Advents- u. Weihnachtslieder

Alte und neue Advents- und Weihnachtslieder – eine Serie in der Evang. Zeitung 2007

O Heiland, reiß die Himmel auf! (EG 7)

Ein Kuhfuß ist ein gewalttätiges Werkzeug. In vergleichsweise harmlosen Fällen braucht man es, um dicke Nägel aus einem Balken zu ziehen. Unentbehrlich ist es allerdings, um z.B. eine von der andern Seite verriegelte Tür aufzubrechen. Aber der Kuhfuß ist auch schon als Mordinstrument in die Kriminalgeschichte eingegangen.

So gewalttätige Bilder entwirft ein altes Adventslied vor unsern Augen: "O Heiland, reiß die Himmel auf.. reiß ab, wo Schloss und Riegel für." Der Jesuit Friedrich Spee hat es anhand eines leidenschaftlichen Gebetes aus Jes 63 gedichtet: "Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen", wird Gott dort angefleht "denn Abraham weiß von uns nichts und Israel kennt uns nicht." (Jes. 63, 19.16). Die starken Bilder seiner Vorlage werden Spee ebenso angesprochen haben wie die schlimmen Zustände, die er tagtäglich in seinem Alltag vor Augen hatte. Seit vier Jahren wüten der Dreißigjährige Krieg und die Pest in Deutschland - rund ein Drittel der Bevölkerung werden sie am Ende dahingerafft haben. Außerdem ist der junge Jesuit immer wieder mit sog. Hexenprozessen konfrontiert. Neun Jahre nach der Abfassung dieses Liedes wird er unter einem Pseudonym eine vielbeachtete Schrift dagegen veröffentlichen, in der er vor allem kritisiert, dass alle "Geständnisse" der betroffenen Frauen durch Folter herbeigeführt wurden. Von seinem Kurfürsten soll Spee einmal gefragt worden sein, warum er so früh ergraut sei. Darauf der junge Theologe, er habe so viele unschuldig Verurteilte zum Feuer geleiten müssen und keine einzige Schuldige unter ihnen gefunden. Sein Orden degradiert den brillanten Professor für diese Kritik an der Inquisition zum Gefängnis- und Pestkrankenseelsorger in Trier, wo er 44jährig durch Ansteckung stirbt.

Dass der Himmel verschlossen wirkt und es für unsere sehnsüchtigen Gebete und Hoffnungen kein Durchkommen gibt - diese Erfahrung ist wohl keinem Christen fremd. Spee verleiht ihr mit Worten Ausdruck, die vor ihm in der Liedsprache der Kirche noch ganz unbekannt waren. Die Choräle des Reformationszeitalters leben von der befreiten Erkenntnis, dass Gott den Menschen allein aus Gnaden rettet. Aber die Gefühle des Einzelnen waren zu dieser Zeit noch kein Thema in kirchlichen Texten. Ganz anders jetzt, im Barock. Viele Zeilen seines Liedes lässt Spee mit einem geseufzten "O" oder "ach" beginnen. Starke Imperative wie "reiß", "lauf", "brecht", "schlag" oder "spring" unterstreichen die Heftigkeit des Gebetes. Ausrufungs- und Fragesätze bringen die Ungeduld des Wartens zum Ausdruck.

Neben das Bild von einer aufgebrochenen Tür tritt in der 2. und 3. Strophe unvermittelt das von einem ausgedörrten Land, das auf Regen wartet: "O Gott, ein Tau vom Himmel gieß... Ihr Wolken brecht und regnet aus..dass Berg und Tal grün alles werd." In Wüstenregionen kann man diese Erfahrung machen: Ein einziger starker Regenschauer und wo vorher trostlose Dürre herrschte, grünt und blüht es wenige Stunden später allenthalben. Spee mag diese Bilder aus seiner intensiven Beschäftigung mit den Bibelwissenschaften gewonnen haben. Vielleicht sind sie aber auch Ausdruck seines Traums, als Missionar nach Indien zu reisen, ein Wunsch, dem seine Ordensoberen nicht entsprochen haben.

Bei uns waren es sicher auch diese frühlinghaften Töne, die dem Choral über die Jahrhunderte zu so großer Popularität verholfen haben. Gerade in einer Jahreszeit, in der uns Kälte und Dunkelheit den Aufenthalt im Freien vergraulen, berühren uns die zarten Töne von aufbrechenden Blüten und ausschlagenden Büschen besonders stark. Rettung aus dem trostlosen und finsteren Elend seiner Welt erwartet der Dichter vom Kommen des Messias. Gott selbst muss eingreifen und die verelendeten Menschen "mit starker Hand" heimholen in ihr Vaterland.

Die letzte Strophe des Liedes stammt nicht von Spee, die Kommentatoren sind sich nicht einig, ob sie das sehnsüchtige Warten der Adventsgemeinde auf ihr Ziel hinweist oder ob sie diese große Hoffnung auf den Anbruch des Reiches Gottes vorschnell in eine persönliche Auferstehungshoffnung auflöst. Die Melodie des Liedes wurde wohl nachträglich speziell für diesen Text komponiert wurde - Spee sang seine Worte noch nach der Melodie, die in unserm Gesangbuch unter der Nr. 3 wiedergegeben ist. Dass es über die Jahrhunderte singbar blieb, verdankt es aber vor allem den leuchtenden Bildern des Advents Gottes, die uns der Dichter vor die Seele stellt.

Das Volk, das noch im Finstern wandelt (EG 20)

"Das Volk, das noch im Finstern wandelt..." (EG 20) - ein Lied, das nicht nur die Tür hoch macht zum Advent unseres Herrn, sondern sich zugleich auch als Türstopper eignet für alle Versuche, in dieser Zeit das Tor zu noch mehr Kaufrausch unter uns zu öffnen. Grund für diese sperrige Wirkung ist nicht nur, dass es ein noch junges und deshalb recht unbekanntes Adventslied ist, das die Drehorgeln noch nicht entdeckt haben - das kann sich ändern, und jedenfalls was die Vertrautheit in Gottesdienst und Adventsfeier betrifft, sollten wir da nicht zögern, nachzuhelfen. Nein, hier wird in klaren Worten an die biblische Begründung unserer Adventsfreude erinnert. Und gleichzeitig rückt uns diese biblische Wahrheit bedrängend nah auf den Leib. Man hört schon bei den alten Worten der Weissagung aus Jes. 9, 1-6 das Krachen zerbrechenden Holzes - "Du hast ihr drückendes Joch und ..den Stecken ihres Treibers zerbrochen" Und man riecht unwillkürlich den schwarzen Qualm, wenn es heißt: " Jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt." Diese Wirkung nimmt das Lied auf seine Weise auf und transportiert sie in unsere Gegenwart.

Jan Willem Schulte Nordholt, der Verfasser der ursprünglich niederländischen Fassung unseres Liedes, hat sich sehr eng an die biblische Vorlage angelehnt. Es lohnt sich, Lied und Bibeltext nebeneinander zu halten.Zunächst ist der auffälligste Unterschied: Das Lied beschreibt die Veränderung zum Guten nicht nur visuell als "Licht" und akustisch als "lauten Jubel", sondern es benennt den Grund für diese Veränderung: "steh und lausche, weil Gott handelt" (Str. 1) bzw. "schon hört ihr Gottes Schritt" (Str. 2). Damit wird das Kommen Gottes im Advent unmittelbar anschaulich und die folgenden Strophen können das dann inhaltlich ausmalen.

Die Sehnsucht nach Frieden wird vor der dunklen Folie des Krieges geradezu körperlich spürbar, schon in der biblischen Vorlage, erst recht aber in der Nachdichtung des Liedes. Nordholt verarbeitet hier persönliche Erinnerungen an die deutsche Besetzung der Niederlande im 2. Weltkrieg. Jürgen Henkys hat in seiner ursprünglichen Übersetzung die aktuelle Bedeutung der dritten Strophe noch stärker zu betonen versucht: "Sein Friede kommt, nie mehr Sirenen, nie Krieg, Verrat und bittre Zeit! Kein Kind,das nachts erschrocken schreit, weil auf dem Pflaster Stiefel dröhnen." Für die Älteren unter uns vermittelt sich ja die Vorstellung von Krieg - und entsprechend von Frieden - nicht zuletzt über Geräusche. Die Gesangbuchfassung verzichtet auf den spezifischen Lärm der Sirenen, und ist damit zugleich stärker beim holländischen Originaltext.

Der Historiker und Dichter Jan Willem Schulte Nordholt hat übrigens schon 1956 ein Buch über die Geschichte der Schwarzen in den Vereinigten Staaten veröffentlicht mit dem Titel: „Het volk dat in duisternis wandelt" (Das Volk, das im Finstern wandelt). Sein kurze Zeit später entstandenes Lied hat also auch diese Form von gewalttätiger Verhinderung des Friedens im Auge und man wird sich auch daran erinnern, dass unter dem Schutz der deutschen Besatzung in Holland der Rassenwahn der Nazis seine mörderischen Ziele verfolgte.

Auch der Vergleich der Strophen 5 und 6 mit Jes 9, 5+6 fördert wieder eine bewusste Erweiterung des Prophetenwortes zutage. Schon Nordholt hat die Liste der Ehrennamen, die das erwartete Kind tragen wird, aus dem Neuen Testament erweitert, in dem er auf Joh 14,6 Bezug nimmt ("Weg", "Wahrheit" und "Leben"). Henkys greift auch hier, wie stets bei seinen Liedübertragungen, die Grundgedanken auf, ermittelt die Bedeutung der Bilder und schafft daraus eine Übersetzung, die durchaus den Wert eines eigenständigen Liedes hat: "Sohn Gottes, der das Zepter hält, der gute Hirt, das Licht der Welt...".

In den beiden letzten Strophen schließlich nehmen die beiden Lieddichter den endzeitlichen Tonfall des Verses Jes 9,6 auf und füllen ihn mit Anklängen an den Einzug Jesu in Jerusalem (Matth 21,1ff, Evangelium am 1. Advent!), an die Erlösung der Schöpfung (Röm 8,18ff) und an die Offenbarung des Sehers Johannes (Offb 21, 1+24) auf. Die Weissagungen des Alten Bundes sind ja mit dem Kommen des Messias als Kind von Bethlehem nicht einfach erfüllt und erledigt, sondern sie sind zugleich neu in Kraft gesetzt: Weil die Christen an Jesus als den erwarteten glauben, warten sie zugleich mit neuer Zuversicht auf die endgültige Befreiung der Schöpfung von Schuld und Tod.

Der wiederkommende Herr der Geschichte ist derselbe, der in Jesus unter uns lebte und wirkte und der jetzt schon unsichtbar mit uns und durch uns in der Welt Frieden und Gerechtigkeit wirkt.

Die Nacht ist vorgedrungen (EG 16)

Wer keine Erfahrung mit Schlaflosigkeit und Alpträumen hat, wird nur schwer einen Zugang zu Jochen Kleppers "Die Nacht ist vorgedrungen" finden. Umgekehrt muss man aus der Tatsache, dass sich dieses Lied wie kaum ein anderes aus neuerer Zeit in die Herzen der Christenmenschen hineingesungen hat, schließen, dass solche Erfahrungen offenbar vielen Christen vertraut sind. Wie sollte das auch anders sein, wo Jesus doch die "Mühseligen und Beladenen" zu sich ruft. Jochen Klepper war einer von ihnen, die Alpträume in seinem Leben waren allerdings von quälender Realität. Durch seine Heirat mit Johan­na Stein-Gerstel, die mit ihren beiden Töchtern aus erster Ehe nach den damaligen Gesetzen als Jüdin galt, kam es nicht nur zum Bruch mit seinen Eltern, einem schlesischen Pfarrerehepaar, sondern auch zur beruflichen und am Ende menschlichen Katastrophe: In der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1942 nahm sich Klepper zusammen mit seiner Frau und der jüngeren Tochter, deren Abtransport ins KZ unmittelbar bevorstand, das Leben. Sein letzter Eintrag in sein regelmäßig geführtes Tagebuch: „Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun - ach, auch das steht bei Gott - Wir gehen heute nacht ge­meinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben."

Sein Adventslied war da genau 5 Jahre alt, am 18.12.1937 hat er es vor dem Hintergrund von Röm 13,11-12 niedergeschrieben: "Das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf... Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen..." Klepper war es immer wichtig, mit seiner Dichtung nahe am biblischen Wortlaut zu bleiben. "Zu ihrer Erfüllung wird die Dichtung letztlich nur als biblische Exegese gelangen: als Textauslegung mit den Mitteln der Dichtung, im ständigen Gemessen-, Gewogen- und Befundenwerden vom Worte Gottes her.." formuliert er einmal seinen Anspruch. Aber auch an den geprägter Aussagen aus der evangelischen Gesangbuchtradition knüpft er sehr bewusst an. Nur zwei Beispiele für viele: Die Verbindung "Angst und Pein" (Str. 1) findet sich in "O Haupt voll Blut und Wunden" (EG 89 Str. 9), der Satz "dem alle Engel dienen" in EG 40 "Dies ist die Nacht, da uns erschienen" (Str. 1).

Fachleute haben erstaunt festgestellt, dass die als "kongenial" eingestufte Melodie unseres Liedes von Johannes Petzold aus dem Jahr 1939, die entscheidend zur raschen Verbreitung beigetragen hat, sich ihrerseits deutlich an Vorgaben aus der Tradition anlehnt. Der Rhythmus der Anfangszeile erinnert z.B. an Johann Crügers "Zieh ein zu deinen Toren" (EG 133). Und das geschulte Ohr erkennt in der Tonfolge Anklänge an "Ach Gott vom Himmel, sieh darein" (EG 273). Man hat deshalb verschiedentlich gefragt, ob Jochen Kleppers Lied nicht zu stark rückwärts gewandt sei. "Wird die lebendige Liebe zum Wort der Schrift", so fragt einer zweifelnd, der sich im Übrigen als großer Kenner und Liebhaber von Kleppers Liedern versteht, " vielleicht plötzlich doch zum Prinzip erstarren? Und wie kann ein Gespräch mit Menschen gelingen, denen solche Herleitungen schon deswegen suspekt sind, weil sie nicht in gleicher Weise mit der Bibel aufgewachsen sind wie Klepper?"(R. Deich­gräber)

Die Wirkungsgeschichte des Liedes scheint solche Zweifel zu zerstreuen. Viele schätzen an diesem Lied gerade den theologischen Tiefgang - "abseits von aller Glühwein-Romantik und sonstigem Weihnachts-Tingeltangel" (R. Ellsel); denn indem Klepper, wie Luther, die Frage nach der Rechtfertigung des Sünders in den Mittelpunkt stellt, gerade im Advent, erreicht er uns in der Tiefe unserer Zweifel und Ängste. Und mit seinem Satz "Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt" spricht er zugleich unsere Erfahrungen und unsere Sehnsüchte an.

Trotzdem: Die Frage, ob Gottes Wahrheit nur dadurch in unsere Worte hinein kommt, dass wir uns möglichst nah an biblische Formeln halten, scheint mir dadurch nicht erledigt. Wir können uns nicht mit dem Argument beruhigen, angesichts der grassierenden Unkenntnis biblischer Texte sei schon viel erreicht, wenn den Menschen biblische Geschichten vermittelt würden. Weil Gottes Wort "Fleisch" wurde (Joh 1,14), dürfen wir uns nicht mit Worthülsen begnügen, und seien sie noch so gewichtig. "Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld", weiß Klepper. Es gibt keinen Vorsprung für die, die in biblischen Wendungen zu Hause sind. Und unser Ziel werden wir nur erreichen, wenn wir dem Stern folgen und nicht stehen bleiben.

Also liebt Gott die arge Welt (EG 51)

Manchmal ist uns gar nicht mehr bewusst, wie stark Martin Luthers Bibelübersetzung unser Sprachempfinden bestimmt. Bei dem bekannten Bibelvers, der mit den Worten beginnt "Also hat Gott die Welt geliebt", merken viele gar nicht, dass wir eigentlich sagen müssten: "So sehr hat Gott die Welt geliebt". Aber wir sagen immer noch "also", es liegt uns näher, wohl weil wir so mit den Vokalen a und o lautmalerisch das Staunen zum Ausdruck bringen, das dem hier Gesagten entspricht.

Kurt Müller-Osten hat sein Lied auf dem Fundament dieses Bibelwortes - und dieses Staunens! - aufgebaut: "Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit (vor der Revision 1984 stand hier "auf dass", wieder die Laute a und o!) alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben" (Joh 3, 16). Die erste Strophe folgt fast wörtlich diesem Zitat. Und die letzte nimmt es wieder auf - und steigt dann mitten drin überraschend aus, um am Ende doch wieder darin einzumünden. "Ach Herr, führ deine Kirche nach und lehr uns tragen Kreuz und Schmach, hüt uns zum ewgen Leben." Drei Bitten, mit dem gefühlsbetonten "ach" akzentuiert: 1) Führ deine Kirche durch die Verlorenheit hindurch und aus ihr heraus in der Nachfolge Christi! 2) Lehre uns in dieser Nachfolge Kreuz und Schmach zu tragen! Und 3) Sei unser Hirte, der uns - notfalls auch auf unserer Wanderung durch das finstere Tal (Ps 23) - ins ewige Leben "hütet"!

Man spürt diesen Sätzen beides an: Dass der Dichter sich in diesem "wir", in dieser Gemeinschaft der Kirche aufgehoben und geborgen weiß, und dass er sich zugleich um das Schiff der Kirche sorgt, weil es in schwere See gekommen ist. Müller-Osten schreibt diese Strophen auf dem Hintergrund der Erfahrungen der Bekennenden Kirche im Nazideutschland. Als junger Pfarrer in Hessen hatte er selbst daran teil. In der ursprünglichen Fassung des Liedes wurde das noch deutlicher: Da stand an der Stelle der heutigen 3. und 4. Strophe ein Vers, der stark von militärischen Bildern geprägt war - in der Pfarrergeneration Müller-Ostens waren viele von der bündischen Jugend und ihren Leitbildern geprägt. Nach dem Krieg ersetzte der Dichter diese Strophe durch die 3. und 4. der jetzigen Fassung. die sich textlich stark an die Epistel der Christnacht (Tit 2,11f) anlehnen: "Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und nimmt uns in Zucht, dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen.." Aber Vokabeln wie "Zucht", "Held" und "Königstag" lassen den ursprünglichen Hintergrund noch ahnen.

Vielleicht hat der Dichter mit dieser Anleihe bei einem bekannten Heilig-Abend-Text selber etwas nachhelfen wollen, sein Lied als Weihnachtslied zu hören und zu singen. Denn die gewohnten Anklänge an die Weihnachtsgeschichten aus Lukas 2 und Matthäus 2, an Krippe, Hirten und Weisen aus dem Morgenland sucht man ja in diesem Lied vergebens. "Eigentümlich spröde und trocken klingen die Worte... Es fehlen die Gefühle, die oft sehr tiefen Gefühle, die all diese Bilder (von Weihnachten) in uns wachrufen", beschreibt Christian Zippert, langjähriger Freund und Amtsbruder Kurt Müller-Ostens, das Befremden, das viele gegenüber diesem Weihnachtslied empfinden. Um dann fortzufahren: " Kurt Müller-Osten hat in diesem Lied auf all das verzichtet, obwohl er selber es liebte und brauchte...Warum?.. weil (diese Bilder und Gefühle) auf vielfältige Weise missbraucht werden, vielleicht auch, weil wir ihrer manchmal schrecklich überdrüssig sind."

Ein Weihnachtslied ist es trotzdem, aber eben eins, in dem das Licht nicht auf den Einzelnen und sein Erleben fällt, sondern auf die Kirche und ihren Weg. Vielleicht war das für die Christen der Bekennenden Kirche deutlicher, selbstverständlicher, dass sie mit ihrem Glauben nur dank dieser Kirche bestehen können. Die Gefahren von außen schweißten sie zusammen. Heute neigen wir eher dazu, zur Kirche auf Distanz zu gehen, um nicht für ihre offenkundigen Fehler mit verantwortlich gemacht zu werden. Aber Kurt Müller-Osten wusste: Das ist falsch. Eine fehlerlose Kirche kann es nicht geben, spätestens wenn ich dazu käme, wäre sie's nicht mehr. Weggefährten sagen von dem Dichter: "Ein Mann, der viel Kritik an der Kirche auf dem Herzen und im Kopf hatte, aber diese Kritik von innen her aussprach und lebte." Christus kam in unser Menschsein, "dass wir, von Schuld und Tod befreit, ein neu Geschlecht am Ende der Zeit, sein wahres Leben künden" (Str. 3).

Die Melodie hat ihre Besonderheit darin, dass sie nur die erste Silbe über zwei Noten bindet und dadurch das "Also" besonders unterstreicht. Im Übrigen hat der Komponist Gerhard Schwarz den Text so nüchtern in schreitenden Vierteln vertont, wie der Wortsinn es erfordert.

Stern über Bethlehem (EG 544)

Das Lied "Stern über Bethlehem" trat seinen Siegeszug zu einer Zeit an, als das Singen "neuer geistlicher Lieder" in unseren Kirchen noch die Geister schied. Pfarrer, die in ihren Jugendgottesdiensten moderne Lieder einsetzen wollten, stießen bei ihren Kirchenmusikern oft auf Widerstand und mussten entweder auf weltliche Musiker zurückgreifen oder selber die Gitarre in den Arm nehmen. Mancherorts spitzte sich die Auseinandersetzung sogar derart zu, dass Gemeindekirchenräte bzw. Kirchenvorstände die Kirchen für derartige Musik sperrten.

Dabei hatten einige Verantwortliche in der Kirche bereits 1960 die Zeichen der Zeit erkannt: Die Evang. Akademie Tutzing schrieb damals einen Wettbewerb für "neue religiöse Lieder" aus, „die dem auch von Jazz und Unterhaltungsmusik geprägten musikalischen Geschmack der Jugend entsprechen". Den ersten Preis gewann seinerzeit das Lied "Danke" (EG 334). Alfred Hans Zoller, Texter und Komponist von "Stern über Bethelehm", leistete zu dieser Zeit nicht nur "Organistendienst in der Kirche St. Margaretha in Reutti, einem Stadtteil von Neu-Ulm", sondern betätigte sich nach eigenem Bekunden "als Sänger, Komponist, Chorleiter, Tanzmusiker und Bandleader", so dass "mein Name über die Grenzen Ulms hinaus bekannt" wurde. "Unter den zahlreichen <ad hoc> entstandenen Gesängen war auch das Weih­nachtslied „Stern über Bethlehem", das 1963 erstmals gesungen wurde", erinnert er sich.

Zoller sieht die Gemeinde von heute "auf der Suche nach der Krippe, nach dem Wunder im Stall, nach dem hellen Schein, der von jener Nacht ausging. Derselbe Stern, der über Bethlehem stand, begleitet uns Menschen heute auf unserer Suche, auf dem Weg hin zum Kind.", ist er überzeugt. Entsprechend den vier Kerzen des Adventskranzes gestaltet er das Lied in "vier Strophen im Viervierteltakt: jeweils vier Zeilen, die vier Mal jeweils mit einer Synkope abgeschlossen werden". Dass er dabei den Stern durch die immer wiederkehrende Anrede "Stern über Bethlehem" praktisch personalisiert und sich damit in die Gefahr astrologischer Missverständnisse begibt, scheint ihn nicht zu stören. Er setzt offenbar auf die Durchschlagskraft der Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland, die, dem Stern folgend, über Jerusalem nach Bethlehem gelangen (Matth 2, 1-12). Von daher kann er auch darauf verzichten, das "Wunder" der Weihnacht inhaltlich näher zu bestimmen, "dieser arme Stall birgt doch so viel", sagt er und setzt damit mehr auf Gefühl und Ahnung als auf theologische Begiffe. Entsprechend in der 4. Strophe: "Was uns froh gemacht, teilen wir aus" - die inhaltliche Füllung wird von den Singenden erwartet.

In jüngster Zeit hat die alte Tradition der Sternsinger, nicht zuletzt dank eines geschickten Einsatzes der Medien, breite Beachtung in der Öffentlichkeit gefunden. Kinder ziehen, als die "Heiligen drei Könige" verkleidet, unter einem großen goldfarbenen Pappstern singend von Haus zu Haus und sammeln Gaben für ihre Altersgenossen in der 3. Welt. Vielerorts beteiligen sich auch evangelische Gemeinden und Gruppen an dieser Aktion. Die Häuser, deren Türen sich für die Sternsinger öffnen, markieren sie mit weißer Kreide und den Buchstaben C, M und B. Das sind die Kürzel für den lateinischen Satz: Christus mansionem benedicat, Christus segne dieses Haus. Nach der Überlieferung heißen die Könige, von diesen Buchstaben abgeleitet, Caspar, Melchior und Balthasar und vertreten zeichenhaft die bis ins Mittelalter bekannten Erdteile Europa, Asien und Afrika. Manchmal ordnete man ihnen auch die drei Lebensalter zu und gestaltete die drei als Jüngling, Mann und Greis.

Vielleicht können diese Kinder und Lieder wie "Stern über Bethlehem" uns helfen, die Erfahrung von Weihnachten noch etwas länger ins neue Jahr mitzunehmen, wie es die Ordnung des Kirchenjahrs mit der Epiphaniaszeit nahe legt. Als Folge der hierzulande oft überlangen Vorlaufzeit neigen wir ja dazu, das Christfest unmittelbar nach den Feiertagen übersättigt aus dem Bewusstsein zu verbannen. Versteht man dagegen die Zeilen "Stern über Bethlehem, kehrn wir zurück, steht noch der helle Schein in unserm Blick, und was uns froh gemacht, teilen wir aus" (Str. 4) nicht nur als abendliche Heimkehr von der Christmette, sondern, mit Matth 2, als "Rückreise" (D. Soelle) in die neue Zeit danach, dann bekommen wir vielleicht Lust, die von den Sternsingern gesammelten Gaben mit unserer Fantasie dorthin zu begleiten, wo sie den mühsamen Alltag von Menschen verändern.

“Vom Himmel hoch da komm ich her” - Evang. Gesangbuch Nr. 24

aus: Evang. Zeitung Nr. 50/ 18.Dez. 2011 S. 24

Die Melodie, in der das Lied "vom Himmel hoch" zu Luthers Lebzeiten gesungen wurde, war der uns vertrauten, die Luther später selbst dazu komponierte, zwar nicht unähnlich (vgl. EG 25!). Aber man erkennt in ihr noch unschwer den "Gassenhauer", der sie damals war: "Ich komm aus fremden Landen her und bring euch viel der neuen Mär " begann er und erzählte irgendeine meist schaurig-schöne Story. Als Luther sein Lied 1534 dazu dichtete, dieses Bänkellied im Ohr, wollte er die Weihnachtsbotschaft aus dem heiligen Buch, das auf dem Altar liegt, herausgeholen und auf den Markt bringen. Denn die Menschen konnten das Evangelium nicht mehr verstehen, auch die, die sonntags in die Kirche gingen; denn dort wurde lateinisch gesprochen und in den Predigten war mehr vom Höllenfeuer zu hören als von Gottes Wort.

Solche Bänkellieder ersetzten damals vielfach die Zeitung. Luther selbst hat 1523 ein solches „Zeitungslied“ über die Hinrichtung zweier Augustinermönche in Antwerpen verfasst und in Umlauf gebracht. Die beiden Ordensleute sollten auf diese Weise als die ersten Märthyrer der Reformation bekannt gemacht werden.

Im Zeitalter von Facebook und Twitter müssen wir uns fragen: Warum hören heute viele Menschen Gottes Wort nicht? Nur, weil sie nicht dorthin gehen, wo es gesagt und gesungen wird? Oder weil das auch heute wieder weithin in einer Form und Sprache geschieht, die die Menschen nicht verstehen können?

Luther ging es darum, die Sängerinnen und Zuhörer seines Liedes in die Situation der Hirten bei Bethlehem zu versetzen, die mit einer Nachricht überrascht werden. "Mär" bezeichnete damals nicht das Märchen, zu dem bei uns oft Weihnachten geworden ist, sondern einen Bericht, ein Geschehen, über das gesprochen wird und gesprochen werden muss. Mär hieß im Griechischen "angelon", die gute Mär des Himmelsboten ist also ein "eu angelon" = lateinisch-deutsch "Evangelium-gute Nachricht".

Der Überraschungseffekt, den Luther mit seinem Lied nachstellte, ist heute in der Christvesper natürlich ungleich schwerer zu erzielen als im Zeitalter der Reformation. Schließlich ist das Weihnachtsevangelium bereits seit Wochen in vielfacher Verzerrung auf allen Straßen und Plätzen breitgetreten und -gefahren worden. Und viele Zeitgenossen meinen, eher zuviel davon gehört zu haben als zu wenig. Aber wir müssen es trotzdem immer wieder versuchen, die überraschende Seite der guten Nachricht aufzudecken. Und wir sollten uns dabei von Luthers Mut, in die Alltagswelt der Menschen zu gehen, anstecken lassen.

Dabei macht der Verfasser die Engelbotschaft aus Lukas 2 durchaus nicht billig. Ob der Reformator, als er sein Lied als "ein Kinder lied auff die Weihnacht Christi" kennzeichnete, wieder einmal seiner Lust an ironischen Übertreibungen fröhnte oder ob hier nur der Herr Professor spricht, unter dessen Katheder lernbegierige Studenten sitzen, aber keine Kinder, muss dahin gestellt bleiben. Jedenfalls ist die Überlieferung, das Lied habe als Krippenspiel im Hause Luther gedient, wohl nur aus einem im Bürgertum des 19. Jahrhunderts sehr beliebten Bild heraus gesponnen: "Martin Luther am Weihnachtsabend 1536 zu Wittenberg. Stahlstich von Carl August Schwerdgeburth (1843)". Das Bild zeigt den Reformator mit Laute im Arm singend mit seiner Frau und seinen damals fünf Kindern, die Jüngste, Magdalena, eben geboren, in der Weihnachtsstube. Das passte hervorragend zu dem deutschen Supermann, zu dem Luther inzwischen hochstilisiert worden war und dessen letzte Ausläufer schließlich die deutschen Christen wurden, zu denen der Katholik Adolf Hitler die Deutschen umfunktionieren wollte.

Aber es passt eben nicht zu "Vom Himmel hoch", weder inhaltlich noch formal. Das Lied eignet sich nur sehr bedingt als Vorlage für ein Krippenspiel in der Familie. Maria und Josef kommen darin nicht vor und die Hirten werden nur am Rande als Wegbegleiter erwähnt. Zwischen den Strophen gibt es zwar öfter einen Wechsel der Rederichtung, aber das dürfte eher der Vorlage des Bänkelliedes nachempfunden sein als der Idee eines kindlichen Laienspiels. Und inhaltlich hat der Reformator seinem "Kinderlied" die ganze schwere schöne Frucht des wiederentdeckten Evangeliums aufgebürdet: "Er will euer Heiland selber sein, von allen Sünden machen rein." (Str. 3) "Und kommst ins Elend her zu mir; wie soll ich immer danken dir?" (Str. 8). Freilich, Luther tut das nicht in der Form trockener dogmatischer Richtigkeiten, sondern dialogisch, anschaulich und mit einer gehörigen Prise volkstümlicher Gesellschaftskritik. Da können sich die Weihnachtsprediger 2011 gern ein Stück abschneiden und sollten das Etikett "links" nicht scheuen, das ihnen bei solchen Sätzen heuer in mancher Citykirche sicher zornig umgehängt wird. "Und wär die Welt vielmal so weit, von Edelstein und Gold bereit, so wär sie doch dir viel zu klein, zu sein ein enges Wiegelein."

Beim Weitersingen wird allerdings schnell deutlich: Hier geht es nicht nur um soziale Korrekturen, hier geht es um den Kern des Evangeliums: "Der Sammet und die Seide dein, das ist grob Heu und Winderlein". Indem Gott diese widersprüchlichen Zeichen seiner Gegenwart wählt, zeigt er an, "wie aller Welt Macht, Ehr und Gut vor dir nichts gilt, nichts hilft noch tut." Die Krippe als Predigerin der sola gratia, allein aus Gnaden.

Und das unterstreicht dann später die neue Melodie Luthers, nach der wir "Vom Himmel hoch" seitdem singen. Die gleichbleibenden Töne des alten Gassenhauers in den Zeilen 1, 2 und 4, die noch die Trommelschläge oder die Fanfare des Bänkelsängers atmen, werden durch ab und aufsteigende Tonleitern ersetzt: Der Himmel kommt in dem Gottessohn auf die Erde und wir durch ihn in den Himmel.

Jedem Anfang wohnt ein Abschied inne - zum Jahreswechsel

Evang. Zeitung Hannover vom 8.1.2012 S. 24

"Ausgang und Eingang" - die ersten Worte sind bereits Programm. Im Glauben geht es ums Verlassen und das im doppeltem Sinn: Nur wenn wir verlassen, was nach den Maßstäben dieser Welt das Leben lohnend macht, finden wir, worauf wir uns verlassen können, genauer den, auf den Verlass ist. Ausgang und Eingang. Umkehr oder Nachfolge heißt das bei Jesus. Deshalb muss "Ausgang" vor "Eingang" stehen.

Beim Durchschreiten einer Tür wird uns normalerweise durch das Aufschwingen des Türflügels angezeigt, ob wir an der Schwelle eines Ausgangs oder Eingangs stehen. Es gibt Ausnahmen, natürlich: Den Salloon im Western betreten und verlassen die Cowboys gleichermaßen durch eine Schwingtür, die Inhaber hatten gewiss gute Gründe dafür. Ähnlich ist es meist beim Durchgang zwischen Schankraum und Küche, mit Rücksicht auf das Servierpersonal. Und Türen von öffentlichen Gebäuden müssen laut Gesetz immer nach außen aufgehen, damit bei einer Panik drinnen kein Stau entstehen kann. In allen andern Fällen geben uns die Türen ein Zeichen; notfalls weist uns ein Schild darauf hin: Ausgang oder Eingang. Im Durchschreiten des einen wie des anderen werden wir an grundlegende Erfahrungen unseres Lebens erinnert:

- Zu jeder Geburt gehört, dass das Baby den schützenden Raum im Mutterleib verlässt und in eine neue Art zu leben eintritt.Die Tiefenpsychologie sagt uns: Beides sind lebenslang nachwirkende Erlebnisse.

- Beim Eintritt in den Kindergarten, dem Verlassen der Schule, dem Abschied vom Elternhaus werden ähnliche Erfahrungen gemacht.

- Andere wichtige Ausgänge und Eingänge: Der Übergang vom Singleleben zur Partnerschaft, von der Zweisamkeit zum Familienleben, beim Berufs- oder Wohnortwechsel.

- Auch so alltägliche Vorgänge wie das Zubettgehen oder das morgendtliche Ausstehen tragen Züge solchen Aus- und Eingehens.

Der Kanon von Joachim Schwarz stammt aus dem Jahr 1962 und fußt auf dem Psalmvers 121,8: "Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang, von nun an bis in Ewigkeit." Die Ausleger deuten dieses Wort als Segenszusage des Priesters an einen Wallfahrer beim Verlassen des Heiligtums.

Schwarz berichtet über die Entstehung des Kanons: "Ich war auf einer Reise nach Willingen/ Waldeck (im Sauerland).... Der Text ist mir sozusagen <zugefallen>. Die besondere Situation war die, eine Gemeinde aus Berlin (im dortigen Freizeitheim) singend zu betreuen. Die gesamte politische Lage war ja in dieser Zeit, in der die Mauer gebaut wurde, so, daß kein Mensch wußte, was aus Berlin werden würde."

Schwarz, von Hause aus Diakon und Kirchenmusiker, war schon früh an der Arbeitsgemeinschaft Musik in der evangelischen Jugend beteiligt. Er sorgte für Zusammenkünfte von Textautoren und Komponisten neuer geistlicher Lieder und war bei zahlreichen Kirchentagen als Singeleiter eingesetzt. Zur Kanonmelodie schreibt er: "Bei der Melodie bin ich dem Sprachrhythmus nachgegangen. Die Vokale A und E - Ausgang und Eingang, Anfang und Ende - habe ich mit halben Noten belegt. Der musikalische Höhepunkt sollte dann die Oktave bis c2 sein, die auf dem Wort „Herr" liegt, bevor sie auf dem Ausgangs-cl der letzten Silbe von "Hände" zur Ruhe kommt. Die Betonung des Wortes ,füll" in der letzten Zeile wird durch die punktierte Viertelnote hervorgehoben."

Eigentlich geht es zweimal im Kanon um die Hände: Zum einen um die Hände Gottes, in denen Anfang und Ende liegt, also alles, was uns ausmacht und bestimmt. Und was wir als Krise, vielleicht sogar als Bruch empfinden, ist in Wahrheit doch nur der kleine Übergang von Gottes linker Hand in seine Rechte - oder umgekehrt. Gottes mit unserer ganzen Lebensgeschichte gefüllten Händen - das ist das eine. Und das andere sind unsere Hände. Sie müssen leer sein, damit Gott sie füllen kann. Manchmal bedeutet Ausgang für uns, dass wir etwas aus den Händen legen müssen, damit sie wieder leer und empfangsbereit sind für die Gabe Gottes. Dass wir beim Beten die Hände falten, hat den Sinn, dass wir alles aus der Hand legen und die Hände daran hindern, nach etwas zu greifen, wenn wir beten: Füll du uns die Hände!

Der Segen, mit dem Gott unsere Hände füllt, ist keine Last. Er macht uns nicht müde und träge, ganz im Gegenteil: Dieser Segen ist wie ein Ball, den wir auffangen, um ihn weiter zu werfen. Wenn wir in der Gruppe einen Kanon singen, spüren wir unwillkürlich etwas von diesem Auffangen und weiter Geben. Wir warten auf den Einsatz unserer Singgruppe, das ist wie das Auffangen. Und dann setzt kurz nach uns eine andere Gruppe ein: Wir geben den Melodieanfang weiter. Und wenn alle miteinander singen, erleben wir beides: die Konzentration auf unseren Part und die Harmonie des Zusammenspiels.

Jemand (Theo Sorg) hat den Segen unseres Psalmwortes mal als "Schutzbrief der Liebe Gottes" bezeichnet. Autofahrer kennen das: Sie kaufen sich einen Schutzbrief bei einer Versicherung oder einem Automobilclub. Der garantiert ihnen nicht Unfallfreiheit, ungefährdete Gesundheit oder dass sie keine Panne erleben. Aber er garantiert ihnen, dass ihnen in einem solchen Fall jemand zu Hilfe kommt, jemand für sie da ist. Wenn wir uns den Segen zusprechen lassen, füllt Gott unsere Hände mit dem Schutzbrief seiner Liebe.

Das bedeutet letztendlich auch dies: Kein Ausgang ist nur Ausgang. Auch wo wir endgültig am Ende sind, schenkt Gott uns den Eingang in etwas Neues. Deshalb segnen wir den Leib eines Verstorbenen mit den Worten: Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.

Die Ankunft des Königs – Lieder der Advents- u. Weihnachtszeit 1: Macht hoch die Tür

Evang. Zeitung Hannover 7.12.14 S. 24

Mit einem Menschen kann man auf du und du sein und ihn trotzdem nicht wirklich kennen. Mit einem Lied ist es ähnlich: Es kann einem ganz vertraut sein, aber weil man über seine Hintergründe nichts weiß, versteht man es nicht wirklich.

Das Lied „Macht hoch die Tür“ wurde am 2. Advent 1623 zur feierlichen Einweihung der neu errichteten Altroßgärter Kirche in Königsberg angestimmt. Gedichtet hat es der junge Pfarrer Georg Weissel, der eine Woche später 33jährig als erster Pfarrer dieser heute nicht mehr erhaltenen Kirche in sein Amt eingeführt wurde und dazu ein weiteres bis heute sehr beliebtes Lied beisteuerte: „Such wer da will ein ander Ziel“ (EG 346).

Das Lied schlägt also einen weiten Bogen: Von der großen Freude der adventlich gestimmten Gemeinde im ostpreußischen Altroßgarten, der sich an diesem Tag erstmals die Tür zu ihrer sehnlich erwarteten Kirche auftat, bis zu den jubelnden Pilgern beim Einzug Jesu in Jerusalem, von denen der Evangelist Matthäus im 21. Kapitel erzählt; und von dort noch einmal zurück zum 24. Psalm im Alten Testament, der in der evangelischen Kirche seit der Reformation neben dem Evangelium Matth. 21 zum festen Bestandteil des 1. Adventssonntags gehörte.

Psalm 24 verdankt seine Entstehung ebenfalls einem Einzug: dem der Lade, dem heiligen Schrein mit den Gebotstafeln in das von König David zur neuen Hauptstadt seines Königsreichs erhobene Jerusalem. Wenig später errichtete sein Sohn und Nachfolger Salomo hier den ersten Tempel, in dem die Lade einen zentralen Platz einnahm. Seitdem bildete der „Einzug“ ein regelmäßig wiederkehrendes festliche Ritual. Die Liturgie sah einen Wechselgesang zwischen den wartenden Priestern drinnen und denen, die draußen den feierlichen Umzug mit der Lade, dem Symbol für Gottes Gegenwart, anführten, vor. „Erhebt, ihr Tore, eure Häupter, erhebt euch, ihr uralten Pforten, dass einziehe der König der Herrlichkeit“, rief die Menge draußen – so die wortgetreue Übersetzung des Psalms. Und von drinnen klang es zurück: „Wer ist der König der Herrlichkeit?“. Mehrmals wiederholte sich dieses Fragespiel, das den Menschen bewusst machen sollte, dass Gott nicht einfach da ist in ihrem Feiern, sondern mühsam entlarvt und entdeckt werden muss in dem vielen, das sie beeindruckt. erfreut und berauscht. Bis auf die drängende Frage der Einziehenden schließlich die erlösende Antwort ergeht: Der Herr der Heerscharen, er ist der König der Ehren (Ps 24,10).

Zur Zeit des Einzugs Jesu in Jerusalem gehörte dieses festliche Ritual schon lange der Vergangenheit an: Der Tempel war ebenso wie das Königtum in Israel von übermächtigen Feinden zerstört und abgeschafft. Nur noch in kleinen familiären Gruppen konnten die Juden, nach überall in der Welt zerstreut, ihren Gott feiern und auf die Erfüllung der Verheißung des Propheten Sacharja hoffen: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin“ (Sach 9,9). Aber was die Menschen mit Jesus erlebten, bestärkte sie in der Hoffnung, dass die von Sacharja angedeutete Wirklichkeit unmittelbar bevorstand. Und als die zum bevorstehenden Pessachfest zahlreich in Jerusalem versammelten Pilger hörten, dass der aus Nazareth im nördlichen Galiläa stammende Jesus jetzt auf dem Weg nach Jerusalem sei, bereiteten sie ihm den Einzug, von dem sie wieder und wieder in den Prophetenbüchern gelesen hatten – und vergaßen in ihrer Begeisterung die kritische Rückfrage der alten Festliturgie: „Wer ist der König der Ehren?“ und konnten ihren König deshalb wenig später auch nicht wieder erkennen, als er ihnen, von den Römern zusammengeschlagen und gedemütigt, von Pilatus vorgeführt wurde.

Auch das Lied „Macht hoch die Tür“ spricht ausschließlich von der Freude über den kommenden Herrn, „der Heil und Leben mit singt bringt; derhalben jauchzt, mit Freuden singt.“ Vergessen scheint, dass der Advent nach aler Tradition eine Fastenzeit ist, getreu dem alten Ritus und seiner kritischen Frage: Wer ist der König der Ehren? Kein Wunder, möchte man sagen, wenn man an das Freudenfest in Altroßgarten denkt. Und wenn man an die Verwandlung des Advents zur Vorweihnachtszeit heute denkt, kann es auch nicht wundern, dass dieses Lied mit seiner schwungvollen Melodie – die es übrigens erst nach der Zeit Georg Weissels erhielt – heute in allen Kirchen zum beliebtesten Adventslied avanciert ist.

Aber wenn man genauer in den Text hinein schaut, findet man doch einiges, was mitten im fröhlichen Singen zum Nachdenken einlädt: Da ist die Beschreibung dieses Königs in Strophe 2: Gerecht ist er und ein Helfer, sanftmütig und barmherzig. Wer nur im Genuss schwelgt und auf Absicherung seiner Zufriedenheit aus ist, wird mit einem solchen König nicht viel anfangen können. Und wer bei Herz nur an Diät denken kann und an Infarkt, allenfalls noch an rührselige Nachrichten von Stars und gekrönten Häuptern, der wird sich schwer tun mit der Vorstellung: Dein Herz hat eine Tür. Schau mal hinein, wie es dahinter aussieht, und räum mal ein wenig auf; denn es hat sich Besuch angesagt.

Der Einzug des Königs – Lieder der Advents- und Weihnachtszeit (2): Tochter Zion, freue dich - EG 13

Evang. Zeitung Hannover 14.12.14 S. 24

Es gibt gute Gründe, das Lied „Tochter Zion, freue dich“ eine Satire zu nennen. Friedrich Heinrich Ranke, der jüngere Bruder des bekannten Historikers Leopold von Ranke, hat den Text auf der Grundlage eines beliebten Opernchors von Friedrich Händel geschrieben. Und in diesem Chorsatz aus dem Oratorium Joshua – wenig später auch in das Oratorium Judas Maccabaeus übernommen - wird der siegreich heim­kehrende Kaleb mit den Worten begrüßt: „See, the conquering hero comes - Seht, er kommt mit Preis gekrönt!“. Indirekt widmete Händel dieses Loblied dem siegreichen Herzog Cumberland, der wenige Wochen vorher in einer blutigen Schlacht die schottischen Anhänger des gestürzten Königs Jakob II geschlagen und erbarmungslos vernichtet hatte – bis heute haftet ihm in Schottland der Beinamen „the Butcher“ („der Schlächter“) an –.

Anfang des 19. Jahrhunderts, als unser Lied entstand, war es in vielen Häusern des gehobenen Bürgertums Sitte, zu Hausmusiktreffen einzuladen, so auch im „musikalischen Salon“ von Karl von Raumer in Erlangen, in dem Ranke verkehrte, der zu der Zeit Lehrer in nahen Nürnberg und dann Pfarrer in Rückersdorf war. Dabei war es beliebt, neue religiöse Dichtungen auf allgemein bekannte Melodien zu erfinden und gemeinsam zu singen. Die gebildeten und aufgeklärten Bürger nahmen dies als Ersatz für den sonntäglichen Gottesdienst, der ihnen unerheblich geworden war. „Am Palmsonntage“ stand über dem Lied, als es wenig später in „Christ­liche, liebliche Lieder. Gesammlet und hg. von Louise Reichardt“, selbst Mitglied der Familie Raumer, gedruckt erschien.

Am Palmsonntag wird, wie am 1. Advent, das Evangelium vom Einzug Jesu in Jerusalem im Gottesdienst gelesen. Auch dort wird einer mit jubelndem Beifall willkommen geheißen. Im Advent blickt die Gemeinde dabei voraus auf das Kind, das zu Weihnachten in einer Krippe in Bethlehem geboren wird; dazu stimmt der Chor der himmlischen Heerscharen vor den Hirten das „Ehre sei Gott in der Höhe an“ (Luk 2, 14). Zu Beginn der Karwoche kommt der Lobpreis aus dem Mund der zahlreichen Pilger, die zum Pessach-Fest aus aller Welt nach Jerusalem gereist sind und nun dem Mann zujubeln, der auf einem Esel in die Stadt einreitet und dabei an die alte Verheißung anknüpft: „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer“.

Hier finden sich auch die Worte unseres Liedes fast wörtlich wieder: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze.“ (Sach 9,9). Außerdem wird noch auf verschiedene andere Bibelstellen angespielt, z.B. auf Ps 118,24f: „Dies ist der Tag, den der Herr macht. Lasst uns freuen und fröhlich an ihm sein. O Herr, hilf, o Herr, lass wohl gelingen“, hebräisch hosianna; und so wird es im Evangelium aufgenommen: „Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herren! Hosianna in der Höhe!“ (Matth 21,9).

Ursprünglich enthielt das Lied noch zwischen der 2. und 3. Strophe den Vers:

Sieh! er kömmt demüthiglich.

Reitet auf dem Eselein,

Tochter Zion freue dich!

Hol ihn jubelnd zu dir ein.

Diese Strophe wurde aber offenbar nie in ein Liederbuch übernommen, ob aus formalen Gründen – die einzige gereimte Strophe! - oder aus inhaltlichen, muss offen bleiben. (Man weist z.B. darauf hin, dass dieser Vers mit seiner Aufforderung „hol ihn jubelnd zu dir ein“ hinter die schon geschehende Einholung von 1 und 2 zurückfällt.)

Zentrale Stichwörter im Lied sind „Friedefürst“ (Str. 1 und 3) und „ewig“ (2 und zweimal in 3). Von daher könnte man fragen, ob der Blick des Dichters weniger auf den „Friede auf Erden“ (Luk 2, 14), als auf den „ewigen Frieden“ gerichtet ist, dem die Welt und wir alle entgegen gehen. Natürlich kannten Ranke und seine Mitsänger im musikalischen Salon in Erlangen den blutigen Hintergrund der Melodie, die sie sangen. Aber entweder zählten sie zu den vielen damals, für die christliche Gesinnung und monarchische Treue noch fest zusammen gehörten und die Kompetenzen zwischen Himmel und Erde säuberlich getrennt waren. Oder sie waren sich des inneren Widerspruchs von Melodie und Text durchaus bewusst und sahen darin eine sachgemäße Wiedergabe des Evangeliums vom Einzug Jesu in Jerusalem; denn auch dort haben ja die allermeisten nicht verstanden, dass sie einem König zujubelten, der seinen Thron auf der Hingabe für Frieden und göttliche Gerechtigkeit aufbaut, nicht auf Gewalt und Unterdrückung.

Mit Recht weist Joachim Stallmann auf den Unterschied zwischen der Szenerie Händels und unserm Choral hin: „Dabei ist die (Tendenz des Liedes) dem Triumphzug eines irdischen Feldherrn doch völlig entgegen­gesetzt, schreibt er mit Blick auf den Einzug Jesu als sanftmütiger Friedenskönig. Aber Stallmann gibt zu bedenken: „Wenn der Vergleich erlaubt ist: Indem Ranke Händels Triumphchor neu textierte und vom Alten ins Neue Testament versetzte, hat er musikalische Schwerter zu Pflugscharen (Jes 2,4; Mi 4,3) umgeschmiedet.“

Wer dieser wohlwollenden Deutung nicht folgen will, wird sich vielleicht eher mit der einer leisen Parodie der Kriegsherren anfreunden, die offenbar auch Thomas Mann heraushörte, als er dieses Lied in seine Beschreibung der Buddenbrockschen Weihnachtsfeier einbaute. Dass die Militärkapelle gerade dieses Lied bei der Einweihung der Erlöserkirche in Jerusalem 1898 spielte, nachdem Kaiser Wilhelm II. triumphal in der Stadt eingeritten war, - am 31. Oktober, nicht im Advent! - , unterstreicht das auf seine Weise.

Die verbotene Krippe –

Lieder der Advents- und Weihnachtszeit (3): Ihr Kinderlein kommet

Evang. Zeitung Hannover 21.12.14 S. 24

Unser Lied ist eine späte Form des „Aktionsliedes“ (Martin Rößler), das seinen Ursprung in den vielfältigen Spielformen hat, die seit der Jahrtausendwende in der Kirche immer größeren Raum einnehmen. Zu diesen Darstellungen gehörten Lieder, die das Geschehen den Zuschauern erläuterten. Denn nur gesungen waren Texte in den großen Hallenkirchen oder im Freien zu übermitteln, ähnlich wie in der Liturgie.

Im Gefolge der Reformation kam dieses Spiel mehr und mehr aus der Mode und erst mit der sich ausbreitenden Sitte, zu Weihnachten Krippen in der Kirche aufzubauen, kam das Aktionslied noch einmal zurück, jetzt mit der Absicht, das figürlich Dargestellte zu erläutern. Deshalb die Betonung des „seht“ (Str. 1 und 2) und die Ausrufe „o“ und „ach“.

Bei Liedern wie den hier besprochenen ist jedoch „der Hintergrund ...wichtig“, betont Martin Rößler. „Mehr noch als bei den Kirchenliedern, die qua definitione für den christlichen Gottesdienst oder für die Hausandacht geschaffen sind, muss man sorgfältig nach den Motiven der Entstehung fragen“ ( Texte, Typen und Themen des deutschen Weihnachtsliedes S. 249).

Der Dichter unseres Liedes, der katholische Pfarrer Christoph von Schmid aus dem schwäbischen Thannhausen a.d. Mindel, erinnerte sich zeitlebens gern an eine Krippendarstellung in seiner Heimatkirche im mittelfränkischen Dinkelsbühl. Auf einer großen freien Fläche in der Kirche war eine ganze Berglandschaft aufgebaut, erinnert sich Schmid, der in späteren Jahren vom bayrischen König als bekanntester Jugendschriftsteller seiner Zeit geadelt wurde. „Die ganze Jugendgeschichte Jesu wurde so nach und nach vorgestellt. Das Kind Jesu in der Krippe, Maria und Joseph und dabei die anbetenden Hirten, die Heiligen Drei Könige, die Flucht nach Ägypten und zuletzt der zwölfjährige Jesus im Tempel. Die Anordnung der Szenen war einem in seiner Art sinn­reichen Manne anvertraut, der fast täglich eine Verände­rung anzubringen wusste, womit er die Zwischenbegeben­heiten der Hauptgeschichten ausfüllte. Am Abend vor der heiligen Nacht zum Beispiel war der Stall noch leer, und zwei Engel waren da und kehrten die Spinnengewebe ab“. Diese ständigen Erweiterungen der Szenerie lockten natürlich Alt und Jung immer neu an. „Ich bin zu keiner Stunde des Tages durch die Kirche gegangen, oh­ne dass ich Leute, besonders Mütter und Kinder sowohl katholischer als evangelischer Konfession vor der Krippe stehend bemerkt hätte“, schreibt von Schmid in seinen Lebenserinnerungen.

Als Pfarrer von Thannhausen war er aber auch auf solches Erinnern angewiesen; denn inzwischen waren solche Darstellungen wie in Dinkelsbühl landauf landab von der Regierung verboten. Der vom aufklärerischen Geist beseelte Graf v. Thürheim, Kurfürstlich fränkischer Landkommissar hatte aus Bamberg am 4. Nov. 1803 verfügt: „sinnliche Darstellungen gewisser Religionsbegebenheiten“ seien nur in den Zeiten nützlich gewesen, „in welchem es an geschickten Religionsdienern fehlte ... und das Volk noch auf einer so niedrigen Stufe der Kultur und Aufklärung stand, daß man leichter durch Versinnlichung der Gegenstände als durch mündlichen Unterricht und Belehrung auf den Verstand wirken und dem Gedächtnisse nachhelfen konnte“ (H. Petrich, Unser geistl. Volkslied).

Ob es die Folge dieser bornierten Verordnung war oder die Erkenntnis, dass die Lust an der Darstellung manchmal die Weihnachtsbotschaft auch zu überwuchern droht, muss offen bleiben. Jedenfalls hat Schmid die in seiner Handschrift noch erhaltene folgende Strophe später selbst gestrichen:

Manch Hirtenkind trägt da wohl mit freudigem Sinn,

Milch Butter und Honig nach Bethlehem hin;

Ein Körblein voll Früchte, das purpurroth glänzt,

Ein Schnee-weißes Lämmchen mit Blumen bekränzt.

Eine weitere Strophe wurde von der Gesangbuchkommision entfernt, vermutlich, weil sie, anders als die letzte, zu stark ins Moralisieren verfällt.

Was geben wir Kinder, was schenken wir Dir,

Du Bestes und Liebstes der Kinder dafür?

Nichts willst Du von Schätzen und Freuden der Welt -

Ein Herz nur voll Unschuld allein Dir gefällt.

Viele der Erzählungen Schmids weisen diesen damals beliebten und erwünschten Trend zu einer überdeutlichen „Moral von der Geschicht“ auf. Aber die Geschichten zeigen auch, was Christoph von Schmid am Wichtigsten war. So z.B. die Erzählung von dem armen Waisenjungen Anton, der sich im verschneiten Wald verirrt und am Ende nur durch den Gesang einer Familie gerettet wird, die, im Wohnzimmer ihrer einsamen Waldhütte um die Krippe versammelt, Weihnachtslieder singt. Hier findet Anton freundliche Aufnahme und die Erzählung erreicht ihr Ziel, als die Kinder gemeinsam die große Krippe betrachten und sich gegenseitig erklären. »Nun wohl,« sagt Anton am Ende, »das ist alles sehr schön. Allein das Schönste ist doch die Abbildung des himmlischen Kindes! ... um jenes Kindes willen, das hier abgebildet ist, hat mich der himmlische Vater aus meiner großen Not errettet.«

Die Melodie hat Johann Abraham Peter Schulz ursprünglich für ein weltliches Lied komponiert. Erst zwei Generationen später fanden Weihnachtsgedicht und volks­liedhafte Töne zusammen. Auch Schulz verfolgte, wie Schmid, ein missionarisches Anliegen: Er habe sich beim Komponieren bewusst „ der höchsten Simplicität und Faßlichkeit beflissen“, damit keiner das Mitsingen verweigern könnte.

Weihnachten im Twitter-Stil –

Lieder der Advents- und Weihnachtszeit 4/ Schluss): O du fröhliche -

Evang. Zeitung Hannover 04.01.15 S. 16

Das Lied „O du fröhliche, o du selige Weihnachtszeit“ ist eigentlich ein Zugeständnis an unsere Lust, das Fest der Christgeburt hingebungsvoll zu feiern. Denn sein Verfasser, Johannes Daniel Falk, hat ursprünglich ein Lied für die drei Hauptfeste der Christenheit geschrieben, Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Und darin bildete die „selige Weihnachtszeit“ nur die erste Strophe. In der zweiten ging es um die „Osterzeit“ und die Strophe fuhr dort: „Welt liegt in Banden, Christ ist erstanden“. In der 3. schließlich wird die „Pfingstenzeit“ beschrieben mit „Christ, unser Meister, heiligt die Geister. Freue, freue dich, o Christenheit!“

Falk hatte nach einer lebensgefährlichen Erkrankung, in deren Folge auch seine 4 Kinder innerhalb weniger Tage starben, zu einer neuen Zielsetzung in seinem Leben gefunden: Aus dem wenig erfolgreichen Poeten war ein Diakon für verwahrloste Kinder geworden. In Folge der verheerenden Völkerschlacht bei Leipzig 1813 fanden sich damals überall auf den Straßen Mitteldeutschlands hunderte von Kindern und Jugendlichen, deren Eltern entweder tot oder vermisst waren. Sie suchten sich mit Betteln und Diebstahl durchzuschlagen. Und dem Staat fiel nichts Besseres ein, als sie zu bestrafen und einzusperren. Falk nahm zunächst einige von ihnen in Weimar in seine verwaisten Kinderzimmer auf und gründete dann einen Verein, „die Gesellschaft der Freunde in Not“, der ein heruntergekommenes Schloss erwarb und darin den „Lutherhof“ einrichtete. Hier wurden die Straßenkinder versorgt und von Erziehern unterrichtet. Und weil Falk auch ihre religiöse Erziehung wichtig war, dichtete er für seine Zöglinge, die kaum jemals eine Schule von innen gesehen hatten, unser einfaches, leicht erlernbares Lied über die drei Hochfeste der Christen, sozusagen ein kleines gesungenes Glaubensbekenntnis. Vergleichbares geschah in den Zeiten der geistlichen Verwahrlosung in der DDR in unserm Jahrhundert, als der Jugendpfarrer Walter Schulz das Lied „Gott liebt diese Welt und wir sind sein eigen“ erfand.

Die ebenso einprägsame wie gefühlvolle Melodie hatte er aus seinem vorigen Leben mitgebracht, als er mit anderen Dichterfreunden zum Salon des berühmten Johann Gottfried Herder gehörte, der sich u.a. das Sammeln von volkstümlichen Melodien zur Aufgabe gemacht hatte. Die Melodie von „O du fröhliche“ hatte er bei einer Fischerhochzeit in Palermo entdeckt. Die Fischer lobten damit ihre verehrte Jungfrau Maria: „O sanctissima, o purissima“. Auch wenn man kein italienisch versteht, ahnt man schon bei diesen wenigen Worten etwas von der tiefen Sehnsucht dieser einfachen Männer, aus dem Dreck und der ständigen Lebensgefahr ihres ärmlichen Alltags befreit zu werden. Falk spürte wohl instinktiv, dass seine Zöglinge in Weimar sich in dieser Melodie wieder erkennen und deshalb die wenigen Textzeilen mit ihren vielen Wiederholungen gern singen würden.

Aber was schon damals in den christlichen Kirchen überall zu spüren war, ging auch am Lutherhof nicht spurlos vorüber: Mit der Popularität von Weihnachten konnten weder Ostern noch Pfingsten Schritt halten. Und damit die Kinder bei den vielen Gelegenheiten in der Weihnachtszeit mehr als eine Strophe zu singen hatten, dichtete Heinrich Holzschuher, einer der Erzieher und Freund des Leiters, zwei weitere Weihnachtsstrophen dazu. In dieser Fassung nahm das Lied seinen Lauf durch die Gesangbücher und verdrängte nach kurzer Zeit den ursprünglichen Text.

Dazu kam es auch dadurch, dass es Holzschuher gelang, in die neuen Strophen wichtige theologische Inhalte der Weihnachtsbotschaft einzubringen, ohne das schlichte Grundmuster zu sprengen. So erklärte die 2. Strophe in aller Kürze, dass die Geburt des Gottessohnes nötig war, um die Sünde der Menschheit zu überwinden: „Christ ist erschienen, uns zu versühnen“. Und die 3. Strophe erinnert in nur fünf Worten an die Erscheinung der Engel in der biblischen Weihnachtsgeschichte: „Himmlische Heere jauchzen dir Ehre“.

Man kann sagen: Falk und Holzhschuher haben erfolgreich von Weihnachten getwittert; kaum ein Weihnachtslied hält wie dieses die Botschaft der Christgeburt unter uns wach. Und wenn es gelänge, den Hintergrund dieses Chorals genauso unter die Leute zu bringen, dann könnten auch zwei weitere ursprüngliche Ziele erreicht werden: Wir könnten uns erinnern, dass es zu Weihnachten nicht nur darum geht, sich in der Hängematte eines gemütlichen Weltschmerzes zu schaukeln, sondern darum, darauf zu achten, wo die „Welt“ heute „verloren geht“ und nach Kräften etwas dagegen zu tun. Und: Wir könnten uns dazu aufrufen lassen, nach Weihnachten unsere christlichen Gedanken nicht mit dem Christbaumfuß in die Rumpelkammer zu stellen, sondern auch die anderen Feste der Christenheit in das ihnen gebührende Licht zu stellen.

Zu Ostern sind wir, wie mir scheint, da schon auf einem guten Wege. Die Tatsache, dass immer mehr Christen in Deutschland inzwischen wissen, dass nicht Karfreitag, sondern Ostern das höchste Fest der Kirche ist, stimmt mich zuversichtlich. Bei Pfingsten bleibt da noch einiges zu tun. Aber die sich ausbreitende Ahnung, dass wir von allen guten Geistern verlassen wären, wenn das Wort Gottes in unserm Alltagsleben nicht mehr zu hören wäre, berechtigt auch da zur Hoffnung. „Christ, unser Meister, heiligt die Geister. Freue, freue dich, o Christenheit.“