lag, musste er sich auch mit den wenigen Reparaturen nicht beeilen. Außerdem werde Senhor Rodrigo sicher Frauenkleider für sie kaufen. Über Amins Gesicht huschte ein heiteres Lächeln, als er sich seinen Herrn dabei vorstellte.

Im Krankenzimmer stellte dieser soeben den Becher weg. „Ich werde jetzt die Salbe auftragen. Sagt mir, wenn es wehtut.“

Die Frau ließ die Prozedur klaglos über sich ergehen. Nur, als er unter der Decke nach ihrem Bein fasste, überzog ein Hauch Röte ihr Gesicht. Besonders als seine Fingerspitzen vom Knöchel an aufwärts glitten und erst kurz über dem Knie stoppten.

„Tut mir leid, aber es geht nicht anders.“ Er schob die Decke ein wenig beiseite, um ihr zu zeigen, wie schlimm das Bein aussah.

Der Anblick erschreckte sie zutiefst.

„Darf ich alle verletzten Stellen behandeln?“, fragte er vorsichtshalber, denn an der Hüfte und am Brustkorb sah es ähnlich aus.

„Ja.“ Sie schloss die Augen und genoss die Wärme seiner Hände, nicht weniger als das sanfte Streicheln.

„Ihr könnt es spüren?“, fragte er hoffnungsvoll.

„Ja.“ Ein winziges Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Aber Ihr könnt Euch nicht bewegen …“

„Nein, nur den Kopf.“

Rodrigo schluckte. „Das habe ich befürchtet.“

Amin brachte den Tee. Rodrigo rührte die zwei Tropfen aus der winzigen Flasche persönlich unter. Er war wohl auch der einzige Portugiese, in weitem Umkreis, der der Heilkunst der Einheimischen vertraute.

Es erschreckte ihn zwar, was alles zerstampft, zerrieben und verrührt wurde. Aber er hatte auch mehrfach mit eigenen Augen gesehen, dass die, für europäischen Geschmack, ekelerregenden Zutaten wahre Wunder bewirkten. Auch jetzt setzte er alle Hoffnungen auf die Kunst des alten Heilers.

„Wer seid Ihr?“, fragte er plötzlich.

Sie kniff überlegend die Augen zusammen. „Ein Matrose, glaube ich“, sagte sie nach langem Nachdenken.

„Tatsächlich?“ Rodrigo musste trotz aller Sorgen lachen.

„Ich bin nicht sicher.“

Er schaute sie amüsiert an. „Ganz sicher ist, dass Ihr eine Frau seid.“

„Eine … eine Frau?!“, fragte sie verdattert. „Kein Matrose?“

„Als ich Euch gefunden habe, habt Ihr Matrosenkleidung getragen. Aber in der Kleidung steckte eine Frau.“

Diesmal fragte sie: „Tatsächlich?“

„Soll ich es Euch beweisen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schlug Rodrigo die Decke zurück. „Ziemlich anregende Oberweite für einen Mann.“

Ein erstauntes „Oh“, denn, was sich unter dem dünnen blütenweißen Stoff abzeichnete, sah überaus weiblich aus.

„Überzeugt? Oder soll ich mit dem Aufdecken der Beweise etwas weiter unten fortfahren?“

„N … nein!!!“

Er schmunzelte. „Gut, dann hätten wir das also erst einmal geklärt.“

„Aber wer bin ich, wenn kein Matrose?“

„Genau das ist die Frage, deren Antwort mich brennend interessiert.“ Rodrigo deckte sie wieder fürsorglich zu.

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