Biografisches

(In erster Linie für meine 15 Enkel*innen geschrieben, denen das Buch gewidmet ist)

Ich wurde am 13.Januar 1940 im Elisabethkrankenhaus in Marburg geboren. Wir wohnten eigentlich in Heusweiler an der Saar. Da war mein Vater Pfarrer; allerdings nur illegal, von der Gemeinde mit Spenden bezahlt. Denn meine Eltern waren Ende der zwanziger Jahre durch Rudolf Bultmann Mitglieder der nazikritischen Bekennenden Kirche (BK) geworden. Und einem BK-Pfarrer wollte die nazifreundliche Kirchenleitung in Düsseldorf das Heusweiler Pfarrhaus nicht geben. Aber nun war Krieg und Heusweiler liegt ganz nahe an der französischen Grenze. Deshalb entschieden meine Eltern, dass die Entbindung bei den Großeltern in Marburg stattfinden sollte.

Bei Kriegsende 1945 war ich fünf Jahre alt. Ich erinnere mich an zerbombte Städte, durch die wir fuhren, an tote Tiere auf den Weiden, an viele Nächte im Luftschutzkeller und an die Ankunft der alliierten Soldaten, in Marburg Amerikaner, in Heusweiler Franzosen. Wie auf einem Foto erinnere ich mich auch noch an den Tag, als die Nachricht vom Tod meines Vaters kam. Er musste, wie die meisten Väter, Soldat werden und starb im August 1944 in einer Schlacht bei Dorpat, das heute Tartu heißt und in Estland liegt.

Nach dem Krieg zogen wir, meine Mutter, meine ältere Schwester, mein jüngerer Bruder und ich, nach Goldenstedt in Nordwest-Niedersachsen. Dort war die jüngere Schwester meiner Mutter auch mit einem BK-Pfarrer verheiratet. Meine Mutter bekam dort eine Stelle als Lehrerin an der Grundschule und ich wurde ab 1946 ihr Schüler. Nach 4 Jahren wechselte ich auf das humanistische Gymnasium Antonianum in der Kreisstadt Vechta. Dort konnte ich alte Sprachen (Griechisch, Latein) lernen, denn ich wollte schließlich Pfarrer werden wie mein Vater und mein Onkel.

Als letzterer zum Oberkirchenrat in Oldenburg berufen wurde, zogen wir auch dorthin und meine Mutter konnte jetzt in der dortigen Realschule als Lehrerin arbeiten. Ihre Fächer waren Religion, Englisch und Französisch. Ich war auch in Oldenburg, wie schon vorher in Goldenstedt, in der Kirchengemeinde aktiv. Durch meine Mitarbeit im Kirchenchor wurde ich zum ehrenamtlichen Kantor, was mich mit vielen Bereichen des Gottesdienstes vertraut machte. Neben den beiden Gemeindepfarrern predigte nämlich Bischof Wilhelm Stählen regelmäßig in der Garnisonkirche – so hieß unsere Kirche – und der war über die Grenzen unserer Kirche hinaus bekannt durch seine zahlreichen Impulse für Liturgie und Bibelauslegung. In vielen seiner Gottesdienstordnungen wurde ein Kantor als Vorsänger gebraucht und das war meistens meine Aufgabe. Außerdem kam unser Chor auch häufiger bei Radiogottesdiensten zum Einsatz, so dass ich auch diesen Bereich schon in meiner Schulzeit kennenlernte.

Durch meinen Onkel, der auch als Herausgeber des Sonntagsblatts fungierte, bekam ich schon in der Schulzeit erste Angebote zu kleinen Veröffentlichungen. Und am Alten Gymnasium, das ich nun besuchte, konnte ich ein Wahlfach mit Hebräisch belegen und so mit dem Abitur alle drei alten Sprachen für das Theologiestudium abschließen. Dass daneben wenig Zeit für neue Sprachen war, dürfte verständlich sein. Wenn ich im Studium mal auf englische oder französische Texte stieß, - zu meinem Glück war das damals noch selten - schrieb ich sie ab (kopieren gab‘s damals noch nicht!) und schickte sie im Brief meiner Mutter; und nach wenigen Tagen erhielt ich die Übersetzungen zurück.

Meine Schwerpunkte im Studium waren die biblischen Fächer, vor allem das Alte Testament, das in Heidelberg mit Gerhard von Rad und Claus Westermann erstklassig besetzt war. Davon konnte ich auch später immer wieder zehren, Wie man predigt, lernte ich anfangs durch die Predigten meines Onkels. Er war vor allem mit seinen plattdeutschen Predigten sehr erfolgreich. Und mir wurde schnell klar, dass das Plattdeutsche der biblischen Sprache viel näher war als das Hochdeutsche, weil es genauso bildhaft ist und kurze Sätze liebt. Und gleichzeitig war es nahe an den Menschen. Später wurde ich wesentlich durch die Arbeit im Rundfunk und mit Verlagen geschult. Da wurde man zwar hart angefasst, aber das zeitigte Wirkung. Die Kolleg*innen-Gruppe, in der man dort oft zusammensaß, legte Wert auf eine zeitgemäße Sprache und eine Deutung biblischer Inhalte auch für Menschen, die nicht oder wenig in die Kirche gingen..

Zum Vikariat wurde ich ins katholische Cloppenburg geschickt. Die kleine evangelische Gemeinde, die nicht einmal zehn Prozent der Bevölkerung ausmachte, nahm mich freundlich auf. Der Pfarrer, der mich eigentlich als Mentor ausbilden sollte, fiel den größten Teil des Jahres krankheitsbedingt aus. Bezeichnend war mein Start: Als ich mich nach meiner Anreise im Kirchenbüro meldete, schlug die Sekretärin überglücklich die Hände über dem Kopf zusammen: „Herr Vikar, wie schön! Es stehen schon zwei Leichen in der Kapelle.“

Es war sehr viel Arbeit, was da auf mich wartete: Jeden Sonntag zwei sehr gut besuchte Predigtgottesdienste, einer in der mir vertrauten Ordnung und einer nach schlesischer Art; aus Schlesien, das heute fast ganz in Polen liegt, war der Großteil der Gemeinde nach dem Krieg als Flüchtlinge zugewandert. Anschließend ein Kindergottesdienst. In der Woche kirchlicher Unterricht, aber auch Religionsunterricht in einer Grundschule und am Mädchengymnasium. Außerdem eine Jugendgruppe und regelmäßige Besuche im Kreiskrankenhaus. Dazu Taufen, Trauungen und Beerdigungen sowie Hausbesuche zu Geburtstagen und anderen Anlässen. Manchmal dachte ich: Ich schaffe es nicht. Aber dann tröstete ich mich mit der Aussicht, dass in einem Jahr alles vorbei sein würde. Außerdem bekam ich hin und wieder Besuch von Gisela Königer aus Oldenburg, mit der ich schon 4 Jahre befreundet und seit Kurzem verlobt war.

1965 schloss sich ein Jahr Predigerseminar in Braunschweig an, das mir wie eine Freizeitveranstaltung vorkam, mit einer Ausnahme: das sechswöchige Sozialpraktikum. Ich hatte mich für einen Einsatz im VW-Werk in Wolfsburg entschieden, weil ich bisher das Leben von Industriearbeitern noch nicht kennenlernen konnte. Zu meinen Aufgaben gehörten täglich acht Stunden Fließbandarbeit, gemeinsam mit vielen „Gastarbeitern“ u.a. aus Ungarn, Italien, Spanien, ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen. Sie schulten mich am Fließband und nannten mich „Professore“, weil ich zwischen ihnen manchmal mit Latein dolmetschen konnte. Wir schrieben dann ein Wort in die Staubschicht auf dem Band und ich konnte es oft durch meine Lateinkenntnisse erraten.

Neben der Schicht, entweder von 6.00 bis 14.00 Uhr oder von 14.00 bis 22.00 Uhr gehörten mehrere Stunden als Hospitant beim Werkspfarrer zu meinen Aufgaben. Dieser war von VW bezahlt und ausschließlich für die Belegschaft zuständig.. Als Beispiel für diese ungewöhnliche Konstruktion nannte er mir einmal: Die Werksleitung hätte ihn gefragt, wie er zu der Überlegung stehe, für die zahlreichen jungen Männer zum Schutz der Einheimischen ein firmeneigenes Bordell einzurichten. „Darauf war ich von meinem Theologiestudium her wirklich nicht vorbereitet“, meinte er.

Am Ende dieses Jahres wurde ich als Pfarrvikar nach Rastede ge-schickt, wo ich jetzt wieder wohne.Vorher haben Gisela Königer und ich geheiratet und ein Jahr später kam unsere älteste Tochter Sabine zur Welt. In den kommenden fünfzehn Jahren kamen Friedhelm, Ruth, Christine, Anne und Elke dazu.

In Rastede wurde mir als dem jüngsten von fünf Kollegen die Jugendarbeit angetragen. Mit meinem ersten Konfirmandenjahrgang hatte ich Glück, und die meisten fanden sich nach der Konfirmation wieder in der Jugendgruppe ein. Da mir davor graute, jede Woche ein unterhaltsames Programm zu erfinden, legte ich den Schwerpunkt auf die Vorbereitung von Aktionen. Dazu gehörten Gottesdienste mit neuen rhythmischen Liedern und Jugendthemen, u.a. in Kooperation mit dem Pfarrer der Jugendhaftanstalt in Vechta und seiner Jailhouse-Rockband aus jungen Gefangenen. Oder wir organisierten Hilfsaktionen für ältere Menschen oder öffentlichkeitswirksame Einsätze mit Fragebögen zur Vorbereitung der nächsten Kirchenwahl.

In dem bis dahin sehr beschaulichen Rastede lösten diese Aktivitäten heftige Diskussionen aus, zumal auch die lokale Presse viel darüber berichtete. Das bewirkte nach sechs Jahren meine Berufung auf eine neu eingerichtete Pfarrstelle für Schülerarbeit im gesamten Nordwesten von Niedersachsen. Hier war meine Aufgabe, Seminare, Freizeiten und in den Ferien auch Auslandsreisen mit Jugendlichen, zumeist Gymnasiasten zu veranstalten. Dadurch war ich viel unterwegs, was meine Familie nicht schön fand. Als dann noch hinzu kam, dass durch die Einschulung der älteren Kinder in den Ferien Kompromisse nötig wurden zwischen Jugendfreizeiten und Familienurlaub, ergab sich überraschend eine neue Wende: 1977 stand für den derzeitigen Pastor auf der Nordseeinsel Langeoog die Pensionierung an und mich erreichte telefonisch die Anfrage, ob ich nicht sein Nachfolger werden wollte.

Als ich das meiner Frau vorlegte, sagte die wie aus der Pistole geschossen: „Nach Langeoog? Sofort!“ Hintergrund war, wie ich erst jetzt erfuhr, dass sie in ihrer Kinderzeit mit Eltern und Geschwistern öfter Ferien auf Langeoog verbracht hatte. Gesagt getan. Im Winter 1977/78 zogen wir mit damals noch vier Kindern auf die autofreie Insel.

Der örtliche Kirchenvorstand beäugte mich zu Beginn einigermaßen argwöhnisch. Für sie war ein Pfarrer ein alter Mann und kein Achtunddreißigjähriger, der bis dahin vor allem Jugendarbeit gemacht hatte. Aber nun machte sich meine Liebe zum Gottesdienst wieder neu bemerkbar, zumal ich erlebte, dass die Urlauber*innen gerne und zahlreich in die Inselkirche kamen. Meine Freude am Predigen war da genauso nützlich wie meine Erfahrung mit besonderen Gottesdienstformen unter Wilhelm Stählin. Die Radiosender, bei denen ich vorher schon mit Morgenandachten bekannt geworden war, fragten jetzt nach Liveübertragungen von Gottesdiensten. In Langeoog konnten sie aus dem Vollen schöpfen, zumal Kirchenmusiker Walter Gera es verstand, zahlreiche singende oder mit einem Instrument vertraute Urlauber*innen in die Kantoreiarbeit einzubinden. Im Laufe der Jahre konnten dafür immer mehr Instrumente angeschafft werden, so das im Hochsommer regelmäßig große Kirchenkonzerte stattfanden.

Prägend für diese Zeit war u.a. die Zusammenarbeit mit der sächsischen Partnergemeinde Polditz, die schon seit Kriegsende bestand. Sie wurde durch Besuche intensiviert. Und als dann nach dem Fall der Mauer einerseits mehr möglich war und andererseits im Osten der Schmiedemeister Claus Walther, seit Jahren ein treuer Helfer bei allen Bausachen, urplötzlich in wirtschaftliche Not geriet, konnte Langeoog einspringen. Er erhielt von der Insel den Auftrag zur Anfertigung eines künstlerisch gestalteten Friedensleuchters. Vorbild war der Leuchter, der anlässlich der Weltkirchenkonferenz 1968 in Uppsala aufgestellt worden war und dort den Bischof aus Hannover, Horst Hirschler, sehr beeindruckt hatte.

Zu Ostern 1982 erhielt die Inselkirche durch eine Stiftung von meiner Frau Gisela von Mering geb. Königer eine neue Glocke mit dem tiefen a´. Mit einem Gewicht von 360 kg und einem Durchmesser von 91 cm ist sie die mächtigste unter den 4 Glocken. Zusammen bilden sie den Vierklang a – c – d – f, den Anfang des Te Deum: „Herr Gott, dich loben wir.“ Die biblische Inschrift ist Römer 15,7: „Nehmet einander an, wie Christus auch uns angenommen hat zur Ehre Gottes.“ Gleichzeitig begleitet sie die Trauernden bei einer Beerdigung. Die feierliche Einholung der Glocke vom Hafen wurde ein großes Fest für das ganze Dorf.

Ein weiterer Schwerpunkt wurde die Arbeit mit Brot für die Welt. Aus einem Weihnachtsbasar entwickelte sich der Eine-Welt-Laden, der bis heute fortbesteht. Aktionsgruppen für Burkina Faso in Wetzlar und Böblingen wurden auf uns aufmerksam und es entstand eine wunderbare Zusammenarbeit. Für uns Langeooger erreichte sie ihren Höhepunkt in einer dreiwöchigen Informationsreise durch Burkina Faso und die Freundschaft mit dem leitenden Pfarrer von Ouagadogou, Samuel Yameogo.

Während dieser Zeit begleitete uns viele Jahre lang das Problem, dass die Inselkirche immer größere Schäden am Mauerwerk aufwies. 1988 entschied sich die Landeskirche in Hannover endlich zu einer umfassenden Renovierung. Diese zog sich bis 1990 hin. Über ein Jahr lang mussten wir auf den Gebrauch der Kirche verzichten, was nur zu bewältigen war, weil die katholische Schwesterkirche St. Nikolaus uns sehr großzügig bei sich aufnahm. Ein weiterer Ausweichraum war im Sommerhalbjahr die neue Friedhofskapelle auf dem Dünenfriedhof.

Im Laufe der 90er Jahre glückte schließlich auch noch der Neubau eines Gemeindehauses im hinteren Teil des Pfarrgartens. Den passenden Namen fand Gisela dafür – „Beiboot“.

Im Herbst 2001 entschied ich mich, ein Angebot der Landeskirche zum Vorruhestand anzunehmen. Auslöser war, dass (für eine leider sehr begrenzte Zeit) ein Überangebot an Theologen für den Pfarrdienst bestand. Wir hatten einen von ihnen, Torsten Both, für zwei Jahre als Pfarrkandidat bei uns gehabt. So fügte es sich gut, dass es dem Kirchenvorstand gelang, Torsten Both nach einer gewissen Bedenkzeit als meinen Nachfolger zu gewinnen.