Lehrer-Schüler,
Lehrerin-Schülerin

Lernen im Zen

Wie wir gesehen haben, ist Lehren komplex und vielschichtig - und Lernen genauso. Ein schönes Beispiel dafür sind die beiden Zen-Originale Hanshan und Shide, beliebte Figuren aus dem alten China. Ihre Lebensdaten sind ungenau; sie liegen zwischen dem 7. und 10. Jh. Hanshan wurde im Zen-Kloster zum Mönch ausgebildet. Shide erhielt von Hanshan oft aus der Klosterküche abgezweigtes Essen und so wurden sie Freunde. Zum einen werden sie als Narren dargestellt, die sich über die beflissenen Mönche des Klosters lustig machen, zum anderen schreibt man ihnen beachtliche Weisheit zu, die offenbar nicht allein durch intellektuelles Lernen erreicht wurde. Ein Beispiel dafür ist im Bild oben zu sehen: Der eine der beiden zeigt auf dem Mond, während der andere nicht dümmlich auf den Finger schaut, sondern ebenfalls direkt den Mond am Himmel erkennt.

Was wir im Sati-Zen unter "Lernen im Zen" nicht verstehen, haben wir im vorhergehenden Kapitel anhand autoritärer Lehrmethoden kurz erläutert. Hier möchten wir ein zeitgemässes Lehrmodell beschreiben, um das wir uns im Haus Tao bemühen.

Spirituelle Freundschaft: Kalianamitra

Im Kapitel Sangha als upaya sind wir bereits auf verschiedene Aspekte eingegangen, wie wir als Gemeinschaft von Übenden mit- und voneinander lernen können. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist eine lebendige Beziehung von Personen mit ihrer jeweiligen Individualität; für ihre Qualität ist auch hier das Vertrauen und die Bereitschaft, sich einzulassen, grundlegend. In dieser bewusst kultivierten Beziehung zeigt sich, ob der Lehrer, die Lehrerin in der Lage ist, die Dinge so zu veranschaulichen, dass der Schüler, die Schülerin sie auch verstehen kann. Und gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Bereitschaft und der Kapazität der Lernenden, sich ganz auf die Praxis einzulassen und sich für das Dharma, die Lehren des Lebens, mehr und mehr zu öffnen.

Wir pflegen im Sati-Zen, wie bereits ausgeführt, das Modell des bzw. der Kalianamitra und stellen damit den Aspekt der spirituellen Freundschaft ins Zentrum dieses Upaya. Die spirituelle Freundschaft unterscheidet sich von einer "weltlichen" Freundschaft dadurch, dass sie ausdrücklich auf den Weg ausgerichtet ist, der zur Freiheit führt, und damit ganz bewusst über den psycho-emotionalen Bereiche hinausgeht, die unsere sonstigen Beziehungen meist in hohem Mass prägen. Kalianamitra (Skt.: kalyana-mitrata, Pali: kalyana-mittata; "schöner", edler Freund) kann mit "spiritueller Freund, spirituelle Freundin" übersetzt werden und steht in diesem Zusammenhang für einen Lehrer oder eine Mentorin, aber auch für einen vorbildhaften Gefährten, eine inspirierende Gefährtin in Bezug auf die Ausübung der Dharma-Praxis.

Buddha sagt gemäss dem Dhammapada: Wenn man eine Person findet, die einem die eigenen Fehler aufzeigt, sollte man solch einem weisen und scharfsinnigen Berater folgen, wie man einem Führer zu einem versteckten Schatz folgt. Der Ausdruck "Fehler" weist hier auf unsere verblendete Sichtweise hin, die sich an vielerlei Beispielen zeigt und auf die uns ein erfahrener Lehrer, eine kundige Lehrerin aufmerksam machen kann, da sie uns selber oft verborgen bleibt. Der Schatz oder das Juwel, zu dem die wegkundige Person uns führt, ist die Erkenntnis unserer wahren Natur.

Was ist eine gute, gesunde Lehrer-Schüler-Beziehung?

Im Kalianamitra-Modell der Sati-Zen-Sangha sehen wir den Lehrer, die Lehrerin nicht als eine vollkommen verwirklichte Person, wie dies in manchen anderen Schulen als spezifisches Upaya gezielt geübt wird. Wir gestehen ihm bzw. ihr Fehler als Teil des immer weitergehenden eigenen Lernens zu, können jedoch seine bzw. ihre Fähigkeiten dennoch wertschätzen. Gleichzeitig verlieren wir unser eigenes Urteilsvermögen nicht und verfangen uns nicht in blinder Gefolgschaft; vielmehr behalten wir einen offenen, wachen und differenzierten Blick und trauen uns, auch kritisch nachzufragen, wenn wir Fragen zum Verhalten und zur Lebensweise eines Lehrers bzw. einer Lehrerin haben. Dies ist eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass wir eine ebenso vertrauens- wie verantwortungsvolle Lehrerin-Schülerin-Beziehung aufbauen können - und uns auch unsererseits vertrauensvoll selber auf Fragen einlassen, die unsere eigene Lebensweise betreffen und die sich in Bezug auf die eigene Praxis als relevant erweisen.

Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist ein weitreichendes Praxisfeld, das wir, wie andere Upaya auch, über viele Jahre vertiefen können. Zwei kurze Auszüge aus Die Buddhas der Zukunft mögen unser Verständnis, was ein Lehrer, eine Lehrerin sein kann, erweitern:

Es gibt nicht die eine Lehrer-Schüler-Beziehung. Ein kleines Kind braucht am Anfang seines Lebens eine liebende, nährende Mutter. Später nimmt sie das Kind an der Hand und zeigt ihm die Welt. Niemand spricht hier von einer Lehrer-Schüler-Beziehung und doch erlernen wir tausend Dinge von ihr, die ein zukünftiges Leben in der Welt erst ermöglichen. In der Schule bringt uns jemand lesen und schreiben bei. Ein Zen-Lehrer ist nichts von alledem. Seine Aufgabe ist es, uns von all den erlernten Begriffen und Konzepten wieder zu befreien. Nicht weil sie falsch sind, sondern weil sie uns in einer sehr kleinen und relativen Sicht des Lebens beschränken.
Aus: Die Buddhas der Zukunft, S. 217

[Aus dem Leben von Roshi:] Ich war siebzehn und hatte viel über chinesisches Chan oder Zen gelesen. Meine Sehnsucht, einen "richtigen" Lehrer zu finden, war riesig. Eines Nachmittags sass ich längere Zeit auf einem Felsen weit oberhalb unseres Hauses auf der anderen Seite des Flusses in Meditation. Plötzlich öffnete ich die Augen und vor mir bewegte sich sanft eine Ähre im Wind. Spontan begriff ich: Das hier ist in diesem Augenblick mein Lehrer, einen anderen brauche ich jetzt nicht zu suchen.
Aus: Die Buddhas der Zukunft, S. 218

Hingabe als Praxis

Natürlich ist das Leben selbst unsere direkteste Lehrerin. Doch verstehen wir es oft nur ungenügend, die Botschaft des Lebens zu interpretieren. Haben wir uns einer kundigen Lehrerin, einem versierten Lehrer anvertraut, so bekommen wir die Chance, uns da und dort zu korrigieren. Gute Lehrende sind uns auf dem Weg vorausgegangen und kennen die Fallstricke aus eigener Erfahrung. Dies ist sehr wertvoll, geht es doch zentral darum, die verschiedenen Facetten der Ego-Illusion zu durchschauen. Und das ist wahrlich nicht einfach: Wir setzen gemeinhin ja viel daran, uns hier und dort mit möglichst geringem Aufwand durchzumogeln. In der buddhistischen Bildsprache reden wir von Mara als Symbol für Täuschung, Aversion und Begierde. Diese Kräfte verhindern, dass jemand Einsicht erlangt, und sind dafür verantwortlich, dass wir die Dinge im samsarischen Rad belassen und lieb gewonnene Gewohnheiten nicht antasten. So lassen sich stark vereinfacht zwei häufig anzutreffende Arten von Suchenden unterscheiden: Die einen übertragen die seit Kindheit gewohnte Abhängigkeit auf die Lehrenden und verbleiben in blosser Bewunderung; andere sind übermässig auf ihre Selbstständigkeit bedacht und lassen sich von niemandem begleiten.

Hingabe birgt immer die Gefahr, ausgeliefert zu sein und ausgenutzt zu werden. Und diese Angst ist natürlich nicht unbegründet. Sie gehört zu den grundlegenden menschlichen Ängsten, die bei uns wie bei allen Säugetieren auf die ersten Lebenserfahrungen zurückgehen, wo ein unterstützendes Umfeld für uns überlebenswichtig ist. Wenn unsere Hingabe auf ein Gegenüber trifft, das damit nicht liebevoll und weise umzugehen weiss, können die Folgen gravierend, ja lebensbedrohlich sein. So ist es in einer reifen Beziehung unter Erwachsenen und insbesondere in einer Lehrer-Schüler-Beziehung von zentraler Bedeutung, dass der Lehrer oder die Lehrerin vom Schüler oder der Schülerin unabhängig ist. Das betrifft sämtliche Ebenen wie Anerkennung, Bewunderung, sexuelle Sehnsüchte oder auch finanzielle Erwartungen und Wünsche. Nur das garantiert, dass Vertrauen nicht missbraucht wird. Vertrauenswürdige Lehrende bewahren ihre Freiheit und schützen damit auch die Freiheit der Schülerin, des Schülers. Das ist umso wichtiger, weil gerade in Bezug auf Geld, Macht und Sexualität auch im spirituellen Kontext, genauso wie etwa im beruflichen und privaten Bereich, schnell Abhängigkeiten entstehen können. Es ist wichtig, dass wir auch im spirituellen Umfeld Strukturen haben, die wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen helfen, Missbrauch zu verhindern (vgl. Ethik-Erklärung).

Lernen setzt die Fähigkeit und Bereitschaft zur Hingabe voraus. Und Hingabe wiederum basiert auf Vertrauen - einem grundlegenden Vertrauen, dass das Gegenüber uns nicht schaden will, dass seine Worte bzw. sein Tun nicht darauf zielen, uns zu untergraben oder zu beherrschen. Das wiederum setzt eine stabile psychische Grundlage voraus. Nur so können wir den Bereich der sogenannten "Bodenlosigkeit" unbeschadet betreten.