Die Sagenerzählerin

...

Kampf ums Überleben

Das Einzige, was Rosalie im Augenblick fürchtete, waren die unzähligen Wildschweine, die es in diesem Gebiet gab. Aus Angst vermied sie es auch bei Tag, die Suhlplätze zu überqueren. Nun hoffte sie inständig, dass ihr die Tiere fern blieben, zumal die sicher im Augenblick genau so blind waren, wie sie. Denn der Nebel hüllte sie soeben in ein feuchtes, völlig undurchsichtiges Tuch.

Wie lange sie schon dort gesessen hatte, wusste sie nicht, als sich irgendwann Durst und Hunger meldeten. Sie konnte nicht einmal etwas erkennen, als sie sich die Uhr genau vor die Augen hielt. Sie stieß bei der Aktion sogar unsanft mit der Nase ans Handgelenk, weil sie die Entfernung nicht abschätzen konnte.

Ein Frösteln überlief sie. Sie stellte den Kragen der Jacke hoch. Dann tastete sie sich zu den Henkeln ihrer vollen Beutel vor, streifte sich jeweils ein Paar links und rechts bis zum Ellenbogen über die Arme, um die Hände frei zu haben. Die rechte Hand schob sie von unten in den linken Jackenärmel, die linke in den rechten, wie in einen Muff, um sich ein wenig wohler zu fühlen, denn es war inzwischen empfindlich kalt geworden.

„Jetzt ein heißer Cappuccino und ein paar Kekse ...“ Rosalie zog geräuschvoll die Nase hoch. Sie hätte ja das Gebäck auch ohne Heißgetränk genommen oder anders herum. Der knurrende Magen gab nun auch noch seinen Senf dazu und Rosalie war eher nach Weinen, als nach Lachen, zumute.

Zudem kroch sie langsam Panik an, weil sie, außer ihrem rasenden Herzschlag und denen, die sie selber machte, gar keine Geräusche hörte. Sie schloss die Augen, dämmerte vor sich hin, um am Ende in einen unruhigen Schlaf zu fallen.

Das lautstarke Gezänk mehrerer Elstern und Krähen weckte sie schließlich. Rosalie gähnte herzhaft, dann blinzelte sie vorsichtig durch die spaltbreit geöffneten Lider. Der Nebel hatte sich verzogen, sie saß noch immer an den Stamm gelehnt mitten am Hang und auch die beiden Beutel voller Pilze waren noch da. Zeit, endlich zum Auto zurückzugehen.

Rosalie stemmte sich vorsichtig auf die Beine, um nicht den Hang hinunter zu kugeln, als sie beim Anblick des Waldbodens der Schock traf. Statt der Kiefernnadeln und Buchenblätter, zwischen denen sie die letzten Pilze hervorgepickt hatte, lagen Ölbaumblätter, kleine Oliven und einige Esskastanien umher. Wenn sie sich nicht völlig irrte, dann hielt sie sich gerade am Stamm einer großen Pinie fest, um nicht unkontrolliert bergab zu schlittern.

Fassungslos schaute sie sich um. Statt des Hohlweges lag eine unbefestigte Talstraße vor ihr, neben der ein breiter Bach oder ein kleines Flüsschen vor sich hin murmelte. Sie setzte sich wieder an den Baum, um nach ihrem Handy zu suchen, das in der Innentasche ihrer Jacke stecken musste. Es war noch da, sagte aber keinen Mucks, genau wie ihre Armbanduhr, die genau zwölf Uhr einfach stehen geblieben war. Was noch funktionierte, waren Hunger und Durst, die sich quälend wieder meldeten.

„Verdammt, was wird hier gespielt?“, hauchte sie.

Vielleicht sollte ich versuchen, die Straße zu erreichen, um Hilfe zu bekommen, hämmerte es in ihrem Hirn. Im nächsten Augenblick drang ein Geräusch zu ihr hinauf, welches sie von ihrem Vorhaben abhielt – das Trommeln von Pferdehufen, die sich in schnellem Trab bewegten. Wenn sie plötzlich da unten auftauchte und die Tiere scheuten, war wohl niemandem gedient.

Als das erste Ross mit seinem Reiter in Sichtweite kam, stieß sie einen Schreckenslaut aus. Tier und Reiter trugen Umhänge mit auffälligen Wappen. Der Wind ließ den Umhang des Mannes flattern, unter dem ein Brustharnisch und verschiedene Waffen zum Vorschein kamen. Davon, dass die nachfolgenden Reiter weniger prachtvoll ausgestattet waren, nahm sie nur ganz am Rande Notiz. Es waren 19 Pferde, also ein recht stattlicher Zug. Muss wohl irgendwo ein gewaltiges Mittelalterspektakel sein, überlegte Rosalie. Nur konnte sie sich nicht erinnern, von solch einem Fest in den Medien gelesen zu haben. Aber sonst ritt ja keiner in Tracht im Zeisigwald herum.

Zeisigwald? Ihre Augen wanderten zweifelnd von Baum zu Baum. Die Flora, die Reiter und der Fluss – der Zeisigwald vor ihrer Haustür sah eindeutig anders aus. Wo bin ich? Wie komme ich hierher? Wo steht mein Auto? Sie tastete in ihrer Jackentasche herum und bekam den Fahrzeugschlüssel zu fassen. Ein kurzes Aufatmen.

Der Durst trieb sie schließlich dazu, den Berg hinab zu steigen und sich dem Fluss zu nähern. Unzählige Forellen tummelten sich im glasklaren Wasser. Rosalie schöpfte beide Hände voll, um dieFlüssigkeit zu beschnüffeln, ehe sie ganz vorsichtig einen winzigen Schluck nahm. Hmmmm, so was kommt bei uns ja nicht mal aus der Leitung! Sie begann, in langen gierigen Zügen zu trinken, wobei sie immer wieder nachschöpfte.

Merkwürdig, rumorte es in ihren Gedanken. Zu Hause gibt es sicher weder Fluss noch Bach, die vollkommen sind. Wo bin ich, um Gottes willen??? Und in welche Richtung muss ich gehen? Am besten dahin, wohin auch das Wasser fließt. Rosalie setzte sich in Bewegung.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon so dahin trottete, als sie am anderen Ufer eine winzige Ruine

bemerkte. Vielleicht war es besser, hier Zuflucht zu suchen und abzuwarten, bis Hilfe nahte. Ein paar große Felsbrocken im Wasser deuteten an, dass hier einmal eine Brücke gewesen sein musste, die eine Sturzflut aus den Bergen fortgerissen hatte.

Nach eingehender Betrachtung wagte sie den Versuch, trockenen Fußes die Uferseite zu wechseln, indem sie von Stein zu Stein sprang. Nicht ganz einfach mit zwei schweren Beuteln. Aber es gelang und Rosalie begann, die Mauerreste zu inspizieren.

Von weitem hatte das Häuschen nicht so groß ausgesehen, wie es tatsächlich war, denn an der Rückseite befanden sich noch einige Vorratsräume. Sie entdeckte Mahlsteine für Getreide und Oliven, ein paar leere Gefäße und jede Menge rostige, aber noch verwendbare Werkzeuge. Hier war sogar noch ein Teil des Daches intakt.

Rosalie dachte praktisch. Jetzt besorge ich mir ein paar dünne Zweige, schneide meine Pilze und spieße sie auf, damit sie nicht verderben. Hier unterm Dach dürfte es gelingen. Auf der Suche nach geeigneten Sträuchern entdeckte sie hinterm Haus ein paar Olivenbäume, an denen überreife Früchte hingen. Einsammeln, befahl ihre innere Stimme. „Schön eins nach dem anderen“, zwang sich Rosalie zur Ruhe. „Erst die Pilze, dann die Oliven. Und falls es mir gelingt, ein wenig Öl zu pressen und ein Feuer zu machen, dann kann ich mir sogar ein Häppchen Pilze braten, um nicht vor Hunger ins Delirium zu fallen.“ Oh, mein Gott! Jetzt führe ich schon Selbstgespräche! Auch Wurst – hier hört mich eh keiner. Ach ja! Wasser bunkern, bevor es dunkel wird!

So wie die Pilze verarbeitet und die Beutel leer waren, eilte sie hinaus, um alles an Oliven zusammenzuscharren, was sie mühelos greifen, einsacken und in Sicherheit schleppen konnte. Der nächste Schritt bestand darin, sich nach Obst und Kräutern umzuschauen, die man als Notfallnahrung verwenden konnte. Auch allerlei Samen wollte sie sammeln, um Vögel anzulocken, die man fangen konnte, um irgendwie überleben zu können, sollte die Suche nach ihr länger dauern.

Ich bin zwar kein MacGyver, aber auch nicht ganz doof, grinste sie. Großmutter hatte sie nicht umsonst ihr Kräuterwissen gelehrt. Rosalies Gehirn lief auch Hochtouren, infolgedessen sie bis zum Einbruch der Dunkelheit eine Liste erstellte, was sie über essbare Pflanzen und Früchte im mediterranen Raum wusste. Mit einem Stöckchen ritzte sie Stichpunkte in den lehmigen Boden.

„Pinienkerne!“ Sie riss triumphierend die Faust hoch. Sie hatte die potenziellen Spender am anderen Ufer stehen sehen und hoffte, Pflanzen mit Zapfen zu finden. Dann begann sie zu lachen. Ich benehme mich, als müsste ich auf einer einsamen Insel ein Survivaltraining absolvieren. Sicher kommt morgen Hilfe.

Bei der Frage, wer die wohl schicken sollte, wurde sie sehr nachdenklich. Ob Benno überhaupt bemerkte, dass sie schon mehr als einen ganzen Tag im Wald steckte und auf Hilfe wartete? Wann würde wohl jemandem auffallen, dass ein verlassenes Auto herumstand? Wo stand es wohl? Auf dem alten Fleck, wo sie es verlassen hatte? Oder eher auf einem Pfad in diesem merkwürdigen Wald mit Pflanzen, die sie von ihren Italienreisen kannte?

Rosalie sprang auf und begann, zwischen dem Fenster und der verrottenden Tür des Verschlages hin und her zu wandern. Italien – Pinien – Oliven – Ritter – ein Wappen mit einem schwarzen Adler ...

Der Schrei eines Kauzes ließ sie zusammenzucken. Sie beeilte sich, die morsche Tür zu verbarrikadieren. Nicht wegen des Vogels. Vierbeinige Geschöpfe jagten ihr Furcht ein. Was mochte es wohl alles in diesem unbekannten Terrain geben? Marder und Füchse vielleicht. Aber die waren sicher harmlos.

Wildschweine? Ganz bestimmt. Vor denen graute es ihr gewaltig. Möglich, dass auch Wölfe in der Dunkelheit lauerten. Eulenarten schienen hier reichlich beheimatet zu sein, wie die verschiedenartigen Rufe andeuteten.

Dann bemerkte sie einige Fledermäuse, die beinahe lautlos durch die Baumkronen huschten. Die flinken Jäger fanden am Fluss unzählige Insekten, die, wie sie, nachtaktiv waren. Hin und wieder schwebte ein Nachtvogel heran, um Jagd auf die Fledertiere zu machen. Solange Rosalie zuschaute, ohne Erfolg. Es hätte ihr leidgetan, die flinken Tiere als Beute zu sehen.

Gähnend kauerte sich Rosalie schließlich in der am besten geschützten Ecke zusammen, stellte den Jackenkragen hoch und fiel in einen tiefen Schlaf. Als sie im Morgengrauen erwachte, tat ihr jeder Knochen weh. Es war aber auch eine blöde Idee gewesen, in dieser Stellung zu schlummern, wie sie sich selber eingestand. Handy und Uhr gaben noch immer keinen Mucks von sich und sie glaubte nicht, dass sich daran noch etwas ändern werde. Sie quälte sich auf die Füße, nahm einen Schluck Wasser aus dem Krug, ehe sie sich ins Freie wagte. Alles war wie am Vortag. So stieg sie zum Wasser hinunter, um sich zu waschen, nach Nahrung Ausschau zu halten und zu überlegen, ob sie weiter warten oder den Fluss hinab wandern wollte, um auf Menschen zu treffen.

Sie entschied sich, zu bleiben, bis man sie irgendwann abholen werde. Wobei sie hoffte, dass das nicht so schnell passieren möge. Die Einsamkeit in dem stillen Tal tat ihr gut und sie agierte weiter, als habe man sie auf genau dieses Abenteuer vorbereitet.

Zuerst füllte sie ihren Wasservorrat auf und kontrollierte die aufgespießten Pilze, ehe sie über die Steine im Fluss balancierte, um auf die Suche nach Pinienzapfen zu gehen. Die meisten waren von Vögeln leergefressen. Rosalie nahm sie trotzdem mit. Man konnte mit ihnen sicher ein kleines Feuer nähren, so man es denn schaffte, ohne moderne Hilfsmittel eines zu entfachen.

Sie wollte den Hang gerade verlassen, als sie etwas entdeckte, das den bohrenden Hunger besser stillen konnte als die Samen der Pinien – Maroni. Die Früchte waren reif und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Ansporn, alles dafür zu tun, sie kochen zu können.

Rosalie nahm Späne von morschem Holz mit, ein paar Pilze, die sie für Zunderschwämme hielt, harte Zweige und große Steinbrocken. Sie wollte versuchen, Funken zu schlagen oder das Holz zu drillen, bis die Hitze Glut entfachte. Nur war das alles leichter gedacht als getan. Nach zwei Stunden erfolgloser Versuche saß sie heulend in der Ecke.

Vielleicht war es ja doch besser, Hilfe zu suchen oder wenigstens nach etwas, womit die früheren Bewohner des Häuschens Feuer gemacht hatten. Sie durchwühlte noch einmal das alte Werkzeug und entdeckte in einem schimmeligen Lederbeutel mehrere angerostete Schlageisen mitsamt einer Markasitknolle.

„Bingo!“, jauchzte Rosalie, schob die zerpflückten Baumschwämme zusammen, legte trockenes Gras bereit, ehe sie erneut versuchte, brauchbare Funken zu schlagen. Mit dem mittelalterlichen Feuerzeug gelang es nach wenigen Minuten und die Flämmchen fraßen gierig das Heu. Dann stürzten sie sich hungrig auf Holzspäne, Zapfen, Zweige und Äste, die Rosalie bereits in der alten Feuerstelle zusammengetragen hatte.

Mangels anderer Gefäße hängte sie einen angebrochenen Tonkrug am Henkel übers Feuer, den sie mit Wasser und einigen Esskastanien gefüllt hatte. Ob und wie lange es der Krug mitmachen würde, wusste sie nicht. Mit ein bisschen Glück wenigstens so lange, bis die erste warme Mahlzeit fertig war. Als die Schalen aufplatzten, nahm sie eine Probe. Hm, nee, noch ein bisschen. Sie warf die angebissene Kastanie wieder in den Krug. Der nächste Testbiss war perfekt. Rosalie fischte die aufgeplatzten Maroni aus dem Wasser, die sich nun auch ganz leicht abschälen ließen. Gierig schlang sie die erste Kastanie hinunter.

Als sie die Zweite von der Schale befreite, schüttelte sie den Kopf und murmelte: „Erstes Gebot: Dusollst nicht schlingen. Zweites Gebot: Du sollst jeden Bissen genießen, weil du nicht weißt, wann du wieder etwas zu beißen findest. Drittes Gebot: Du sollst dankbar sein, dass man dich in Ruhe lässt. Amen.“

Sie ahnte nicht, dass man den Rauch ihres kleinen Feuers vom Wachturm einer wenige Kilometer entfernten Burg gesehen hatte und ihn intensiv beobachtete, weil man einen entstehenden Waldbrand vermutete, der verheerend gewesen wäre.

Man hatte bereits einen Späher losgeschickt, um geeignete Maßnahmen ergreifen zu können. Daslaute Trommeln der Pferdehufe schreckte Rosalie auf. Sie schaute aus dem Fenster und erstarrte. Auch dieser Reiter trug einen Brustharnisch, war bis an die Zähne bewaffnet und hielt genau gegenüber ihrem Versteck an, das er argwöhnisch beäugte. Dann sprang er von seinem Ross, band es an einen Busch, zog sein Schwert und machte Anstalten, den Fluss zu überqueren.

Rosalies Herz begann zu rasen, ihre Hände zu zittern, und rasch wurde ihr klar, dass sie keine Chance hatte, sich wirklich zu verstecken. Als sich polternde Schritte der Tür näherten, wich sie schreckensbleich zurück, bis sie die Wand im Rücken stoppte. Da wurde der marode Verschlag aus den Angeln gerissen, der Bewaffnete stürmte in den Raum. Rosalie schrie entsetzt auf.

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