Als ich am 30. Oktober 2025 zur Buchvorstellung bei der DGAP ging, war ich eigentlich auf Krawall eingestellt. Das Thema „Versagen der deutschen Russlandpolitik“ war spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine zu einem Tummelplatz für selbstgerechte Besserwisserei geworden, vor allem von Leuten, die zuvor in dem unkritischen Mainstream der Russlandversteher mitgeschwommen sind. Sollte das Buch auf der Welle der Vereinfacher surfen, die behaupten, bisher sei es immer nur um „Wandel durch Handel“ gegangen und nunmehr sei es an der Zeit, alle bisherige Politik zu verurteilen und endlich moralische Politik zu machen? So etwas nervt mich -und ich hätte es gesagt. Aber es kam anders.
Am Ende wurde es eine der spannendsten und besten Veranstaltungen, die ich in letzter Zeit bei der DGAP besucht hatte. Das Buch habe ich in einem Zuge durchgelesen und viel dazugelernt. Die Autoren haben eine große Zahl von Interviews mit Zeitzeugen geführt und viele Akten, auch bisher unveröffentlichte, ausgewertet. Sie stützen die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Russlandpolitik auf Fakten und Verständnis für die vielfältigen Motive und Kontexte, die außenpolitische Prozesse nun einmal prägen.
Ich bin sicher, dass dieses Buch mehr zur Aufarbeitung der Russlandpolitik beitragen kann als manche Untersuchungsausschüsse oder Enquetekommissionen.
Eigentlich hatte ich überlegt, eine Rezension zu schreiben. Aber machen wir es kurz: das Buch ist gut recherchiert und gut geschrieben. Es ist lesenswert. Bei der Lektüre kamen mir viele "Gedanken und Erinnerungen", die vielleicht mehr zum Verständnis des Buches beitragen können als eine trockene Rezension.
Von Mai 1976 bis September 1980 war ich Kulturreferent an der bundesdeutschen Botschaft in Moskau. Der kalte Krieg ging weiter - trotz der deutschen Ostpolitik, trotz amerikanischer Entspannungsübungen. Dennoch gab es Bewegung. Die Schlussakte von Helsinki gab uns eine Berufungsgrundlage für mehr menschliche Kontakte, durch Rüstungskontrolle wurde versucht, die Kriegsgefahr zu vermindern.
Unsere Ostpolitik erreichte einen gewissen modus vivendi, aber von irgendeinem „Wandel durch Annäherung“, von dem Egon Bahr in Tutzing gesprochen hatte, war wenig zu sehen. Willy Brandt war es vor allem darum gegangen, für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands mehr Bewegungsfreiheit, weniger Schikanen an der innerdeutschen Grenze und einen gesitteten Umgang miteinander zu erreichen.
Die CDU/CSU war skeptisch und fürchtete eine Schwächung der Westorientierung, die Adenauer durchgesetzt hatte. In der SPD verfielen manche in romantische Vorstellungen darüber, was Annäherung bedeuten könnte: mehr Demokratie im Osten, mehr Sozialismus im Westen. Doch die Sowjetunion und die DDR machten sehr klar, dass sie nicht daran dachten, sich westlichen Werten auch nur anzunähern.
Sie nahmen den Korb3 von Helsinki über menschliche Begegnungen und Freiheiten als lästige – aber kontrollierbare – Zugabe zu den eigentlichen Zielen:
Korb1 - die Anerkennung des status quo in Europa, also der sowjetischen Hegemonie östlich der inneerdeutschen Grenze, und
Korb2 – den Ausbau beiderseits vorteilhafter wirtschaftlicher Beziehungen.
Im Mai 1992 war ich zurück in Moskau – jetzt als Leiter der Abteilung Wirtschaft und Wissenschaft der Botschaft des vereinten Deutschland. Jelzin war russischer Präsident nach der Ende 1991 erfolgten Auflösung der UdSSR. Jegor Gaidar war noch Ministerpräsident und führte ein Kabinett, das Wirtschaftsreformen wollte und zugleich eine tiefe wirtschaftliche, soziale und moralische Krise bewältigen musste.
Seit 1990 war Deutschland wieder vereint, in Russland ging es vielen Firmen aus der vergangenen DDR um ihre Existenz, denn die Arbeitsteilung im RGW, dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, funktionierte nicht mehr. Ich drängte noch auf letzte große Aufträge für die Deutsche Waggonbau, bemühte mich um die Verbundnetzgas im Osten Deutschlands, von der Gazprom höhere Preise verlangte als im Westen, reiste in Russland, um neue Kontakte im Interesse unserer Wirtschaft zu knüpfen und half bei der Gründung einer Arbeitsgruppe der Energieunternehmen, die trotz aller Konkurrenz auch gemeinsame Anliegen gegenüber der russischen Seite hatten.
Gorbatschow, der in Deutschland wegen seiner Rolle für das Ende des Kalten Krieges und seiner Mitwirkung an der deutschen Einheit hohes Ansehen genoss, war in Russland bereits in Acht und Bann. Ich traf ihn einmal in der Residenz unseres Botschafters als der Oberste Gerichtshof Russlands ihm gerade im Rahmen einer Untersuchung ein Ausreiseverbot erteilt hatte. Niemand stand ihm bei.
Westliche Hilfsprogramme der G7 und der EU (TACIS) sollten helfen, schnell marktwirtschaftliche Strukturen zu schaffen. Berater aus den USA wie Jeffrey Sachs oder aus Schweden wie Anders Aslund drängten auf Liberalisierungen, aus Deutschland kam der frühere Chef des Kartellamtes, Kartte – seitens der Botschaft kraftvoll unterstützt von meinem jungen Mitarbeiter Markus Ederer – und versuchte klarzumachen, dass Marktwirtschaft institutionelle Sicherungen braucht. In dem damaligen Obersten Sowjet der RSFSR (wie es noch hieß) fand Kartte Zuspruch, aber die Regierung erreichte er mit seinen Ideen nicht. Die G7 ernannte den Amerikaner Mike Gilette zum Leiter einer „G7 Strategic Support Group“ und mich zu seinem Stellvertreter – operativ wurde die Gruppe nie, obwohl der Finanzminster der USA persönlich zur Einführung der Gruppe nach Moskau kam.
In dieser Zeit wurden manche Löhne z.B. in den Bergbauregionen des Kusbas monatelang nicht gezahlt, Renten wurden von der Inflation aufgefressen, viele der Direktoren der sozialisierten Betriebe eigneten sich diese schon vor jeglicher Privatisierung praktisch an – mancher wurde später zum „Oligarchen“.
Zugleich aber war das Land so frei wie nie zuvor und nie mehr danach. Die Presse war frei und frech, die Fernsehnachrichten interessanter und frischer als in den deutschen Sendern. In den Zügen der Moskauer Metro wurde lautstark über Politik diskutiert und geschimpft. Es gab gute Satire, die auch dem Präsidenten nichts ersparte. Junge Leute – darunter auch meine 1978 in Moskau geborene Tochter - liebten Punk und nächtliche Feste im Arbat oder den Parks.
Das Kulturleben war durch Mangel an Geld und Überfluss an Ideen geprägt. Unvergessen eine Kunstausstellung, bei der ein mit vielen Orden dekorierter hoher Offizier konsterniert vor einem Gemälde stand, wo ein nackter Offizier seine Orden auf der nackten Brust trug.
Auch die Geschichte wurde aufgearbeitet. Selbst KGB-Archive wurden Historikern zugänglich. In der Tretjakow-Galerie wurde erstmals die angeblich verschollene Karte ausgestellt, auf der Molotow und Ribbentrop Osteuropa mit Buntstift-Strichen unter sich aufteilten. Auch Befehle zu den Morden von Katyn und die von Stalin angeordneten Hungerrationen, ebenso Dokumente zum GULAG wurden öffentlich einem erschütterten, ungläubigen Publikum gezeigt.
Aus dieser Situation mag man verstehen, wenn Hoffnung aufkeimte, dass Demokratie und eine Zivilgesellschaft in Russland eine Chance haben könnte. Das tägliche Chaos, die allgegenwärtige Korruption, die offen operierenden Gangstersyndikate und die wirtschaftliche Not diskreditierte genau diese Demokratie aber gleich wieder so stark, dass der Ruf nach dem „starken Mann“ unüberhörbar war. Manche sagten öffentlich, dass Wirtschaftsreformen wie in China unter scharfer Kontrolle stattfinden müssten, Pinochet wurde als Vorbild genannt.
Diese Lage führte zu einer Politik des Westens, alles zu versuchen, Russland auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft zu unterstützen, obwohl – ja weil man sich der Risiken einer Fehlentwicklung durchaus bewusst war. Illusionen gab es kaum, aber die Hoffnung stirbt zuletzt.
Die alten Kräfte, die Stützen des sowjetischen Regimes, waren ja noch da. Einige hatten sich angepasst und neue Rollen übernommen, andere trauerten verlorenen Privilegien nach – wir kennen das aus der ehemaligen DDR. Vor allem war die sehr große Gruppe privilegierter Techniker aus der Rüstungsindustrie, waren die Militärs, Tausende KGB-Schergen, Parteifunktionäre aller Art, auch manche Akademiker deklassiert worden, wirtschaftlich verarmt und sozial alleingelassen. Manche wandten sich kriminellen Aktivitäten zu. Der Gangsterstaat wuchs wie ein Krebsgeschwür.
Generationen von Funktionären und auch Diplomaten waren im Geiste des sowjetischen Imperiums, der Supermacht UdSSR, die sich nur mit den USA messen wollte, aufgewachsen. Für sie war der Untergang der Sowjetunion eine Katastrophe. Sie gaben nicht kampflos auf. Sie waren die Truppen für den Putsch vom August 1991, sie trugen den Putschversuch von 1993, der mit der Beschießung des Weißen Hauses (dem Parlamentsgebäude) endete. Und sie gewannen auch die nächste Generation und übernahmen schließlich unter Putin immer mehr die Macht.
Schon 1995 erschien in der Nesawisimaja Gaseta ein Artikel auf Seite 1 und 2, in dem eine andere Außenpolitik gefordert wurde (siehe: Kommentar zur Nesawisimaja Gaseta 1995 ) – da wird im Grunde eine vorsichtige Politik gefordert bis Russland wieder mächtig genug ist, und dann robust und imperial auftreten kann.
1994 hatte ich Jelzin und seine Frau am Moskauer Flughafen verabschiedet, als sie zum Abschied der russischen Truppen aus Deutschland nach Berlin flogen. Es war ein denkwürdiges Gespräch, in dem Frau Jelzina sich auch zum Gesundheitszustand ihres Mannes und dem Alkoholproblem äußerte.
Zwischen 1995 und 2005 hatte ich wenig Berührung mit der Russlandpolitik, verfolgte sie aber natürlich weiter aufmerksam. Das Ende der Ära Jelzin war geprägt durch zunehmenden Einfluss der alten KGB-Kader – gemäßigter wie Primakow und härterer wie schließlich Putin.
Hier setzt das Buch von Gloger/Mascolo ein. Es handelt vor allem von der Ära Putin, die bis heute andauert. Von Anfang an war die Einschätzung von Putin umstritten. Ich habe ihn in Russland nur einmal getroffen, als Vizebürgermeister von St.Petersburg unter Sobtschak. Der Eindruck war der eines blassen, verschlossenen Bürokraten. Weiter wusste ich damals nichts von ihm, außer, dass er sich um die Städtepartnerschaft mit Hamburg kümmere.
Heute fragen sich manche, ob es zwei oder mehr Putins gibt. Den guten Putin, der im Bundestag 2001 eine bejubelte Rede hielt, den Putin, der die „Diktatur des Rechts“ forderte, der aus Verfassungstreue nach zwei Amtszeiten die Präsidentschaft Dmitri Medwedjew überließ – und wie Angela Merkel in ihren Memoiren meint, dann in der Isolierung während der Covid-Epidemie zum dem Monster mutierte, das er heute ist.
Ich halte das für Unsinn. Zum einen muss die Geschichte eigentlich bei dem Putin beginnen, der in Dresden 1989 eigentlich die Demonstranten lieber erschossen als geduldet hätte und bedauerte, dass kein Schießbefehl kam. Der Putin, der schon 2005 Iwan Alexandrowitsch Iljin – einen ausgewiesenen Faschisten, der 1954 in der Schweiz gestorben war, nach Russland überführen ließ und eine imperialistische Lobeshymne an seinem Grabe sang – und die Rede dann in seinem Apparat verteilen ließ. Auch die Morde an Boris Nemzow und Ana Politkowskaja, der grausame zweite Tschetschenienkrieg, die Knebelung der Presse – alles das liegt lange vor der Covid-Epidemie. Ebenso wie Putins Rede 2007 vor der Münchner Sicherheitskonferenz, wo ich ihm fast gegenüber saß.
Putin brach als erstes mit der Ära Jelzin – der Abbau der Demokratie im Namen der Schaffung von Ordnung ging schnell. Die „Machtvertikale“ wurde zum Schlagwort, der Föderalismus praktisch abgeschafft. Vieles gehörte zu dem, was gemeinhin als „innere Angelegenheit“ eines Staates gilt. Die russische Entwicklung seit dem Amtsantritt von Putin ist durch Bruchpunkte charakterisiert, die jeder für sich Anlass sein mussten, unsere Russlandpolitik zu überdenken. Der Vorwurf lautet, das spätestens nach der Annexion der Krim 2014 versäumt zu haben. Ich glaube, das war so!
Anfang der neunziger Jahre las ich in Moskau die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von Thomas Mann – und hatte das Gefühl, dass mir das half, die unglaubliche Desorientierung der Russen in der Krise zu verstehen. Auffällig war, dass rückwärtsgewandte Geschichtsmythen mächtiger waren als der Blick nach vorne. Die große Utopie der „svetlije buduschtschije“ (der glänzenden Zukunft) war tot, nun wurden Ideen der Minister des Zaren wie Witte und Stolypin von Reformern neu entdeckt. Die orthodoxen Philosophen und Ideologen wurden neu aufgelegt. Es blühte eine Nostalgie der Zarenzeit. Demokratie kam dabei nicht vor.
Wie die Deutschen nach 1918 sahen auch viele Russen Freunde und Verwandte plötzlich im Ausland – die Grenzen der neuen Länder wurden – abgesehen vom Baltikum - als künstlich empfunden. Die Erzählung von den Kiewer Rus zum Tatarenjoch und dem anschließenden Sammeln russischer Erde, von den großen Siegen Peters des Großen in Poltawa und der Kolonisierung Neurusslands durch Zarin Katharina der Großen war genauso gegenwärtig wie die Romane und Erzählungen über Kämpfe gegen den Westen am Peipus-See und im wilden Kaukasus.
Der verletzte Stolz der "gedemütigten Russen" war damals schon eine Realität. Wir haben uns zu wenig um die Ideenwelten gekümmert, die die Leerstelle zu füllen suchten, die der zynisch gewordene Kommunismus hinterlassen hatte. Ich war neugierig und stattete den beiden Extremisten im politischen Spektrum Besuche ab: dem Kommunisten Sjuganow, ein blasser Bürokrat, der sich immer mehr den national-bolschewistischen Tendenzen seiner „Massen“ anpasste, und dem rechtsradikalen Shirinowski, der als Politclown galt. Seine Linie war imperialistisch-nationalistisch (so etwas wie MARA- make Russia great again). Der Innenhof, an dem sein Büro lag, wirkte auf mich wie ein Marktplatz – ein Kommen und Gehen, Bittsteller, bewaffnete Leibwächter, starre Gesichter, kein Lächeln. Heute scheint der inzwischen verstorbene Shirinowski in Putin einen Wiedergänger zu haben.
Als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes (zuständig für Haushalt, Personal, Wirtschaft, Entwicklung, Energie, Umwelt, Kultur, Rechts- und Konsularfragen, Krisenstäbe und das Protokoll, sowie der Vorbereitung der Kabinettssitzungen und des BSR – nicht zuständig, aber immer wieder in Vertretung aktiv auf allen anderen Gebieten wie bilaterale Politik, Sicherheit und Abrüstung, EU und die Vereinten Nationen, in Vertretung auch immer wieder mal in der wöchentlichen Sicherheitslage einschließlich Präsidentenrunde im Kanzleramt) hatte ich u.a. auf deutscher Seite gemeinsam mit Staatsekretär Pfaffenbach vom BMWi den Ko-Vorsitz der deutsch-russischen strategischen Arbeitsgruppe für Wirtschaft. Wirtagten 2005 in Kassel (bei Wintershall) und 2006 in Tomsk. Als Diploma-Geophysiker war ich natürlich sehr interessiert an der Bergbautechnik und Rohstoffragen. Ich unterschrieb auch das Abkommen mit Russland über die abschließende Regelung der Altschulden.
Wie man es wendet, ich war natürlich Teil der von den Autoren kritiserten Politik gegenüber Russland – wobei nicht erst Schröder und Merkel, sondern alle Bundeskanzler seit Adenauer die Russlandpolitik als Chefsache ansahen und sie nicht allein dem Außenminister überließen. Als beamteter Staatssekretär war ich dem gewählten Minister zu Loyalität verpflichtet, was heißt nach bestem Wissen und Gewissen Rat zu geben, aber die Entscheidungen der Regierung auszuführen (oder, falls es Gewissensgründe von Gewicht dagegen gibt, aus dem Dienst auszuscheiden).
Außenminister Joschka Fischer hatte mich als Nachfolger von Jürgen Chrobog zum Staatssekretär ausgewählt, Bundespräsident Hotrst Köhler ernannte mich am 1.Juli 2005. Außenminister Steinmeier übernahm mich, als er nach der Wahl vom Herbst 2005 sein Amt antrat. Als er mich einmal nach unserer Russlandpolitik fragte, habe ich gesagt, dass Russland für uns immer ein sehr wichtiger Partner ist – ein Land, das man sich nicht einfach weg-denken kann, aber dass unsere Politik ohne Illusionen bleiben müsse.
Die internen Diskussionen im Amt sind vorerst noch unter Verschluss, wobei die Historiker es in Zukunft sicher schwerer haben werden als früher. Um so wichtiger war es, dass die Autoren eine ganze Menge vorzeitige Freigaben erreicht haben und das durch Interviews verstärken konnten.
Wie Gloger/Mascolo richtig bemerken, werden SMS gar nicht, E-Mails nur sporadisch in die Akten aufgenommen (ein Historiker verriet mir, dass im nächsten Band der Akten zur Auswärtigen Politik erstmals eine E-Mail aufgenommen werde – und die stamme von mir. Ich bin gespannt darauf). Seit dem Informationsfreiheitsgesetz vermeiden Beamte wie Politiker gleichermaßen jedes Risiko einer Skandalisierung ihrer Texte, also wird weit mehr mündlich oder jedenfalls undokumentiert entschieden. Und ehe Historiker gemerkt haben, wen sie fragen könnten, sind manche Quellen tot oder dement. Zu recht konzentriert sich die Geschichtswissenschaft auf die Hauptakteure, also die Regierungsmitglieder. Dabei gehen dann leider auch oft Aspekte verloren, die in Randbereichen liegen, die nur von Beamten bearbeitet werden, weil Politiker sich schlicht nicht dafür interessieren.
Frieden und Sicherheit in Europa gehört zu den wichtigsten Zielen jeder deutschen Regierung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Westbindung und das NATO-Bündnis soll Abschreckung potenzieller Gegner sichern, die EU hat dafür gesorgt, das Kriege zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft ausgeschlossen sind. Der kalte Krieg verblasst in der Erinnerung – bei mir ist er noch sehr lebendig. Ein neuer hybrid-kalter Krieg scheint zu drohen – wie der frühere immer mit der Gefahr, in einen heißen Krieg zu münden.
Deshalb gilt, was auch früher galt: Abschreckung von Aggression und Dialog auch mit dem Gegner gehören zusammen. Russland hat sich in seiner Geschichte immer wieder selbst isoliert und den Dialog verweigert, wir haben ein Interesse, weiter zu reden – allerdings nicht um des Dialogs willen, sondern um der Substanz willen: der Friedenssicherung und heute, der Wiederherstellung der Friedensordnung. Schon Willy Brandt wusste, dass er seine Friedenspolitik nur auf dem Hintergrund des NATO-Bündnisses und der Abschreckung machen konnte.
Die Autoren stellen zu recht fest, dass Dialoge zum Selbstzweck wurden, dass die Verbindung zur Abschreckung verloren ging, weil die Verteidigungsfähigkeit aufgegeben wurde. Ich mochte das Gerede von „strategischer Partnerschaft“ nicht mehr hören – allen und jedem wurde es angetragen und dann wieder vergessen. Auf die Substanz kommt es an.
„Wandel durch Handel“ ist ein Slogan, der nie Regierungspolitik war. Medien fanden ihn treffend und Wirtschaftsbosse liebten den Begriff in Sonntagsreden, auch manche Politiker. Tatsächlich war es oft so, dass Wandel der Politik auch die Chancen auf mehr Handel mit sich brachten. Das deutsche Wesen und deutsche Waren haben nicht China gewandelt, aber Deng Hsiaopings Wandel brachte eine Dynamik nach China, die auch unsere Firmen profitieren ließ. Es ist gut, dass dieser Slogan für die Autoren keine große Rolle spielt.
Sehr viel konkreter ist die Frage nach der Art der Wirtschaftsbeziehungen, die auf gegenseitigen Vorteil ausgehen, aber Monopolstellungen vermeiden müssen. So ist jede übermäßige Abhängigkeit von einem einzigen, möglicherweise mächtigen, Lieferanten oder Kunden ein hohes Risiko, zunächst für die Preise, dann für die Liefersicherheit.
Die Autoren rätselten etwas über das 30%-Ziel, das als Maximum für die Abhängigkeit von russischem Gas galt. Ich bin in meiner Amtszeit immer davon ausgegangen, obwohl ich den Kabinettsbeschluss der Regierung Schmidt dazu nicht kannte, den Gloger/Mascolo ausgegraben haben. Das ist keine fixe Zahl: es gibt andere Rohstoffe, wo es weit höhere Abhängigkeiten gibt, denen wir nicht entkommen können. In die Risikoabwägung gehen immer auch die politischen Risiken ein (jede Bank rechnet das politische Risiko mit ein). 2006 gab es einen Rohstoffkongress beim BDI in Berlin, Merkel hielt dort eine Rede, ich saß auf einem Podium und forderte LNG-Terminals. Das Thema war präsent, nicht nur für den Gasmarkt. Aber Steinmeiers - von mir angeregte - Energieaußenpolitik blendete das Thema Versorgungs-Sicherheit zunehmend zugunsten der ebenfalls wichtigen Klimaziele aus.
Ich hielt North Stream I für tragbar, weil nicht nur das 30%-Ziel damit vereinbar war, sondern auch weil ich zwei von den Autoren hervorgehobenen Fehleinschätzungen erlegen bin: zum einen hielt ich Russland für einen sicheren Lieferanten (solange wir Weltmarktpreise zahlten und nicht zu abhängig waren) und zum anderen glaubte ich auch an so viel Rationalität der russischen Seite, dass man einen Kunden wie uns nicht leichtsinnig aufgibt, wenn damit erhebliche Einnahmen verloren gehen. Nicht ganz "rational choice theory" - aber nahe dran. Wie die Autoren erwähnen, hat Gazprom-Chef Miller schon früh das Gas als politische Waffe entdeckt. Das bedeutete, dass ich North Stream II für riskanter hielt. Ich hatte aber dennoch unterschätzt, dass für subjektiv als existenziell angesehene Gründe manche führende Kreise bereit sind, wirtschaftliche Opfer zu bringen um politische Ziele zu erreichen. Helmut Schmidt hatte mich einmal bei einem Gespräch 1995 in Moskau gewarnt: ... glauben Sie nicht, dass Politik von der Wirtschaft bestimmt wird – wenn es darauf ankommt, ist es umgekehrt.
Die polnischen und baltischen – auch ukrainischen – Einwände schienen mir von eigenen materiellen Interessen geprägt, zumal diese Länder damals selbst deutlich mehr Gas aus Russland bezogen und den reverse flow ablehnten. Die Ukraine hatte anfänglich Sonderpreise aus der Sowjetzeit übernommen. Die Anpassung an Weltmarktpreise wollte die Ukraine verhindern, indem sie am Transit manipulierte. Polnische Regierungen erwiderten die Avancen deutscher Regierungen nicht immer freundlich, schon gar nicht unter PiS-Herrschaft. Auch das ließ an alternative Zugangswege denken. Es war keine Werbung für die Bedenkenträger, dass sie über die Bande spielten und uns via USA unter Druck setzen wollten. Da hat Deutschland auf stur geschaltet. Das war nicht richtig - trotz der Eigeninteressen waren die Argumente ja nicht falsch.
In wichtiger Grund, auf noch mehr Gas zu setzen, war der nach Fukushima beschleunigte Atomausstieg, der ja vom Ziel des Kohleausstiegs gefolgt wurde. Gas war eine attraktive Alternative. Aus meiner Sicht hätte der Unwillen der Firmen, LNG-Terminals zu bauen spätestens 2008 durch eine staatliche Initiative zum Bau der Terminals ausgehebelt werden müssen.
Das Klimaproblem ist ernst zu nehmen: für mich war das neben der Sicherheit der Versorgung ein zweiter wichtiger Faktor für die Energieaußenpolitik (ich glaube, das Wort hatte ich geprägt, um Kompetenzansprüche aus dem Wirtschaftministerium zu stoppen). Ich reiste dafür nach Nigeria und Ghana (beides mit einer Wirtschaftsdelegation), Angola und Norwegen, um über Energie zu sprechen und Türen zu öffnen. Deutsche Firmen blieben zögerlich.
Damals drängte die liberale EU-Kommissarin Neeli Kroes auf eine Entflechtung der deutschen Energiekonzerne. Ich warnte u.a. beim CDU-Wirtschaftsrat damals sehr klar vor einer undurchdachten Entflechtung, die deutsche Oligopole durch das Monopol von Gazprom ersetzen würden. In Italien war genau das bereits geschehen. Man sollte mal prüfen, ob nicht auch der Asset Swap der Gasspeicher damit zusammenhängt – und nicht nur mit dem Ziel, am Urengoi-Feld beteiligt zu werden.
Ein besonderes Kapitel sind die beteiligten Personen an der energiegeladenen Russland-Connection. Einen Stasi-Mann wie Warnig mit Russland-Projekten zu beschäftigen, halte ich damals wie heute für unangebracht. Das Stiftungsprojekt in Mecklenburg-Vorpommern halte ich für untragbar – allerdings hatten Deutschland, Frankreich und Großbritannien ja ein Büro mit ähnlicher Funktion zur Umgehung exterritorialer Sanktionen der USA u.a. gegen Iran geschaffen.
Ich kenne Gerhard Schröder noch als Juso-Vorsitzenden (und traf ihn bei einem Besuch in Moskau), schätzte ihn als Kanzler und verstand nicht, wie er gleich nach dem Ausscheiden ausgerechnet ins Gasgeschäft mit Russland einstieg. Schlimmer aber ist, dass er nach allem, was seit 2006 geschehen ist, an der Männerfreundschaft mit Putin festhielt. Dabei halte ich manche seiner Kritiker für Heuchler, die glauben, dass man auf der Rechten natürlich für jede Firmenlobby arbeiten darf, aber als linker Politiker das Armutsgelübde ablegen sollte. Mein verstorbener Kollege Dietmar Stüdemann, einst Botschafter in Kiew und nach 2006 Berater von Juschtschenko, sagte einmal in einem Vortrag, dass Putin und Schröder beide als Außenseiter aufgestiegen sind und untereinander die Solidarität und den Respekt unter Straßenjungen pflegten. Und die Verletzung dieses Respekts ist Todsünde, wie die Autoren feststellten.
Ich glaube, es war im Jahre 2004 als mir der russische Botschafter Khamynin in Madrid das Video einer Fernsehsendung aus Russland über den Bundeskanzler Schröder gab - das ich nach Berlin weiterleitete. Es war ein überschwengliches Loblied auf den Kanzler, dass geradezu peinliche Züge von Personenkult zeigte. Aus Berlin bekam ich keine Reaktion - eigentlich hätte man sich diese Art Speichelleckerei verbitten müssen.
Die Ukraine ging 1992 unvorbereitet in die Unabhängigkeit. Die ersten Regierungen, das Militär und die Oligarchen waren sowjetisch geprägt – den Reformeifer in Moskau sah man eher skeptisch. Im Interesse subventionierter Energielieferungen ging man sehr pfleglich mit dem russischen Nachbarn um. 1994 wurden die noch in der Ukraine befindlichen Kernwaffen an Russland abgegeben – im Budapester Memorandum sagten Russland, die USA und Großbritannien der Ukraine den Schutz der Unabhängigkeit in den bestehenden Grenzen ohne wirkliche Verpflichtungen zu.
Der Bundesbank-Vertreter Sterlepper, der in Moskau zu meiner Abteilung gehörte, ging gegen Ende der 90ger Jahre als Berater im Auftrag des IWF nach Kiew - er war schier verzweifelt über die Korruption und Inkompetenz, mit der er dort konfrontiert war. Der Wille und vielleicht auch die Fähigkeit zu Reformen fehlten damals in der Ukraine, so dass ich zu der Überzeugung kam, dass wir zwar ein großes Interesse an der Selbständigkeit des Landes hatten, die Ukraine selbst aber eine Stabilisierung durch ihre Politik aufs Spiel setzte. Zwar hatte auch in der Ostukraine eine Mehrheit für die Unabhängigkeit gestimmt, aber wenig später forderte das Parlament der Krim bereits den Anschluss an Russland. Oligarchen aus der Schwerindustrie im Osten der Ukraine sahen sich mit Russland in einem Boot. Ich kam zu dem Schluss, dass eine Ukraine ohne die Krim und den Donbass möglicherweise eher reformfähig und damit nachhaltig lebensfähig sein könnte. Eine erneute ergebnisoffene Volksabstimmung hätte die Stimmung 1995 testen können. Die Orangene Revolution war eine Wende. Das war die Unabhängigkeitserklärung von unten – und sie löste in Putins Moskau Panik aus.
Ceterum censeo: Nicht die NATO „erweiterte sich“, sondern die Nachbarn Russlands suchten Sicherheit vor Russland, dessen Entwicklung sie nicht trauten. Die Beitritte der früheren Staaten des Warschauer Paktes zur NATO galten in Moskau als ärgerlich, aber nicht vermeidbar. Der Beitritt der baltischen Staaten wurde kritischer gesehen. Unser damaliger Botschafter von der Gablentz hatte schwere Bedenken dagegen – ich war genau so schwer dafür, weil sie als ehemals sowjetische Gebiete besonders gefährdet waren, aber eindeutig zum Westen gehören wollten.
Ein Beitritt der Ukraine allerdings war zu jeder Zeit für Moskau eine rote Linie – nicht nur für Imperialisten und Nationalisten, sondern bis weit in liberale Kreise der Bevölkerung hinein. Nicht ohne Grund ließ Putin der Verteidigung Moskaus gegen Polen-Litauen 1611-1612 in einem neuen Feiertag für die Helden Minin und Posharski gedenken. Großrussische Ideologen, heute oft pauschal als Eurasier etikettiert, hatten betont, dass das orthodoxe Russland ein Imperium sein müsse, ohne die Ukraine aber keine Imprium sein könne. Wir haben diese Ideologie wahrscheinlich nicht ernst genug genommen.
Vor dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 hatte Putin klar und deutlich die rote Linie bekräftigt. Ich halte heute noch die US-Politik von damals für ein Hasardspiel. Die Neokonservativen der Bush-Administration waren entschlossen, den NATO-Beitritt durch ein MAP (membership action plan) vorzubereiten. Sie wurden von den Balten und Osteuropäern unterstützt. Merkel und Sarkozy waren strikt dagegen. Am Ende kam es nicht zum MAP, aber zu einer Kompromiss-Formulierung, die den Beitritt der Ukraine zur NATO für die Zukunft vorsah (nicht nur zuließ). Auch mir war damals nicht ganz klar, dass auch dieser Kompromiss die roten Linien Moskaus überschritt.
Aber kurz darauf war es klar, als bewaffnete „kleine grüne Männchen“ auf der Krim auftauchten und wenig später die Krim von Russland annektiert wurde. Zugleich wurde die Ostukraine angegriffen (angeblich von Separatisten, aber von Anfang an steckte Russland dahinter!) – schon damals galt es, den Zugang über Mariupol zur Krim für Russland zu gewinnen, was aber erst 2022 gelang. Von 2014-2022 forderte dieser Krieg 13000 Tote.
Um den Konflikt einzugrenzen und möglichst zu beenden, kam es zum MINSK-Prozess. Es war eine eigenartige Konstellation, in der Russland als eine der Kriegsparteien gemeinsam mit Merkel und Sarkozy als Vermittler auftrat. Es war eine „nützliche Lüge“, um Russland an den Verhandlungstisch zu bekommen. Die Ukraine war damals nicht fähig einen größeren Angriff abzuwehren. Insofern hat Merkel recht, wenn sie meint, dass die Ukraine damit Zeit gewonnen habe. Aber dass Zeitgewinn und Stärkung der Ukraine das Ziel der Verhandlungen waren, erschließt sich mir nicht aus dem tatsächlichen Verlauf.
Es war richtig, in Bukarest den MAP zu verhindern. Weder die USA noch die NATO waren bereit, im Fall eines Angriffs selbst Krieg gegen Russland zu führen. Russlands war damals schon willens und fähig, die Ukraine zu destabilisieren, im Zweifel auch anzugreifen – was ja 2014 geschehen war. Wenn die Ukraine zu dieser Zeit NATO-Mitglied gewesen wäre, hätte Russland die Kriegsbereitschaft des Westens sicher auch getestet – und ohne eine kraftvolle militärische Antwort wäre die NATO nicht hirntot, sondern mausetot gewesen. Ich habe den Balten mehrmals gesagt, dass sie mit der Forderung nach dem Beitritt der Ukraine ihre eigene Sicherheit aufs Spiel setzten. Eine nicht reaktionswillige NATO konnte nicht glaubwürdig bleiben – und sie war für die Ukraine nicht bereit zum Krieg. Nicht aus Rücksicht auf Russland musste der MAP verhindert werden, sondern aus Rücksicht auf die Glaubwürdigkeit der NATO.
Nachdem Putin jetzt - wie Rüdiger von Fritsch es formulierte - das Schachbrett umgekippt hat - ist die Lage anders. Jetzt wäre ein NATO-Beitritt gut begründet - aber dazu muss Russland den Krieg verlieren. Präsident Trump hat den Trumpf allerdings bereits aus der Hand gegeben.
Die Szenarien des Planungsstabes des AA nach Putins Rede von 2007 mögen die Variante des imperial-autoritären Russland unterschätzt haben, aber die Auffassung Steinemeirs, dass so ein Szenario verhindert werden müsse, war völlig richtig. Die Frage war nur, wie das erreicht werden könnte. Wirtschaftliche Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeiten galten als hilfreich (sie hatten allerdings auch bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs nichts genützt) – das Angebot der „Modernisierungspartnerschaft“ war eigentlich eine Wiederauflage der Hilfsangebote der 90ger Jahre. Doch Putin und seine Kamarilla hatten längst ein anderes Bild von solchen Hilfen: das waren nichts anderes als Verschwörungen, um den Niedergang Russlands zu erreichen.
Mit Überraschung habe ich in dem Buch über die Ansätze einer militärischen Zusammenarbeit mit Russland bis hin zur Planung eines gemeinsamen Manövers relativ kurz vor der Krim-Annexion gelesen. Davon hatte ich noch nie etwas gehört. Warum hatte so ein skandalöser Vorgang nicht zu einem shitstorm in den Medien und im Parlament geführt?
Ein Warnzeichen war auch die Art, wie die russische Seite 2006 bei der Sitzung der "Strategischen Arbeitsgruppe" in Tomsk einerseits substanziell wenig anbot, vor allem die Unterzeichnung der europäischen Energiecharta klar zurückwies. Unsere Delegation wurde protokollarisch (und physisch beim Saunabesuch mit Massage) hervorragend betreut, aber der eigentlich im Programm vorgesehenen Besuch in der nahe bei Tomsk gelegenen Anlage zur Vernichtung von Chemiewaffen - bezahlt mit deutschen Steuergeldern - wurde auf Drängen des FSB abgesagt. Stattdessen gönnte man uns einen wunderschönen Ausflug in die sibirische Flusslandschaft wo unter strahlender Sonne der Schnee glitzerte. Allerdings kannte ich russische Sicherheitsstandards, so dass mir eigentlich gar nicht nach dem Besuch in der Chemieanlage zumute war.
Gloger/Mascolo sehen nach 2014 eine Kette von Fehlern in unserer Russlandpolitik, die Putin nicht gestoppt, sondern eher ermutigt hat. Die Sanktionen nach 2014 waren eher schwach und wurden ständig infragegestellt. Die deutsche Politik gehörte im europäischen Kontext gemeinsam mit Großbritannien eher zu den Befürwortern der Sanktionen, man war sogar überrascht, dass Merkel bereit war, wirtschaftliche Einbussen dafür hinzunehmen, wo doch Deutschland als merkantilistischer Opportunist galt. Die Bereitschaft mehr zu tun war 2014 weder innenpolitisch noch außenpolitisch durchsetzbar.
Aber wie die Autoren zu recht fragen: wäre das nicht der Moment gewesen, das Narrativ zu ändern und auf Sicherheit gegen Russland zu setzen, wenn es mit Russland offenbar nicht mehr ging? Die strategische Debatte wurde nicht geführt. Das 2%-Ziel der NATO wurde zerredet, die Wehrpflicht ausgesetzt (sie war in der damaligen Form aus Gründen der Wehrgerechtigkeit nicht zu halten - das muss zugunsten von Guttenberg gesagt sein). Was interessierte es, wenn hinten in der Ukraine die Völker aufeinander schlagen. Rüstungsexporte sollten nicht in Spannungsgebiete gehen (wohin denn sonst?) und die Bundeswehr wurde für Interventionen (am besten humanitär) in Übersee ausgestattet.
Russland wurde lästig, galt aber nicht als existenzielle Gefahr. Obama demütigte die Russen, indem er ihnen nur einen minderen Machtstatus zubilligte – immerhin einer atomaren Großmacht. Die Ukraine fiel ebenfalls lästig durch ihre Forderungen nach Militärhilfe anstatt endlich die endemische Korruption abzustellen.
Erst der Überfall vom Februar 2022 führte zur Zeitenwende – und auch diese wurde von Teilen der europäischen Wähler nicht nachvollzogen. Hier setzt eine massive russische Propagandakampagne an - bis hin zur Unterstützung extremistischer Parteien in ganz Europa auf der Linken, vor allem aber auf der Rechten.
Der Weg in den Krieg war nach 2014 vorgezeichnet. Wir trugen den Minsk-Prozess wie eine Monstranz vor uns her, setzten aber nichts durch – selbst eine leicht bewaffnete UN-Truppe wurde abgelehnt. Mich erinnerte das an die Politik in Bosnien vor dem amerikanischen Eingreifen. Schon zuvor waren die „eingefrorenen Konflikte“ in Moldau und Georgien einfach links liegen geblieben – niemand interessierte sich mehr dafür. Bis heute wird über Putins Kriegsziele gestritten, obwohl er es deutlich gesagt hat: er will die Ukraine als Staat beseitigen und die Ukrainer als Volk zu Russen machen (Klein-Russen: im wörtlichen Sinne klein zu halten) – und dann sehen wir weiter, denn die im Dezember 2021 überreichten Ultimaten an die USA und Europa zum Rückzug der NATO aus dem Osten sind ja noch nicht umgesetzt.
Russland betreibt eine Politik der Angstmache - gerade gegenüber Deutschland sind nukleare Drohungen wirksam. Aber auch wenn man darauf gelassen reagieren sollte, bleibt der nukleare Faktor bedrohlich. Es war sehr klug, dass Scholz und Biden mit der chinesischen Führung darüber gesprochen haben. Ein nukleares Szenario kann immer außer Kontrolle geraten - und ein nuklearer Winter würde auch China ruinieren. Europa wird das Thema strategisch debattieren müssen.
Putin ist Opportunist mit strategischer Geduld (die wir uns oft zu Unrecht zugutehalten, wir haben sie definitiv nicht), der auch Zwischenziele akzeptiert, aber das Endziel nicht aus dem Auge verliert. Aus seiner Sicht spielt die Zeit für Russland, dem schwachen Westen fehle die Resilienz, mit etwas Nachhilfe durch Desinformation, Propaganda und auch Sabotage werde die Bevölkerung die Regierungen zwingen, die Ukraine im Stich zu lassen – und die bisherigen Ukrainer, dann Neu-Russen, werden das Potentzial des Russischen Imperiums kräftig verstärken.
Aus dem Buch von Gloger/Mascolo kann man viel lernen, es zeigt auf, an welchen Bruchpunkteen eigentlich ein Umdenken nötig war – und doch nicht erfolgte, es zeigt, wie klare Signale nicht erkannt wurden und wie schwierig es ist den Konsens in Deutschland, Europa und der NATO angesichts des verbreiteten group-think zu finden. Ein lesenswertes Buch.