Wozu erziehen?

Beim Aufwachsen von Menschen unterscheidet man zwischen dem Entwicklungsprozess und dem Autbau der Persönlichkeit.

Der natürliche Entwicklungsprozess erfolgt quasi automatisch und ist durch Erziehung schwer beeinflussbar; lediglich durch (fehlende) Maßnahmen der Pflege können hier hemmende oder fördemde Eingriffe erfolgen.

Der Aufbau der Persönlichkeit ist hingegen ohne Erziehung nicht möglich: Er erfordert Kenntnisse, Fertigkeiten, Bindung an Werte, und das alles muss in einem Prozess der Fremderziehung und der Selbsterziehung gelernt werden. Ziel dieses Prozesses ist die reife Persönlichkeit. Weit über die frühen Eltern-Kind-Beziehungen hinausgehend wird die Persönlichkeitsentwicklung durch die Erziehungsstile beeinflußt. Neben den Auswirkungen autoritärer und demokratischer Erziehungspraktiken auf das kindliche Verhalten wurden vor allem die retardierenden Folgen der Überbehütung festgestellt. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die unbewußt bleibenden elterlichen Wünsche, daß sich ihre Kinder entweder nach dem Vorbild emotional hochbesetzter Personen entwickeln oder aber stellvertretend Lebensträume realisieren, die im eigenen Leben unerfüllt geblieben sind. Ähnlich nachhaltig wie die elterlichen Erziehungsstile oder die unbewußten Rollenzuschreibungen wirken die Geschwisterbeziehungen, die zum einen durch die Position in der Geschwisterreihe, zum anderen durch die Geschlechtszugehörigkeit und die Altersunterschiede bestimmt werden. Während die Eltern beim ersten Kind sich selbst in ihre neue Rolle einfinden müssen und deshalb zur Überfürsorge neigen, sind sie bei allen weiteren Kindern deutlich routinierter. Für das Erstgeborene bedeutet jeder Familienzuwachs eine Relativierung seiner früheren Position, während die Jüngeren häufig aktiv in Konkurrenz zu den Älteren treten.

Aufwachsen im bloß natürlichen Entwicklungsprozess führt zu einem "Naturmenschen" im Rousseau'schen Sinne, dessen Handeln eher von Egoismus, Affekten und Leidenschaften geprägt ist. Persönlichkeitsaufbau zielt hingegen auf den "Kulturmenschen", der durch Geist (z.B. Wissen, Kulturtechniken, Kompetenzen im weitesten Sinn) und Charakter (Formen, Sitten, Prinzipien, Recht) geprägt ist.

Aristoteles unterscheidet drei Formen der erzieherischen Zuwendung: Pflege, Führung, Bildung. Sie zielt auf die drei angesprochenen Bereiche der natürlichen, charakterlichen und geistigen Entwicklung.