Titel und Weihen

Relative Wirklichkeiten

Im Bild oben schaut Hotei in den Spiegel und manche wähnen, er gähne dabei nur. Vielleicht betrachtet er auch sich selbst. Sähe er dabei jedoch nur sein individuelles Selbst, wäre er kein Sinnbild für Buddha Maitreya (vgl. Symbole im Garten: Hotei). Dann wäre auch er lediglich in weltlichen Gedanken über sich selber gefangen. Doch Hotei sieht staunend seine wahre Natur, die Buddha-Natur.

Das relative, individuelle Selbst, das wir im Lauf des Lebens konstruiert haben und in gewissem Ausmass laufend weiter anpassen, stellt für jeden und jede von uns eine wichtige Funktion dar. Ohne es zu kennen und gut für unser Wohlbefinden zu sorgen, entstehen Probleme bis hin zu leidvollen Krankheiten. Nur auf der Basis eines gut verankerten relativen Selbst können wir es uns erlauben, unsere Selbst-Konstrukte zu erforschen. Und es zulassen, so wir auf dem spirituellen Weg fortschreiten, dass unser relatives Selbst und unser individuelles Wollen allmählich in den Hintergrund rückt, ohne dass wir es dabei vollends vergessen oder gar verleugnen. Aus der grossen oder absoluten Sicht der Dinge brauchen wir keine Titel und Würden. Aus relativer Sicht ist es hingegen weiterhin gut zu wissen, ob uns eine Chefärztin oder ein Chefarzt am Herzen operiert; einer dafür nicht entsprechend ausgebildeten Person würden wir uns aus gutem Grund nicht anvertrauen.

Chan-Meister Linji (jap. Rinzai) sprach vom "wahren Menschen ohne Rang und Namen" und wies damit auf die absolute Sicht hin. Im Lauf der Praxis lernen wir, klar zu unterscheiden, von welcher Sicht wir gerade reden.

Ohne Titel - ohne Kittel

"Titel und Kittel" (= Roben) können unser Ego aufblähen - genauso gut können wir sie zur Schulung unseres eigenen Geistes verwenden. Wir haben darüber bereits ausführlich gesprochen (vgl. Rakusu-Praxis). Ob wir einem Menschen, der einen Praxisweg geht, Respekt zollen oder, sofern wir selber eine Robe tragen, erwarten, dass andere uns selber diesen Respekt entgegenbringen: Es ist und bleibt Teil unserer Praxis. Wir ergründen, wie unser eigener Geist reagiert, wenn wir jemandem mit "Titel oder Kittel" begegnen oder selber solche tragen. Die Übung, nach einem Dharma-Vortrag oder der formellen Meditation aufzustehen und zuerst unseren Roshi hinausgehen zu lassen, so dass er sich nicht durch das Gewusel der ihre Matte versorgenden Meditierenden manövrieren muss, ist eine Übung dieser Form von Respekt. Sie kann bei manchen grossen Widerstand auslösen (vgl. dazu die Geschichte in Form und Leerheit) und bietet damit die Möglichkeit zu einer erweiterten Praxis auch in einer Tradition wie der Sati-Zen-Sangha, die "Kittel und Titel" nur sehr gezielt und mit Mass einsetzt. Erst wenn wir die Tiefe der Leerheit verstehen, können wir mit der Form in Freiheit umgehen - also ohne sie weit von uns zu weisen oder an ihr zu haften.

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Titel und Weihen in der Sati-Zen-Sangha

Hier geben wir einen kleinen Überblick über den Gebrauch der Titel und Begriffe Dharmacharya, Roshi und Unsui, die in der Sati-Zen-Sangha und in anderen Traditionen gebräuchlich sind, und bleiben uns dabei wie ausgeführt bewusst, dass sie sehr relativ sind. Gleichzeitig können Titel, wie alles Relative, geschickt eingesetzt der Orientierung dienen und hilfreich sein für die Praxis.

Dharmacharya (m/f)
(Lehrer, Lehrerin des Dharma). Zum Begriff arya* vgl. unten: Ergänzungen.

Der Titel wird unterschiedlich gebraucht. In Burma z. B. ist ein Dharmacharya ein Mönch, der ein universitäres Studium des Tripitaka abgeschlossen hat. In der Tradition von Thich Nhat Hanh und im Sati-Zen ist ein bzw. eine Dharmacharya ein autorisierter Lehrer, eine autorisierte Lehrerin des Dharma (vgl. unten: Dharma-Übertragung im Sati-Zen). Wenn wir über die Art der Beziehung Lehrer-Schüler bzw. Lehrerin-Schülerin sprechen, so verwenden wir auch den Begriff Kalianamitra, im Sinn von spiritueller Freundschaft, wie im vorhergehenden Kapitel beschrieben. Wir betonten damit den Unterschied zwischen weltlicher und spiritueller Freundschaft und stellen den Aspekt ins Zentrum, dass es sich um die Funktion eines vorausgegangenen, also wegkundigen Gefährten bzw. einer inspirierenden, erfahrenen Gefährtin in Bezug auf die Dharma-Praxis handelt.

Roshi (m/f)
(jap.; chin.: 老師, lǎo-shī; vietnam.: Lão sư; „alter Meister"). Bezeichnung für einen Zen-Meister, eine Zen-Meisterin.

Der Begriff wird in den japanischen Zen-Schulen sehr unterschiedlich gebraucht. Jiho Sargent, eine amerikanische Soto-Zen-Priesterin, die während vieler Jahre einen Tempel in Tokio leitete, sagte dazu:
Die Bezeichnung Roshi, wörtlich "alter Lehrer" oder "alter Meister", wird ganz unterschiedlich gebraucht, je nachdem, welcher Schule der damit bezeichnete Geistliche angehört.
In der Sotoshu [= Soto-Schule] ist das einfach eine Respektsbezeichnung, mit der keine besondere Bedeutung verbunden ist. Jeder Sotoshu-Geistliche jenseits des Schülerstadiums kann korrekt als "Roshi" angesprochen oder bezeichnet werden. In der Sotoshu ist Roshi praktisch ein Begriff für jeden Geistlichen, dessen andere Titel einem gerade nicht einfallen.
In der Rinzai-Schule ist Roshi ein eindeutig definierter Rang des Klerus. Die Person mit diesem Rang muss die in der jeweiligen Schule erforderliche Ausbildung abgeschlossen haben.
Aus: Jiho Sargent, Zen - was ist das? 108 Antworten. O. W. Barth Verlag 2004.

Da wir keiner japanischen Schule angehören, sind wir bezüglich der Titel unabhängig. Im Sati-Zen verwenden wir die Begriffe Zen-Meister, Zen-Meisterin und Roshi synonym im Sinn eines langjährigen, erfahrenen Lehrers, einer langjährigen, erfahrenen Lehrerin.

Zu den Zusammenhängen der Begriffe Dharmacharya und Roshi in unserer Traditionslinie siehe weiter unten: Dharma-Übertragung im Sati-Zen.


Unsui (m/f)
(jap.; 雲水) bedeutet "Wolke und Wasser" und ist eine Abkürzung für kounryusui (jap.; 行雲流水), "ziehende Wolken, fliessendes Wasser" - gleichmütig und nirgends verweilend, wie Wolken und Wasser. Die ins Deutsche übersetzten Begriffe Zen-Mönch, Zen-Nonne und Zen-Priester, Zen-Priesterin sind genauso möglich und ebenso erklärungsbedürftig wie Unsui.

Traditionell wird mit Unsui häufig ein Novize oder ein Zen-Mönch, eine Novizin oder Zen-Nonne auf Wanderschaft und auf der Suche nach einem festen Kloster bezeichnet. Im Oxford Dictionary of Buddhism steht: Ch'an or zen monks who, having achieved enlightenment (satori) after an initial period of training under their first master, take to the road in search of other masters. This is done in order to either test their awakening against them or deepen it with them. The term refers to their lack of a fixed abode.

Wir verwenden den Begriff Unsui im Sati-Zen für Übende, die ihr ganzes Leben dem Weg der Befreiung widmen, um den Geist von ziehenden Wolken und fliessendem Wasser zu verwirklichen. Diese Übenden wählen die Form des Zen-Mönchs, der Zen-Nonne als Lebensweise. Sie haben sich für die Schulung unter der Leitung des Lehrers, der Lehrerin entschieden und gestalten die Praxis nicht allein nach eigenem Gutdünken (siehe Lehrer-Schüler). Der Geist der bzw. des Unsui soll zeitlebens ein Geist echter Freiheit sein, jenseits von festen Vorstellungen und Eigendünkel. Auch dies ist als geistige Ausrichtung, als Nordstern zu verstehen und nicht als Zeichen der Hierarchie. Im Sati-Zen suchen wir als Unsui nicht nach einem neuen Meister, einer neuen Meisterin, sondern lernen, alle Situationen auf unserem Lebensweg als Lernfeld zu sehen - sie sind ein kontinuierlicher Test unserer Verwirklichung. "In die Hauslosigkeit gehen" heisst für uns auch nicht primär, auf Wanderschaft zu gehen, sondern die gewohnte (geistige) "Umgebung" immer wieder zu überprüfen und wenn nötig zu verlassen, unsere Zuflucht also immer wieder gezielt in die Drei Juwelen zu nehmen. Wir geben uns zudem auch äusserlich als Zen-Mönch und Zen-Nonne zu erkennen (vgl. Rakusu-Praxis). "Hauslosigkeit" wird damit zu einer inneren Ausrichtung und zu einer äusseren Lebenshaltung.

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Dharma-Übertragung im Sati-Zen

Die Schulung im Zen erfolgt traditionell bei einem Zen-Meister oder einer Zen-Meisterin (Roshi) bzw. einem gut ausgebildeten Lehrer, einer kompetenten Lehrerin. Eine solch gezielte Schulung umfasst in der Regel viele Jahre der Übung und des Lernens mit dem Meister, der Meisterin. Um selber als Dharma-Lehrer bzw. Dharma-Lehrerin autorisiert zu werden, ist ein gewisser Grad der Einsicht in die Leerheit erforderlich. Mit dem Siegel der Bestätigung anerkennt ein Zen-Meister bzw. eine Zen-Meisterin einen Schüler, eine Schülerin als Nachfolger bzw. Nachfolgerin. Diese Zeremonie nennt man auch Übertragung des Lichts. Die Dharma-Übertragung bestätigt eine gewisse Tiefe im Verständnis und in der Umsetzung des Dharma (vgl. Lehren). Damit verbunden ist die Erlaubnis und Verpflichtung, selbst zu lehren und später auch eigene Dharma-Nachfolger zu bestimmen.

Thich Nhat Hanh übergab Marcel im August 1994 das Licht der Übertragung mit den Worten: "Dieses Licht wurde uns von Buddha überreicht und wurde über viele Generationen von Lehrern weitergegeben. Nun wird es dir anvertraut! Bitte nimm es und halte es lebendig zum Wohl der gegenwärtigen Generation und der vielen Generationen, die noch kommen! Es ist nun deine Aufgabe, dieses Licht der nächsten Generation weiterzugeben." Das Lehrgedicht von Thich Nhat Hanh zur Autorisation von Marcel findest du hier.

Thich Nhat Hanh wird öffentlich meist als Dhyana-Meister bezeichnet (Skt.: dhyana; Meditation). Marcel erhielt bei der Autorisation durch Thich Nhat Hanh den Titel Dharmacharya. Der Zusammenhang der beiden Begriffe Dharmacharya und Roshi in unserer Traditionslinie wird anhand einer kleinen Geschichte deutlich: 1994 erklärte Thich Nhat Hanh Marcel, dass der Titel Dharmacharya gleichbedeutend mit dem japanischen Begriff Roshi oder dem thailändischen Begriff Ajahn sei. Darauf sagte Marcel: "Dann darf ich dich also Roshi nennen!?" Thich Nhat Hanh lächelte verschmitzt und meinte: "Nenne mich lieber ‘Grossvater meiner Schüler’. Roshi ist ja nicht nur ein Lob, heisst es ja nur ‘alter Meister.‘" "Grossvater meiner Schüler" ist ein wunderbarer Begriff, da er den Fortgang der Generationen andeutet.

Als Marcel 2012 drei Nachfolgern die Autorisation des Lehrens gab und sie damit Dharmacharyas wurden (vgl. Geschichte der Sati-Zen-Sangha), wünschten diese, ihn als ihren Lehrer aus Respekt von nun an Roshi nennen zu dürfen. Anhand dieser beiden Beispiele wird ersichtlich, dass wir im Sati-Zen mit diesen Begriffen in freier Weise umgehen.

Auch weitere Anleitungen bezüglich der Verwendung von Titeln innerhalb unserer Traditionslinie gehen auf Thich Nhat Hanh zurück. Im Gespräch mit Marcel erläuterte Thich Nhat Hanh auch den Titel Upadhyaya, der nach 10 Jahren quasi honoris causa getragen wird und bedeutet, dass ein Dharmacharya, eine Dharmacharya nun selbst Dharmacharyas ernennen kann.

Seit langem vertritt Thich Nhat Hanh zudem die Ansicht, dass nicht ein einziges Individuum allein sein Nachfolger wird, sondern die ganze praktizierende Gemeinschaft.

Vgl. auch:

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Ergänzungen

*Ariya (Skt.) bedeutet wörtlich "nobel, ideal" und wird im Frühen Buddhismus häufig verwendet. So heisst der Edle Achtfache Pfad etwa arya astanga marga und im Zusammenhang mit der Zuflucht sprechen wir von der Edlen Gemeinschaft, der arya sangha. Ein oder eine Ariya ist also "a Noble One", eine edle Vertreterin, ein edler Vertreter des Buddha. Der Begriff ist durch den Nationalsozialismus schwer missbraucht worden. Die Arier, auf die sich der Nationalsozialismus zur Begründung seiner Rassenideologie berief, waren eigentlich eine hellhäutige Volksgruppe, die vor rund 4000 Jahren aus dem Norden nach Indien eingewandert waren, die dortige Urbevölkerung, die eine dunklere Hautfarbe aufwies als sie selber, unterwarfen und das Kastensystem einführten. Diese hellhäutigen Arier (es gibt heute noch einige Dörfer von Ariern im Ladakh, Indien) waren keineswegs blond, was exemplarisch verdeutlicht, dass der Begriff Arier gezielt für eigene Zwecke missbraucht wurde.

Der Begriff Acharya wird in Indien heute noch für Lehrer, Lehrerin oder Guru verwendet.

**Dharmacharya-Weihe in Plum Village (heute): Ende der 1990er-Jahre hat Thich Nhat Hanh im Zug der Heraushebung der monastischen Sangha die Bedeutung des Titels Dharmacharya neu definiert und inhaltlich herabgesetzt. Bei zu Dharmacharyas geweihten Laien stand später: Dharmalehrer, Dharmalehrerin mit eingeschränkter Befugnis. Wie die Weihe von Dharmacharyas in Plum Village heute gehandhabt wird, entzieht sich unserer Kenntnis.