Der Rübezahl vom Schüchthof 3


Leo und Dana, die Kinder der Schüchthofbewohner, haben das Abi erfolgreich, mit Bestnoten, abgeschlossen und studieren Agrarwirtschaft. Während Leo seinen Schwerpunkt auf Verwaltung legt, widmet sich Dana besonders der Tierhaltung. Wenn sie an freien Wochenenden zum Hof zurückkehren, arbeiten sie mit, als wären sie nie fort gewesen.

„In der Theorie klingt ja einiges gut“, verrieten sie dann stets, „nur in unserer Praxis ist es selten umsetzbar.“

„Jetzt kann ich bestens verstehen, warum Vater nicht mehr in der industriellen Tierhaltung arbeiten wollte“, gab Dana zu. „Da sträubt sich einem wirklich das Gefieder.“ Und fügte an: „Ja, klar habe ich vorher Filme davon auf YouTube gesehen, aber selbst mittendrin zu stehen, wie vergangene Woche, ist was anderes.“

Leo nickte. „Mit jedem neuen Tag festigt sich meine Überzeugung mehr, dass unser Hof genau so erhalten bleiben muss, selbst wenn dafür Museumsstatus nötig wäre.“

Urs, Leos Vater, der Herr des Hofes, sowie über Grund und Boden, horchte auf. „Ein interessanter Gedanke, falls irgendwann mal alle Stränge reißen.“

Mutter Mina nickte. Leos Anregung hatte Potenzial.

Danas Eltern, Peter und Grit, strahlten über das ganze Gesicht. Ja, sie wussten sehr genau, warum sie damals die Gelegenheit am Schopf gepackt hatten, für Urs und Mina arbeiten zu können. Und seit die Kinder geheiratet hatten, war klar, dass alles in der Familie blieb, und es machte noch mehr Freude, mit Herzblut an jedes Detail zu gehen.

Heute, nach dem Abendbrot, saßen sie gemütlich vorm Haus der Schüchts, tranken Wein und ließen den lieben Gott einfach einen guten Mann sein.

Urs blinzelte vergnügt in die Runde. „Ich habe einen Plan!“ Das meinte er wörtlich, denn er zog ein mehrfach gefaltetes Blatt aus der Hosentasche und legte es mitten auf den Tisch.

Leo warf einen kurzen Blick darauf. „Oho, schau mal Dana! Sieht aus wie unser zukünftiges Häuschen!“

„Richtig“, schmunzelte Urs. „Dass ihr es brauchen werdet und wo es stehen soll, ist ja schon lange festgemacht. Ich möchte es fertig haben, wenn ihr das Studium beendet. Also müssen wir dringend die Aufteilung der Räume absprechen.“

Leo nahm Danas Hand. „Darüber haben wir auch schon beraten und sind zu dem Entschluss gekommen, es genau so haben zu wollen, wie euer Haus eingeteilt ist. Das erscheint uns in allem perfekt.“

„Mit Außentreppe zu den Gästezimmern“, fügte Dana hinzu, weil diese auf der Zeichnung fehlte.

„Geht klar!“, versprach Mina. „Das hat Urs genau so vorhergesagt und lässt sich einarbeiten.“

Dana seufzte. „Ich habe immer noch Probleme, alle einfach mit dem Vornamen auszusprechen, ohne Tante und Onkel.“

„Auch das hat er vorausgesagt“, lachte Mina.

„Die Bremers haben übrigens ihr Land verkauft und sind weggezogen“, berichtete Urs.

Dana überlief ein eisiger Schauer. Sie fasste unbewusst an ihren Hals, worauf Leo sie ganz fest in den Arm nahm. „Der sitzt noch lange ein“, versuchte er, sie zu beruhigen, und fragte sofort: „Hat es ein Fremder genommen?“

Urs grinste breit. „Nein, diesmal war eine Einheimische schneller.“

„Einheimische?“, schnappte Leo sofort. „Wer?“

„Pöhlers Lisa“, verriet Urs und fügte hinzu: „Mina hat ihr wegen eines Kredits unter die Arme gegriffen. Wir sind sicher, dass das Geld in unserem Sinn arbeitet. Ihr Vater ist fast aus allen Wolken gefallen.“

„Ha, ha, das glaube ich unbesehen“, lachte Leo. „Dem großen Rest der Gemeinde wird es ähnlich gegangen sein.“

„Darauf kannst du getrost wetten“, kicherte Mina. „Zumal sie keiner auf dem Zettel hatte, weil alle dachten, sie übernähme mal den elterlichen Hof. Es war nicht schwer, mit ihr zu konspirieren. Andreas musste nicht mal irgendwelche Fäden im Hintergrund ziehen. Wir haben den Sieg im Handstreich errungen.“

„Ansonsten ist alles wie gehabt. Bauer Pöhler hat seiner Rinder weiterhin bei uns stehen“, verriet Urs noch. „Er hat jetzt die halbe Herde durch Schottische Hochlandrinder ersetzt und schwört, wie wir, auf Spezialitäten auf Milchbasis. Für Rohmilch gibt es ja eh nicht viel Geld. Auch hat er ganz schnell gemerkt, wie gut man es herausschmecken kann, wenn Kräuter im Futter sind.“

„Und die Geologen?“ Leo deutete den Hang hinauf.

Urs winkte ab. „Sie messen, prüfen und wundern sich. Wenn es nach ihren Theorien ginge, wäre die andere Talseite wohl schon weites ebenes Land.“

„Na prima“, schnaufte Leo.

„Was sagst du zu dem Problem?“, wandte sich Dana leise an Urs.

„Ich bin besorgt, aber nicht panisch. Deswegen sind wir auch schon dabei, einen neuen Steg auf die andere Talseite zu bauen.“

Dana nickte lächelnd. „Das beruhigt mich.“

„Es gibt noch was Neues“, warf Mina plötzlich ein. „Walter aus dem Sägewerk hat das Haus von Anton und Marianne gekauft. Sie sind in eine geräumige altersgerechte Wohnung am Park gezogen, denn Anton plagen seit einigen Wochen diverse Wehwehchen, die er nicht mehr schönreden kann. Kinder haben die beiden nicht und so sprachen sie Walter direkt an.“

„Aber die Nachbarn dort sind dieselben geblieben“, fügte Urs grinsend hinzu, worauf alle in Gelächter ausbrachen.

Sie konnten sich bestens vorstellen, dass diese gleich am Fenster geschlafen hatten, um bloß nichts von den Umzügen der alten und neuen Bewohner zu verpassen.

Ein Jaulton von der Weide, wie ihn Obelix, der Bernhardiner, noch nie von sich gegeben hatte, ließ alle erschreckt aufspringen. So schnell sie konnten, eilten sie zum Ort des Geschehens, wo sie geschockt stehenblieben. Sepp, der treue Esel, lag regungslos im Gras. Obelix stieß ihn verzweifelt mit der Nase an, um ihn zum Aufstehen zu bewegen.

Urs fühlte nach dem Puls an der Halsschlagader und schüttelte stumm den Kopf. Dann nahm er den Hund in den Arm. „Sepp kommt nicht wieder. Er ist auf dem Weg in den Eselhimmel.“

Mit Tränen in den Augen umringten sie Sepp, der als Einziger noch von den ersten Bewohnern des Hofes übrig und den Frauen ein unentbehrlicher Helfer gewesen war.

„Ich bringe ihn in die Tierkörperverwertung“, murmelte Urs nach einem kurzen Blick auf die Uhr, den Traktor mit der Kippmulde holend, um den Kadaver auf den Hänger laden zu können.

Peter half ihm und ein paar Minuten später begleitete Urs den Esel auf seinem allerletzten Weg. Mina sah man an, dass ihr dieser Verlust sehr an die Nieren ging.

„Ich brüh dir einen Beruhigungstee“, seufzte Dana, sofort den Worten Taten folgen lassend.

Obelix hatte den Traktor bis hinter die Schranke verfolgt. Da saß er nun wie eine Statue. Als endlich wieder Leben in ihn kam, waren fast zwei Stunden um. Dem Schwanzwedeln nach, schien ein bekanntes Fahrzeug die Serpentinenstraße herauf zu kommen.

„Das könnte Urs sein“, meinte Leo, worauf sich alle zu Obelix gesellten.

Die anderen Hütehunde blieben bei den Herden. Es reichte, wenn einer von ihnen die Straße mit im Auge behielt.

„Er ist es wirklich“, freute sich Mina, dem Traktor erwartungsvoll entgegenschauend. „Warum hat er das Netz, statt der Plane, überm Hänger?“, überlegte sie laut und sehr irritiert.

„Wirklich merkwürdig“, pflichtete Peter bei. „Hätte er ihn nicht abgeben können, wäre die Plane auf jeden Fall angebrachter.“

„Puhhhh, das stinkt! So schnell kann ein Kadaver selbst bei Hitze nicht verwesen!“, rief Dana, sich die Nase zuhaltend.

Auch Grit überkam heftiger Brechreiz. Irgendetwas auf dem Hänger stank erbärmlich, dagegen war der Geruch der ganzen Ziegenherde fast Parfüm.

Urs fuhr mit dem Hänger rückwärts bis in den Schafstall und sie eilten ihm geschlossen nach, um des Rätsels Lösung zu erfahren. Allen voran Mina. Sie spähte über die Bordwand und bekam riesengroße Augen.

„Sag hallo, zu deinem neuen Haustier!“, sprach Urs den Satz, den sie damals gebraucht hatte, als sie mit Sepp vom Einkaufen zurückgekommen war.

Auf der Ladefläche lag ein junges Eselchen, mehr tot als lebendig, völlig verwahrlost, mit übel riechenden Wunden übersät und bis auf die Knochen abgemagert.

„Ach herrje!“, staunte Leo.

Gemeinsam machten sich die Männer daran, den Neuling vom Hänger zu heben.

Urs berichtete: „Den hat wenige Minuten vor mir einer einfach auf den Hof der Tierkörperverwertung geschüttet und ist verschwunden. Die Arbeiter der Anlage standen völlig ratlos um das Häufchen Elend, als ich ankam. Ich habe gesagt: Kümmert ihr euch um meinen toten Esel, ich werde für den noch lebenden sorgen. Sie haben Sepp zum Nulltarif angenommen, weil sie froh waren, wegen des kleinen Stinkers keine Meldung machen zu müssen. Den hat es dort nie gegeben. Punkt.“

Dana füllte rasch eine Schüssel mit Wasser und half dem Esel, den Kopf zu heben. Gierig sog er das köstliche Nass ein. Mina und Grit bereiteten einen großen Eimer desinfizierenden Kräutersud, mit dem sie den ganzen geschundenen Körper gründlich abwuschen. In einigen offenen Wunden tummelten sich schon Fliegenmaden. Dann trug Mina dick Blauspray auf. Das untergelegte Stroh entsorgten sie sofort auf dem Misthaufen. Leo mixte aus Haferflocken und gehäckseltem Grünzeug eine leichte Kost, die das halb verhungerte Tier mit dankbar leuchtenden Augen verspeiste.

Obelix begann, dem Eselchen die Nase abzuschlecken, und wedelte fröhlich mit dem Schwanz, als sich der Kleine schutzsuchend ankuschelte.

„Bestens!“, strahlte Urs. „Jetzt glaube ich ganz fest daran, dass wir den Esel durchbringen.“

„Und wieder einmal war Rübezahl zur rechten Zeit am rechten Ort“, freute sich Mina. „Wie alt wird er sein?“

Urs zuckte mit den Schultern. „Bestenfalls ein viertel Jahr, haben sie in der Tierkörperverwertung gesagt. Das will erst mal ein Esel werden.“

Eine halbe Stunde später versuchte der Kleine, aufzustehen. Leo half ein bisschen nach und auch Obelix ermunterte das Eselchen, indem er es mit der Nase anstupste.

„Das erinnert mich an Struppi und die Katzenbande“, blinzelte Urs vergnügt. „Sieht ganz so aus, als habe Obelix das Seppelchen vom Fleck weg adoptiert.“

„Seppel, hm ... warum eigentlich nicht?“, überlegte Leo laut. „Eine Hommage an den großen Sepp.“

„Passt perfekt“, sagte Mina lächelnd, dem Neuzugang liebvoll das Köpfchen kraulend.

Als sich der kleine Esel ins Heu legte, weil Stehen doch noch zu anstrengend war, packte sich Obelix daneben. Seppel kuschelte sich ganz eng an seinen Hundepapa und schlief ein.

„Hat jemand Bilder gemacht?“, fragte Grit.

Mina lachte: „Klar doch! Dabei bin ich froh, dass man Gerüche nicht mit übertragen kann. Aber bei dem mit Fäkalien und Eiter verklebten Fell können sich die anderen denken, wie es gerochen haben muss, bevor er seine Ganzkörperwäsche bekam. Zumal er im Augenblick mehr blau als grau aussieht. Ich habe noch nie, ein derart vernachlässigtes Tier vor die Augen bekommen, und wir sind hier einiges gewöhnt.“

Andreas, Minas Bruder, war der Erste, der die Abendnachrichten mit Daumen nach oben quittierte. Einen Wimpernschlag später klingelte auch schon Minas Handy. „Da hat doch Rübezahl wieder mal genau gewusst, wo seine Hilfe am dringendsten gebraucht wird“, rief er, als er die ganze Geschichte erfahren hatte. „Ich bringe am Freitag für Obelix einen extra großen Kauknochen mit. Den hat er sich verdient!“

Alle lachten, denn es war abzusehen gewesen, dass Andreas umgehend erscheinen werde. Dana steckte schon wieder im Stall. Sie hatte ein wenig frischgemolkene warme Ziegenmilch zu Seppel gebracht, der diese in langen Zügen trank. Obelix bekam ein paar Leckerli. Die anderen Hunde hatten sich Seppel auch schon vorgestellt, wobei der Bernhardiner mit Argusaugen darüber wachte, dass keiner seinem Schützling zu nahe kam. Er jagte sogar zwei vorwitzige Hühner weg, die sich bis auf einen Meter herangewagt hatten.

„Alles bestens“, verkündete Dana, sich wieder mit an den Tisch setzend. „Ziegenmilch scheint er zu mögen. Damit kriegen wir ihn sicher schnell wieder richtig auf die winzigen Hufe.“

Nicht mal bei diesem Stichwort wurde Mina stutzig. Sie vergaß völlig, Sepps Huftrimmer abzubestellen. Der stand zwei Tage später vor der Tür und fragte grinsend, ob man Sepp mit einem Paar Jeans zu heiß gewaschen habe, weil er plötzlich so winzig und ganz blau sei.

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