Form und Leerheit

Form ist Leerheit - Leerheit ist Form

Dies sind die meistzitierten Worte des Herz-Sutra. Und vielleicht auch die am meisten missverstandenen. Durch die sprachliche Gegenüberstellung wird in aller Deutlichkeit gesagt, dass Form Leerheit ist - und umgekehrt genauso: Leerheit ist auch Form. Leerheit entzieht sich der Begrifflichkeit, doch erkennen wir sie in der Form. Oder etwas anders und praktischer ausgedrückt: Wir können unser Verständnis der Leerheit anhand der Beziehung überprüfen, die wir zur Form haben. Und uns fragen: Wie gehen wir mit den Dingen des täglichen Lebens um? Mit Anhaften, Gleichgültigkeit oder Respekt?

Im Herz-Sutra wird zwar auf eine vollkommene Übereinstimmung der beiden Begriffe hingewiesen. Doch legt es den Schwerpunkt vor allem darauf, jegliche Form in ihrer Festigkeit aufzulösen und stellt damit die absolute Perspektive ins Zentrum. Das ist hilfreich, weil wir für gewöhnlich dazu neigen, uns (zu) sehr mit Formen zu beschäftigen und zu identifizieren. Für uns Menschen spielt dabei unsere eigene, körperlich-geistige Form und damit die Identifikation mit allem, "was wir sind", eine ganz zentrale Rolle. Aus dem Gleichgewicht gekommen, neigen wir auf der Formseite dazu, an allem Möglichen festzuhalten: an den 10'000 Dingen, aber auch an unseren Emotionen, an menschengemachten Werten und allem voran an unserer konstruierten Selbst-Idee.

Also suchen wir nach einer "edlen" Lösung, einer "spirituellen", z. B. im Zen. Und schon neigen wir auf die andere Seite, die Seite der Formlosigkeit und fragen: "Was soll dieser Kampf um den Mammon, das Streben nach Macht, das Zelebrieren von Zeremonien und das religiöse Getue? Ich will ein ungebundener Mensch sein, ohne festgelegte Religion und ohne Rituale." Also ein "Wahrer Mensch ohne Rang und Namen", wie Chan-Meister Linji (jap. Rinzai) es beschrieb. Doch er selbst war ein Mönch mit Robe, kannte die Schriften und Riten des Klosters bestens und hatte als Mönch lebendigen Anteil an den Ausdrucksformen seiner Kultur! Doch sein Geist war aussergewöhnlich frei. Das ist es, worauf es ankommt - dort liegt die Freiheit des Buddha.

Wie steht es also mit der Frage, ob wir uns möglichst aller Formen und Zugehörigkeiten entledigen sollen, um diese Freiheit zu erlangen?

Wenn wir dies genauer betrachten, so erkennen wir, dass das schon rein deshalb eine falsche Schlussfolgerung ist, weil sie sich nur bruchstückhaft umsetzen lässt. Wir sind nicht nur Menschen und als solche immer auf Formen und Strukturen angewiesen, sondern auch Individuen mit unseren jeweiligen Eigenheiten, und daran ist als solches nichts falsch. Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, dass wir in unserer Beziehung mit den Formen der Welt übermässig damit beschäftigt sind, die einen anzunehmen und an ihnen zu haften, die anderen abzulehnen und sie zu vermeiden. Wenn wir die Beziehung von Form und Leerheit nicht genügend tief ergründen, so ist es nahezu unmöglich, die Buddha-Lehre wirklich zu verstehen. Das Spiel von Gier und Aversion zu erkennen und zu durchschauen, ist hierbei zentral.

Wie sich das Verlangen bzw. die Gier auf unsere Beziehung zur Form auswirkt, sehen wir an unzähligen Beispielen: im Umgang mit materiellen Dingen wie Geld, Kleidung oder den neusten Technologien genauso wie mit "geistigen" Formen wie Überzeugungen, Glaubenssystemen, Theorien und unseren Rollen in der Welt. Und selbstverständlich auch im Umgang mit der Welt der Emotionen, mit der wir uns zutiefst identifizieren - was gibt es landläufig wichtigeres als "mein Gefühl"?

Leerheit hingegen wird oft verwechselt mit dem aversiven Empfinden bezüglich der Welt der Formen. Manchmal möchten wir all die unterschiedlichen Formen einfach plattwalzen und alle Konturen und Unterschiede zu einem Einheitsbrei vermengen. Dabei sehen wir uns von Aussagen wie denjenigen, die dem dritten Chan-Patriarchen Sengcan zugeschrieben werden, unterstützt: "Der höchste Weg ist nicht schwer, wenn du nur aufhörst, so wählerisch zu sein. Wo weder Verlangen noch Abwehren, ist alles offen und klar. Aber die kleinste Unterscheidung bringt eine Distanz wie zwischen Himmel und Erde." Aus: Vertrauen in den Herz-Geist, in: Rezitationen der Sati-Zen-Sangha.

Ganz so einfach ist die Sache jedoch nicht. Haben wir wirklich ein Gleichgewicht gefunden zwischen der Sicht der Leerheit und der Sicht der Form, zwischen der relativen und der absoluten Sicht? Die Realisation der Leerheit (shunyata) stellt sich nicht dadurch ein, dass wir beziehungslos werden und die Welt der Form abwerten oder gar missachten. Es ist im Gegenteil gerade die Welt der Form, die ein Licht darauf wirft, ob wir an ihr anhaften oder ihr, vielleicht auch sehr subtil, mit Aversion begegnen. Diese Geisteshaltung ist von zentraler Bedeutung, wenn wir mit den Hilfsmitteln des Zen praktizieren möchten.

Hierzu eine kleine Geschichte von Roshi: "Nach einem Dreimonats-Retreat am IMS (Insight Meditation Society/USA) sprach ich einen Theravada-Mönch an, der die ganze Zeit mit uns praktiziert hatte. Er war amerikanisch-burmesischer Abstammung und hatte viele Jahre in Burma gelernt. Weil mich zeitlebens die Frage nach der Sinnhaftigkeit des buddhistischen Mönchstums und der Roben begleitet hat, sprach ich ihn darauf an. Er sagte: 'Vor einiger Zeit kam auf dem Flughafen von Bangkok ein Chinese zornig auf mich zu und spuckte mir ins Gesicht - offenbar ein alter, überzeugter Kommunist aus Maos Zeiten. Auf der anderen Seite erlebe ich in Asien oft genau das Gegenteil: Menschen werfen sich vor mir auf den Boden und berühren meine Füsse. Wenn ich gegenüber beiden Ereignissen vollends gleichmütig sein kann, hat die Robe ihren Dienst getan.' Diese Antwort beeindruckt mich bis heute."