Rezitationen

Mögen alle Wesen glücklich sein!

Wie alle buddhistischen Schulen kennt die Sati-Zen-Sangha verschiedene Rezitationen, die regelmässig gelesen, teilweise auch gesungen werden. Seit vielen Jahren bemühen wir uns darum, die oft in Pali, Sanskrit, Chinesisch und anderen Sprachen vorliegenden Texte auf Deutsch zu übertragen und sie auch in unserer Sprache zu rezitieren bzw. zu singen. Dies ganz bewusst als Ergänzung zu Texten in Originalsprache.

Natürlich ist klar, dass z. B. ein japanisch rezitiertes Herz-Sutra oder ein traditioneller Sanskrit-Gesang auf viele eine geradezu magische Wirkung ausüben durch die Kombination von Melodie, Wortklang, Rhythmus und Umfeld, in dem eine Rezitation stattfindet. Manche schreiben den Lauten allein schon magische Kraft zu, andere betonen die Kraft und Dynamik von Rezitationen in einer Gruppe. Wie auch immer die besondere Wirkung zustande kommt: Rezitationen haben die Kraft, unser Herz zu berühren. Da viele Praktizierende im Westen die Texte in der Originalsprache nicht verstehen, sind die zuweilen langen Rezitationen wie etwa des Herz-Sutras auch eine Konzentrationsübung und als solche eine ebenso herausfordernde wie unterstützende meditative Praxis.

Gleichzeitig geht es uns auch darum, dass die Texte inhaltlich nachvollzogen werden können. Gerade weil manche Texte nicht leicht verständlich sind, kommt es oft zu Missverständnissen, wenn Übersetzungen und Erläuterungen fehlen. Wir führen hier einige Beispiele von täglichen Rezitationen der Sati-Zen-Sangha auf, ergänzt mit kurzen Erläuterungen.

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Zuflucht und Bodhicitta

Zu Buddha, Dharma und Sangha

nehme ich meine Zuflucht.

Mögen wir durch die Praxis von

Grosszügigkeit, ethischem Handeln, Geduld,
Tatkraft, Meditation und Weisheit

zum Wohle aller Wesen

die Buddhaschaft verwirklichen.

Die Zuflucht haben wir bereits ausführlich erläutert, ebenso die sechs Paramita, die Übungen der Vollkommenheit, deren Früchte allen Wesen zugutekommen. Unter dem Verwirklichen der Buddhaschaft verstehen wir, unser innewohnendes Potential, unsere wahre Natur zu verwirklichen, die sich in Verstehen und Mitgefühl ausdrückt. An alle lebenden Wesen zu denken und den Weg im Bewusstsein zu gehen, dass wir mit allen verbunden sind und allen wünschen, echte Freiheit zu erlangen, nennen wir Bodhicitta.

Wir lesen diesen Text im Haus Tao am Morgen vor dem ersten formellen Sitzen und richten den Geist damit bewusst auf Weg und Ziel der Praxis aus.

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Widmung der Verdienste

Mögen durch die Früchte meiner Praxis

alle Wesen tiefes Verstehen

und Mitgefühl erlangen

und alle Formen von Gier, Aversion

und Unwissenheit

in ihrer leeren Natur erkennen.

Mögen wir alle Wesen

aus dem Ozean des Leidens befreien

und zu wahrem Glück führen.

Dieser Text wird am Abend vor der letzten gemeinsamen Meditation gelesen. Wir erinnern uns zum Abschluss des Tages gezielt daran, dass Freiheit und Glück nicht individuell, zum Eigenwohl verwirklicht werden (können), sondern immer gemeinsam und für das Wohl aller. Da alles wechselseitig miteinander verbunden ist, erweisen die Früchte oder "Verdienste" unserer Praxis sich nicht allein für uns selber als unterstützend, sondern wirken sich immer unmittelbar auch auf unser Umfeld, auf "alle Wesen" aus. Da dies genauso für die Wirkungen unheilsamer Gedanken, Worte und Taten gilt, ist es umso wichtiger, heilsames Denken, Reden und Handeln zu kultivieren.

Formulierungen wie "die Früchte meiner Praxis" und "möge ich alle Wesen aus dem Ozean des Leidens befreien" scheinen auf den ersten Blick im Widerspruch zum eben Ausgeführten zu stehen. In der aktuellen Version dieser Rezitation verwenden wir deshalb abwechselnd beide Formen: "die Früchte meiner Praxis" bzw. "mögen wir alle Wesen...". Damit wird die Künstlichkeit der Abgrenzung von "Ich" und "Wir" verdeutlicht.

In welcher Formulierung auch immer: Grundlegend geht es auch bei dieser Rezitation um Bodhicitta, den tiefen Wunsch, unsere Wahre Natur, die Natur unseres Herz-Geistes zu erkennen und uns nicht primär auf uns selbst, sondern auf die Einsicht in das vollkommene Verwobensein mit allem auszurichten. Es geht dabei um eine heilsame Motivation, um eine Ausrichtung auf das Wohl aller, ohne den Anspruch zu haben bzw. die geradezu magische Vorstellung zu hegen, dass wir in der Lage seien, "alle Wesen zu erlösen". Dennoch setzen wir uns im Alltagsleben tatkräftig und verantwortungsbewusst für ein gutes Miteinander ein. Damit bringt diese Rezitation die relative und die absolute Sichtweise in Einklang.

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Gabe an die hungrigen Geister

Euch unerlösten Geistern,

von Hunger und Durst gequält,

reichen wir diese Nahrung.

Möge euer Verlangen gestillt sein.

Möge sich euer Leiden vermindern.

Mögen alle Wesen zu ihrer wahren Natur erwachen.

Diesen Vers lesen wir an unseren Retreats täglich vor dem zeremoniellen Frühstück im Zendo. Wenn allen Getreidebrei geschöpft worden ist, gibt jede Person einen kleinen Anteil des Breis als Gabe in eine kleine Schale. Im Anschluss an das Frühstück wird diese Gabe den Tieren im Garten bereitgestellt. Dieses kleine Ritual ist eine Form der Praxis von Grosszügigkeit (dana paramita) und kultiviert unsere Bereitschaft zu teilen. Manche Leute meinten schon irrtümlich oder auch humorvoll, dass wir damit einer Form des Animismus anhängen und an Geister glauben... Nun ja, wer weiss, vielleicht gibt es sie ja auch, die für unsere Augen unsichtbaren Wesen - in unserem Zusammenhang reden wir hier allerdings von den hungrigen Anteilen in unserem eigenen Geist, der nur allzu oft gierig ist und sich kaum sättigen lässt. Die Zerstörungskraft unserer menschlichen Gier manifestiert sich, wie wir im Grossen wie im Kleinen sehen können, in unendlichen leidvollen Formen. Mit dem kleinen Ritual tragen wir dem mit unserem Wunsch und unserer Praxis Rechnung: Mögen wir mit diesen Kräften im eigenen Geist in Frieden kommen und zu unserer Wahren Natur erwachen!

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Die Vier Grossen Gelübde - Die Bodhisattva-Gelübde

Die Wesen sind ohne Zahl - ich gelobe, vereint mit ihnen zu erwachen.

Die Illusionen sind unerschöpflich - ich gelobe sie alle zu durchschauen.

Der Dharma-Tore sind unendlich viele - ich gelobe, sie alle zu durchschreiten*.

Der Weg des Erwachten ist unübertrefflich - ich gelobe, mit ihm eins zu werden.


Das traditionelle Bodhisattva-Gelübe ist ein zentraler Text im Mahayana-Buddhismus, zu dem auch Chan und Zen gehören. Die Befreiung aller Wesen wird hier wie in den vorangehenden Texten besonders betont, wobei auch die Vier Grossen Gelübde die relative Sicht und die absolute Sicht zusammenbringen: Wir stärken durch eine heilsame Absicht die grosse Motivation, allen Wesen zu dienen und alle Illusionen zu durchschauen - und wissen gleichzeitig, dass es aus absoluter Sicht niemanden und nichts zu retten gibt und grundlegend alles bereits in Frieden ist. Die Gelübde klingen entsprechend paradox. Die grosse Motivation ist wie ausgeführt immer als Nordstern zu verstehen, der uns leitet und die Richtung weist. Es geht niemals um einen sich selbst überschätzenden Anspruch, das Unmögliche möglich zu machen - und doch mit weisem Mitgefühl bestmöglich zu handeln.

*Vgl. dazu auch: Upaya - Übungswege