Das große Glück, ein kleines bisschen verrückt zu sein

Anabelles erster richtiger Urlaubstag in Italien führte mit der Busreisegruppe nach Verona. Am Abend zuvor hatten sie ein Hotel in Bardolino am Gardasee bezogen, das der Stützpunkt für die kommenden Tagesausflüge werden sollte.

„Wir dürfen hier nur ganz kurz halten“, gab die Reiseleiterin bekannt. „Also bitte beim Aussteigen beeilen. 17 Uhr müssen wir alle wieder hier sein. Wir dürfen auf niemanden warten. Wer zu spät kommt, muss zusehen, wie er das Hotel erreicht.“

Weil ein wirklich warmer Tag war, ließ Anabelle ihre Jacke gleich im Bus. Das Aussteigen klappte perfekt und der Fahrer zog zu den öffentlichen Parkplätzen weiter. Die Gruppe überquerte die Etsch über die Ponte Nuovo, um in die in die Altstadt zu gelangen. Anabelle hatte den gefalteten A3 Plan des historischen Kerns in der Hosentasche stecken, um jederzeit einen Blick darauf werfen zu können. Die Reiseleiterin hatte vorgegeben, in welcher Reihenfolge man sich bis zum Highlight, Julias Haus, vorarbeiten wolle. Bei den Menschenmassen genau der richtige Ausdruck, wie Anabelle amüsiert feststellte, wenn sie versuchte, Detailaufnahmen mit Pocketkamera oder Smartphone zu machen. Zuerst kamen sie an jenem Haus vorbei, in dem Romeo gelebt haben sollte, erfuhren auf dem weiteren Weg einiges zur Geschichte der Scaligeri, die 1262 bis 1387 Verona beherrscht hatten und erreichten schließlich den Markt.

Unter dem Arco della Costa, dem Bogen der Küste, mit dem markanten Walknochen, fühlte sich Anabelle plötzlich beobachtet. Forschend schaute sie sich um und entdeckte einen sportlich elegant aussehenden Mann, der vom kleinen Markt direkt zu ihr herübersah. Die Blicke begegneten sich, er lächelte kaum merklich und tauchte im Gewimmel der Marktbesucher unter.

Auf dem Weg zu Julias Haus gewahrte sie ihn auf der anderen Straßenseite, in die gleiche Richtung gehend, die auch die Reisegruppe eingeschlagen hatte. Und wieder schien er zu lächeln, als sie ihm ins Gesicht schaute. Anabelle maß dem keine Bedeutung bei. Die Touristen folgten offenbar alle demselben Weg. Möglicherweise suchte er ja ein bekanntes Gesicht aus seiner eigenen Gruppe, denn hier wimmelten alle wild durcheinander. Manche Reiseleiter hielten einen Schirm als Erkennungszeichen hoch, andere einen Stab mit Bändern in den Landesfarben der Reisenden.

Sie widmete sich stets dem Fotografieren, um später immer wieder in wundervollen Erinnerungen schwelgen zu können. Dabei ging sie ziemlich kreativ zu Werke, weil immer irgendjemand genau durchs Bild lief. Nachdem sie reichlich enttäuscht aus dem Hof mit Julias berühmtem Balkon gekommen war, kreuzte der Fremde wieder ihren Weg. Diesmal so nah, dass sie sogar die Farbe seiner Augen erkennen konnte – ein interessantes Haselnussbraun, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Und wahrscheinlich hatte sie zu intensiv hingeschaut, denn diesmal blinzelte er vergnügt. Über Anabelles Gesicht huschte ein kaum merkliches Lächeln, ehe sie rasch eines der Kaufhäuser in unmittelbarer Nähe betrat.

Es konnte kein Zufall mehr sein, dass sie ihn auf dem Weg zur Arena erneut auf der anderen Straßenseite entdeckte. Vor dem imposanten Bauwerk herrschte Trubel, als wären sämtliche Reisebusse dieser Welt zur gleichen Zeit angekommen. Sie fotografierte es von allen Seiten und entdeckte eine Magnolie mit leuchtendroten reifen Früchten.

Natürlich wollte sie auch hiervon gestochen scharfe Bilder haben. Nur reichte der Handyzoom nicht aus, sodass sie sich auf die Zehenspitzen stellte und die Arme, so hoch es irgendwie ging, ausstreckte.

„Soll ich Sie hochheben?“, fragte jemand schmunzelnd auf Englisch.

„Wenn Sie sich einen Bruch heben wollen, können Sie es gern versuchen“, lachte Anabelle, den Mann erkennend, der ihr schon seit über einer halben Stunde auf Schritt und Tritt folgte. „Ich denke, ich komme allein klar. Danke für das Angebot.“ Sie stieg auf eine kleine Mauer, um das Objekt ihrer Begierde im Bild festhalten zu können.

Der Fremde ging zögernd weiter. Offenbar fühlte sich die hübsche Brünette nun endgültig belästigt. Schade, sie hatte etwas an sich, das ihn berührte. Das erlebte er nicht oft und schon gar nicht so intensiv. Ihm entging völlig, dass ihr einen Wimpernschlag später das Smartphone aus der Hand fiel und sie selbst auch nur mit Mühe festen Halt fand.

Ob Schicksal, oder Zufall, er entdeckte sie eine Stunde später in der Schlange eines Eisstands und stellte sich einfach mit an. Vielleicht wurde sie ja beim gemeinsamen Eisessen etwas aufgeschlossener.

Der Blick auf die Uhr des Herrn vor ihr in der Schlange, ließ Anabelle heftig zusammenzucken. Sie spähte nach einer anderen Armbanduhr, um festzustellen, dass tatsächlich nur noch zehn Minuten bis zur Abfahrt des Busses blieben. Sie orientierte sich kurz, um plötzlich los zu spurten, als ginge es um ihr Leben. Die Reiseleiterin hatte extra mehrfach darauf hingewiesen, dass der Bus nur zehn Minuten stehenbleiben durfte. Wer es nicht schaffte, musste die rund 30 Kilometer nach Bardolino zum Übernachtungshotel mit dem Taxi fahren. Anabelle hetzte durch die Straßen, um den Reisebus noch irgendwie zu erreichen, sprang über Absperrketten, flitzte an der roten Ampel zwischen Autos hindurch und sah gerade noch, wie der abfahrende Bus um die Ecke bog. Arrivederci.

Vor Wut hätte sie am liebsten ihr Handy an die Mauer an der Etsch gedroschen. Die Vernunft siegte. Sie ließ es bleiben, weil das Gerät nichts dafür konnte, sie hätte gleich nachsehen müssen, ob es noch funktionierte, nachdem es ihr aus der Hand gefallen war. Sie konnte ja nicht einmal ein Taxi rufen. Völlig verzweifelt und den Tränen nah, lief sie in die kleine Straße an der nächstgelegenen Brücke zurück, um in einem Geschäft zu fragen, ob sie telefonieren dürfe. Diesmal blieb sie stehen, als die Fußgängerampel rot zeigte. Jemand tippte ihr auf die Schulter, worauf sich Anabelle wie in Zeitlupe umwandte.

„Ich glaube, nun brauchen Sie doch Hilfe“, sagte eine männliche Stimme auf Englisch.

Hinter ihr stand der gut aussehende Herr, der sie vor der Arena angesprochen hatte. Anabelle zog die Nase hoch, hob völlig hilflos die Hände, dann nickte sie stumm.

„Was ist geschehen?“, fragte er teilnahmsvoll.

Anabelle schilderte ihr Missgeschick mit wenigen Worten.

Er schürzte die Lippen. „Wenn Sie wirklich mit dem Taxi fahren wollen, müssen Sie damit rechnen, eine ganz heftige Flaute im Portmonee zu erleben. Unter 40 Euro ist die Fahrt nicht zu haben und jetzt, in der Hauptsaison müssten Sie mit rund 60 Euro planen. Zudem ist es für Ausländer nicht immer ganz einfach, einen Festpreis auszuhandeln.“

„Ich habe doch gar keine Wahl“, flüsterte Anabelle, verzweifelt die aufsteigenden Tränen niederkämpfend. „Ich kenne mich hier nicht aus, das Handy streikt und ich würde mit einem Überlandbus wohl überall, nur nicht im Hotel, ankommen.“

Er kniff die Augen zusammen, taxierte sie von Kopf bis Fuß, betrachtete erfreut ihre Jeans und die Schnürschuhe, überlegte ein paar Sekunden und bot an: „Ich könnte Sie mit dem Motorrad nach Bardolino bringen. Ich kann Ihnen sogar eine Jacke leihen, damit Sie sich nicht den Erkältungstod auf der Fahrt holen. Einen Sturzhelm natürlich auch“, fügte er rasch hinzu.

Anabelle riss die Augen auf. „Das würden Sie tun? Zu welchem Preis?“

„Sie gehen heute Abend mit mir gepflegt Wein trinken“, schmunzelte er. „Und keine Sorge, ich bezahle. Ich habe fünf freie Tage und bin öfter ziemlich spontan, was die Gestaltung meiner Freizeit angeht. Ich heiße übrigens Adriano Mancini.“

„Sehr angenehm. Anabelle Kreher.“ Sie versuchte, in seinen Augen zu lesen. Aber da war ausschließlich wohlwollende Neugier zu sehen. „Ich möchte das Angebot annehmen“, murmelte sie.

„Wirklich?! Ich werde auch vorsichtig fahren“, versprach er sofort. „Kommen Sie! Ich habe die Maschine bei einem Freund in der Garage stehen.“

Anabelle nickte erfreut und folgte ihm auf erschreckend engen, verschlungenen Pfaden durch den Dschungel der mittelalterlichen Häuser. Sie war sich nicht mehr ganz so sicher, dass es eine gute Idee gewesen war, die Offerte anzunehmen.

„Keine Angst, wir sind gleich da“, erklärte Adriano beruhigend. „Da drüben ist der Fluss und dort können Sie das erste alte Stadttor sehen. Wir werden also in Nullkommanichts auf der Fernverkehrsstraße sein. Schauen Sie? Da drüben geht gerade ein Rolltor auf. Dorthinein müssen wir.“ Er winkte, als jemand eine Maschine herausschob. „Perfekt, ich muss nicht mal selbst öffnen.“ Er stellte ihr seinen Freund Gepetto Andreotti vor, der das Visier hochklappte, damit Anabelle sein Gesicht sehen konnte, und erklärte mit wenigen Sätzen die Situation.

Das Lachen seines Freundes kam von Herzen, als er Anabelle anschaute. „Sie haben Glück, dass er ein völlig verrückter Hund ist. Gute Fahrt und viel Spaß!“

Adriano steuerte auf eines der beiden anderen Motorräder zu.

„Eine Harley CVO Limited Royal Purple?!“, flüsterte Anabelle völlig verdattert, Maschine und Besitzer mit großen Augen betrachtend.

„Richtig“, sagte Adriano absolut verblüfft. Anabelle war die erste Frau, die Marke, Typ und sogar die Farbgebung auf Anhieb exakt benannt hatte. „Sie kennen die Maschine?“

Anabelle schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Ich habe die Tourenmaschine zufällig beim Händler stehen sehen, war von Optik und Farbe hin und weg und habe ein wenig im Internet recherchiert. Beim Preis bekam ich schließlich Schnappatmung.“

„Ja, davon könnte man durchaus ein größeres Auto anschaffen“, bestätigte Adriano, aus der Gepäckbox Helm und Jacke hervorzaubernd. „Wenn Sie die Ärmel umkrempeln, sollte es gehen“, blinzelte er.

Der Helm passte besser und Anabelle stellte überrascht fest, dass Mikrofon und Lautsprecher zu Ausstattung gehörten. Sie konnten sich also auf der Fahrt problemlos unterhalten.

„Bereit?“, fragte er, als sie die Jacke und er das Tor fest verschlossen hatte.

„Bereit!“ Anabelle schwang sich hinter ihm auf den Sitz.

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