Paramita - Die Übungen der Vollkommenheit

Der Weg des Erwachens

Wir sehnen uns nach Freiheit und Frieden. Inmitten manchmal stürmischer, manchmal ruhiger See sind wir unterwegs in einem Boot, das uns vom Ufer der Verstrickungen zum anderen Ufer bringt - zum Ufer der Freiheit. Und wir sind nicht allein - mit uns sind unzählige Wesen unterwegs im Ozean des Lebens.

Die Buddha-Lehre ist keine blosse Philosophie, sondern eine erfahrbare und damit erlebbare Sicht der Wirklichkeit. Hierin liegt ihr Ziel und ihre praktische Relevanz. Damit sie erlebbare Realität wird, haben die Lehrenden seit 2600 Jahren diverse geschickte Mittel (upaya) entwickelt, die in verschiedene Kategorien zusammengefasst werden (vgl. Vorwort). Wir können sie, um im Bild des Ozeans zu bleiben, auch als Boote beschreiben.

Die Paramita oder "Übungen der Vollkommenheit" sind ein solches Upaya, ein hilfreiches Boot. Wenn unsere Kleider nicht Löcher hätten, bräuchten wir sie nicht zu flicken. Wenn wir erwacht wären, bräuchten wir keine "Übungen der Vollkommenheit". Es braucht die Bereitschaft anzuerkennen, wie die Dinge wirklich sind. Diesen Teil des Weges zu übergehen und zu sagen: "Die Buddha-Natur ist von Anbeginn schon vollkommen", führt uns in die Arroganz oder in eine andere Form der Verblendung.

Es gibt unterschiedliche Aufzählungen der Paramita im Frühen Buddhismus (Theravada) und im Mahayana, und in beiden Traditionen enthalten sie häufig sechs bzw. zehn Elemente. Je fünf Qualitäten überschneiden sich in beiden Traditionen und unterscheiden sich lediglich in ihrer Anordnung; je fünf Qualitäten sind unterschiedlich und stellen damit etwas andere Aspekte in den Vordergrund. Das heisst jedoch nicht, dass in der einen Tradition ein bestimmter Aspekt unwichtig ist und nicht geübt werden soll. Man geht vielmehr davon aus, dass sie so oder so Teil der Praxis sind. In der längeren Aufzählung im Mahayana ist geschicktes Mittel (upaya) selbst ein Paramita:

Theravada: parami (Pali)

1. Grosszügigkeit (dana)

2. Ethisches Handeln (shila)

3. Freiwilliger Verzicht, Entsagung (nekkhamma)

4. Weisheit (panna)

5. Tatkraft (viriya)

6. Geduld (khanti)

7. Wahrhaftigkeit (sacca)

8. Standhaftigkeit, Entschlossenheit (adhitthana)

9. Liebende Güte (metta)

10. Gleichmut (upekkha)

Mahayana: paramita (Skt.)

1. Grosszügigkeit (dana)

2. Ethisches Handeln (shila)

3. Geduld (kshanti)

4. Tatkraft (virya)

5. Meditation (dhyana)

6. Weisheit (prajna)

7. Geschicktes Mittel, Methode (upaya)

8. Gelübde, Verpflichtung, Vorsatz (pranidhana)

9. Spirituelle Kraft (bala)

10. Wissen (jnana)

Die "Vollkommenheiten" oder "vollkommenen, transzendenten Tugenden" (Pali: parami, Skt.: paramita) sind Geisteshaltungen und Handlungsweisen, die zum Erwachen führen, zum "anderen Ufer" - dem Ufer der Weisheit und der Nicht-Zweiheit, jenseits (der Konzepte) von Geburt und Tod. Schauen wir uns die Paramita genauer an, so wird schnell einmal klar, dass sich diese Übungen überall vervollkommnen lassen, in Retreats wie im Alltag. Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass die Befreiung, das Erwachen, mehr ist als nur "Sitzen". Der Buddha lehrte einen umfassenden Weg mit praktischen Hilfsmitteln, die unser gesamtes Leben mit einbeziehen. Jedes einzelne Paramita ist ein Übungsweg in sich und kann insbesondere in unseren Alltag integriert werden.

Im nächsten Kapitel stellen wir einige geschickte Mittel (upaya) vor, anhand derer wir die Paramita in der Sati-Zen-Sangha umsetzen und üben.