Herz-Geist

Weisheit und Mitgefühl

Eine Geschichte aus dem alten China

Eine alte Frau in China unterstützte viele Jahre lang einen Mönch. Sie baute ihm eine Einsiedlerhütte und versorgte ihn mit Nahrung und Kleidung. Nach 20 Jahren fragte sie sich, was er wohl erreicht habe und beschloss, ihn auf die Probe zu stellen. Sie holte ein schönes Mädchen aus dem Dorf und schickte sie zum Einsiedler mit der Anweisung, ihn zu umarmen und dann zu fragen, wie er sich fühle. [...]
[Der Mönch sagte:] "Ein verwitterter Baum auf einem kalten Felsen hat im Winter keine Wärme."
Das Mädchen kehrte zu der alten Frau zurück und erzählte ihr das Geschehene. [..
.] [Diese] griff sich einen Stock, eilte zu der Einsiedlerhütte und [...] brannte sie [...] bis zum Boden ab.
Aus: Das verborgene Licht - 100 Geschichten erwachter Frauen aus 2500 Jahren. Florence Caplow und Susan Moon (Hrsg.), Berlin 2016.

Spontan mögen wir denken, dass der Mönch ja nur seine Gelübde eingehalten habe. Doch gäbe es auch andere, mitfühlende Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen! Er hätte z. B. sagen können: "Schau, schönes Mädchen. Ich bin ein Mönch und habe meine Gelübde. Doch lass uns einen feinen Tee trinken und uns ein wenig aus unserem Leben erzählen!"

*

Weisheit und Mitgefühl bedingen sich gegenseitig

Durch die Einsicht in unsere wahre Natur, die Buddha-Natur, wird Mitgefühl zu einer natürlichen Haltung gegenüber allem Leben. Theoretisch schlussfolgern wir mit Leichtigkeit, dass die Drei Merkmale oder die Vier Siegel (siehe Der Kern der Buddha-Lehre) das sind, worum es geht. Das intellektuelle Verständnis genügt jedoch nicht - die Einsicht muss in der Tiefe unseres Bewusstseins geschehen. Irrtümlicherweise meinen wir vielleicht, dass mehr und härteres Sitzen die Lösung sei oder der Versuch, die emotionale Welt ganz wegzudrücken oder einfach zu übergehen. Jedenfalls wird dies in etlichen buddhistischen Schulen so gelehrt, sei es explizit oder unausgesprochen in der Art und Weise, wie mit diesem Anteil des Geistes umgegangen wird.

In der Welt der Form gilt das Gesetz der Entstehung in gegenseitiger Abhängigkeit - wir sprechen auch von Intersein oder Indras Netz als dem Verwobensein aller Phänomene. Da Leerheit auch Form ist, manifestiert sich Weisheit als Mitgefühl - genau so, wie umfassendes Mitgefühl von Verstehen durchdrungen sein muss, da Form auch Leerheit ist. Daher ist unsere Haltung, unsere Beziehung zur Welt der Form so aufschlussreich: Sie lässt unsere gewohnten Muster, die von Begehren bis zu Aversion reichen, besonders deutlich erkennen. Wir sind, wenn wir es genau betrachten, oft in vielen Dingen nicht wirklich frei. Die Fragen, die sich in der Praxis stellen, sind also grundlegend und weitreichend: Wie verwandeln wir die menschliche Gewohnheit, alles zweckdienlich zu betrachten? Wie gelangen wir von Abhängigkeit oder Aversion zu innerer Freiheit und Wertschätzung?

*

Es geht also um beides: um eine umfassende Einsicht in die Grundgesetze des Lebens (in die Vier Siegel) und um ein tieferes Verständnis der emotionalen Welt mit all unseren Ängsten, unserem Bedürfnis nach Anerkennung und der Sehnsucht, geliebt zu werden. Nicht, um uns darin noch mehr zu verlieren, sondern um dort die Bausteine unseres leidhaften und leidbringenden Ego-Konstruktes zu erkennen und freier zu werden.

Wenn wir uns selber gut verstehen und mitfühlend begegnen, empfinden wir auch Mitgefühl für andere - ohne uns im (Selbst-)Mitleid zu verlieren. Das Satipatthana-Sutra lehrt uns anhand verschiedener Methoden, wie wir die Prozesse in uns und auch im Aussen besser wahrnehmen können. Falls wir dadurch zu sehr ins Anhaften an der Körperlichkeit kippen, werden im selben Sutra gleichzeitig die vergänglichen Körperprozesse ins Zentrum gerückt, etwa anhand der detaillierten Betrachtung der Zusammensetzung oder des Verfalls des Körpers (eine Methode, die im Westen heute seltener und besonders in spezifischem Kontext gelehrt wird). Wird die letztere Methode zu sehr betont, lässt sie uns leicht zum weltabgewandten Einsiedler in der Hütte werden und die kleinen Schönheiten des Lebens als verführerisches Gift sehen. Dann wird es Zeit, ein wenig dem weitherzigen Einsiedlermönch Ryokan zuzuhören:

Oh, wäre meine Mönchsrobe weit genug

all die leidenden Menschen

in dieser fliessenden Welt zu bergen.
Ryokan (18. Jh.)