Routine und Entscheidung
Die psychologische Verleumdung der Routine
Bevor man über Routine und ihre Einflüsse in unsere Entscheidungen spricht, sollte definiert werden, was Routine überhaupt ist, nämlich „der Einfluss von handlungsbezogenem Vorwissen auf nachfolgende Entscheidungen“ (Betsch, 2005, S. 262). Man könnte die Routine also als Erfahrung und das Vorwissen bezeichnen, nach denen ein Mensch Entscheidungen trifft.
In der Psychologie bekam sie lange Zeit keine bzw. nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Erst als Wals Edwards 1954 die Nutzentheorie in die Psychologie importierte, entwickelte er, wie Goldstein & Hogarth (1997) es bezeichnen, das gambling paradigm. Probanden dieses Experiments wurden dabei mit vorgegebenen Entscheidungsproblemen und Alternativen konfrontiert. Das Hauptaugenmerk wurde auf die selektionale Phase des Entscheidungsprozesses gelegt, also auf „die zentralen Prozesse der Entscheidung, nämlich die Bewertung der vorhandenen Information und die Entscheidung selbst“ (Betsch, 2005, S. 262), frühere Erfahrungen und Vorwissen sollten möglichst minimiert werden und wurden als Störfaktor gesehen. In den 80ern wurde das gambling paradigm erweitert, da Forscher erkannten, dass sich Menschen „einer Vielzahl von Strategien im Entscheidungsprozess bedienen können“ (Betsch, 2005, S. 262). Informationen wurden nicht mehr vorgegeben, sondern die Probanden konnten die Relevanz der Informationen selbst bestimmen. Während in anderen Sektoren (zB der Ökonomie à Marktpräferenzen) der Routine eine viel größere Bedeutung zukam, hatte sie in der Psychologie erst in der letzten Dekade ihren richtigen Durchbruch. Die zentralen Fragen einer Entscheidung waren nun „Welches Verhalten soll ich wählen?“ bei einer neuen Entscheidung und „soll ich mein bisheriges Verhalten beibehalten oder ändern?“ bei routinierten Entscheidungen (vgl. Betsch, 2005, S. 262f).
Entscheidungsprozesse und Routineeinflüsse
Forscher gliedern eine menschliche Entscheidung in fünf Phasen:
1. Identifikation eines Entscheidungsproblems
2. Generierung von Verhaltensalternativen
3. Informationssuche
4. Bewertung und Entscheidung
5. Implementierung des gewählten Verhaltens
Als sechsten Punkt kann man noch das Feedback anführen, bei dem wir uns selbst oder die Umwelt Auskunft darüber gibt, ob unsere Entscheidung richtig war (vgl. Betsch, 2005, S. 263).
Bei der Problemidentifikation wurde nunmehr mehr Wert darauf gelegt, Entscheidungen realitätsnahe und nicht unter künstlichen Laborbedingungen zu untersuchen („Naturalistic Decision Making“). Belegt wurde dabei, dass die Kombination Entscheidung + Routine eine Art „wenn-dann“ Funktion ergibt, wie wir sie aus Tabellenkalkulationsprogrammen kennen à Wenn diese Situation eintritt, dann handle ich so (vgl. Betsch, 2005, S. 264).
Bei der Informationssuche gilt: je routinierter, desto „mehr verringert sich der Komplexitätsgrad der Suchstrategien“ (Betsch, 2005, S. 264). Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass Informationen oberflächlicher verarbeitet werden, sondern dass wichtige Aspekte fokussiert und tiefer verarbeitet werden. Interessant ist jedoch das Experiment von Betsch und Kollegen (2000), das zeigte, dass Personen mit starker Routine mehr „nach konfirmierenden Informationen für die Routine und diskonfirmierenden Informationen über […] Alternativen […] suchen“ (Betsch, 2005, S. 264).
Bei Entscheidungen spielt vor allem der Zeitdruck eine wichtige Rolle. Mit zunehmendem Zeitdruck neigten Probanden eher dazu, die Alternativen nur eindimensional, also nach einem einzigen Kriterium zu vergleichen (non-kompensatorisch). Außerdem zeigten Auswertungen eines Experiments von Betsch et al. (1999), dass „Probanden entsprechend der Manipulation in jeder Zeitdruckbedingung die Informationen fanden, die eindeutig gegen die Wahl der Routine sprachen“ (Betsch, 2005, S. 265), Menschen halten also unter Zeitdruck sehr stark an Routinen fest. Neben dem Zeitdruck spielen auch die Wiederholhäufigkeit der Routine in der Vergangenheit, die Familiarität und die wahrgenommene Neuartigkeit eine Rolle (vgl. Betsch, 2005, S. 265).
Menschen können Routinen auch wieder loswerden, vor allem wenn sie in der Vergangenheit zu wiederholten negativen Erfahrungen geführt haben. So logisch und einfach das auch klingt, so schwer ist es umzusetzen. Immer wieder werden Routinen wiederholt, obwohl wir uns geschworen haben, sie aufzugeben, was Schwarz (1927) als „Rückfallfehler“ bezeichnet. Auch hier zeigte ein Experiment, dass Rückfallfehler stark vom Zeitdruck abhängen, 80 % der Probanden trafen fälschlicherweise eine Routineentscheidung (vgl. Betsch, 2005, S. 266).
Das Feedback beeinflusst hauptsächlich die Umwelt, wobei Betsch (2005, S. 267) die Arbeiten mehrer Autoren zusammenfasst und zwischen „freundlicher“ und „boshafter“ Lernumwelt unterscheidet. Boshafte Umwelten geben unbrauchbares oder kein Feedback und können so „die Aufrechterhaltung unangepasster Routinen befördern […]“ (Betsch, 2005, S. 267). Neuste Untersuchungen zeigen, dass „die unangemessenen Routinen der einzelnen Individuen die Lösungsfindung in den Gruppen behindern“ (Betsch, 2005, S. 267), Routinen eines Einzelnen können also ganze Gruppenentscheidungen stören und beeinflussen (vgl. Betsch, 2005, S. 267).
Die Routine ist für Psychologen ein sehr schwierig zu erforschendes Thema, es konnte noch keine Entscheidungstheorie identifizier werden, „die den Einfluss von Routinen […] auf die Kernprozesse der Entscheidung […] vorhersagen konnte“ (Betsch, 2005, S. 267). „Der Lern und Gedächtnisprozess muss als […] Bestandteil von Entscheidungen betrachtet werden“ (Betsch, 2005, S. 268). Interessant ist auch die wissenschaftliche Theorie, was sich bei einem Entscheidungsprozess in unserem Gehirn abspielt: „Mittels autonomer Verarbeitung […] sucht das System aktiv nach einer Lösung für das Entscheidungsproblem innerhalb eines […] Arbeitsnetzwerkes, das Ziele, Alternativen, Wissen um Konsequenzen, affektive Reaktionen und andere Information enthält“ (Betsch, 2005, S. 268).
Viele Wissenschafter verspüren immer noch eine Abneigung gegen die Routine und behaupten, „dass sie nicht in den Gegenstandsbereich der Entscheidungstheorie fallen würden“ (Dawes, 1988, zit. nach Betsch, 2005, S. 268). Noch steckt die Routineforschung in den Kinderschuhen, es gilt festzustellen, wie viel Einfluss feedback auf das adaptive Entscheidungsverhalten hat und welche Schlüsselrolle die Routine dabei spielt (vgl. Betsch, 2005, S. 269).
Literatur
Betsch, T. (2005). Wie beeinflussen Routinen das Entscheidungsverhalten? Psychologische Rundschau, 56, 261 – 270.