Unbenannte Mitteilung

Gepostet am: Sep 26, 2014 3:59:54 PM

aus: Vorbilder des Glaubens - GottesdienstPraxis B - hg. v. Christian Schwarz - Gütersloh 2014 S. 73 - 79 und 80 - 85

Judas Iskarioth 1

Judas als Vorbild? Das scheint sicher den allermeisten von uns ein Missverständnis, jedenfalls auf den ersten Blick. Schaut man allerdings etwas länger hin und begreift "Vorbild" als das, was es aussagt, dann kommt man zumindest ins Nachdenken: Ein Vorbild ist ein Bild, das es lohnt, sich vor Augen zu halten. Und das gilt für Judas tatsächlich, und zwar gleich in dreifacher Weise:

1) Judas ist ein geradezu klassisches Beispiel dafür, wie wir mit Eigenschaften und Erfahrungen umgehen, die wir an uns nicht mögen: Wir hängen sie anderen an und glauben, wir seien sie damit los.

2) Judas ist ein Vorbild, wie man mit seinen Enttäuschungen nicht umgehen soll. Er kann uns lehren, wie wir Irrwege vermeiden und an Fehlentscheidungen nicht zerbrechen. Und

3) Judas ist ein unverzichtbares Vor-Bild, wenn wir tiefer in unsern Glauben eindringen und mit Erfahrungen fertig werden wollen, die unser Vertrauen auf Gott in Frage stellen wollen.

Zum Ersten:

Um Judas als Vorbild zu erkennen, müssen wir zuerst einmal sehen lernen, wer er überhaupt ist. Was in der Bibel über ihn steht und was die Überlieferung und unsere Phantasie daraus gemacht haben, ist nämlich nicht dasselbe. Aber auch die verhältnismäßig wenigen Sätzen und Anspielungen im Neuen Testament stimmen untereinander nicht überein. Schon sein Beiname Iskarioth lässt sich nicht eindeutig erklären. War das nur, wie bei Jesus das "von Nazareth", eine Herkunftsbezcichnung, die ihn von einem andern Jünger mit dem gleichen Namen unterscheiden sollte 2? Und lag der Ort Karioth/ Kerijot wirklich in Judäa 3 , sodass Judas als Judäer schon immer eine Sonderrolle in der aus Galiläa stammenden Jüngerschar 4 eingenommen hätte? Manche denken auch, Iskarioth sei eine Gruppenbezeichnung ("die Dolchmänner") und kennzeichne Judas als Mitglied einer Untergrundbewegung gegen die Römer 5.

Der Zusammenhang von Judas und Geld ist ebenfalls nicht eindeutig. Bei Markus heißt es nur, die Hohenpriester hätten ihm eine Belohnung angeboten, als er ihnen den Verrat anbot. Matthäus nennt in dem Zusammenhang 30 Silberlinge; hier fragt Judas bereits nach einer Belohnung. Und bei Johannes, dem spätesten Evangelium, ist Judas bereits der unredliche Kassenwart der Jüngergruppe 6. Vieles spricht dafür, dass Judas die Geldgier nur im Zuge einer schon in neutestamentlicher Zeit einsetzenden Neigung zur Kriminalisierung und Dämonisierung seiner Person angehängt wurde. Die 30 Silberlinge haben bei Matthäus einen ganz anderen Sinn: Sie sollen belegen, dass alles, was mit Jesus geschah, in der Heiligen Schrift vorhergesagt war 7, Jesus also der verheißene Messias Israels ist.

Ebenso unklar sind die Andeutungen über das Ende des Judas. Hat er sich aus Reue noch vor der Kreuzigung erhängt 8 oder ist er später durch einen Unfall gestorben 9 ? Nach Paulus gehört Judas zu den ersten Zeugen der Auferstehung Jesu 10, auch Lukas nennt ihn einen Apostel 11 . Martin Meiser kommt nach seinem gründlichen Quellenstudium zu dem Schluss: "Man wird zweierlei als historisch festhalten können: 1. Judas starb irgendwann nach dem Zeitpunkt der Gefangennahme, aber wohl kaum bereits am Todestag Jesu; die Todesursache ist unbekannt. 2. Nach der Gefangennahme Jesu ist er nicht mehr in die christliche Gemeinde zurückgekehrt." 12 .

Überein stimmen alle vier Evangelien in der Aussage, dass Judas unmittelbar, nachdem er mit Jesus das letzte Mahl gefeiert hat, ihn an seine Gegner verraten habe. Aber auch diese Eindeutigkeit bröckelt schnell, wenn man nachfragt. Brauchte es überhaupt einen Verräter, um den bekannten und unbewaffneten Wanderprediger im Schutze der Nacht festzunehmen? Das Argument, es hätte sonst in der Öffentlichkeit einen Aufstand seiner Anhänger gegeben, passt ja nicht zu der wenig später berichteten Nachricht, dass das Volk von Jerusalem einmütig für seine Kreuzigung stimmt. Und der Judaskuss? Macht er unter diesen Bedingungen als "Zeichen" überhaupt Sinn (Mt + Mk)? Oder ist er gar Ausdruck der verlogenen Hinterhältigkeit (Lk)? "Im jüdischen Kontext (ist der Kuss) ehrende Begrüßung des Höhergestellten, und in diesem Falle wohl kein Kuss auf den Mund, sondern vielleicht auf die Hand oder (mit Kniefall) auf die Füße oder das Knie des anderen. Der Funktion als Gestus der Begrüßung entspricht die Anrede »Rabbi«." 13 . Wurde Judas also vielleicht ungewollt zu Verräter, nur weil er Jesus in einer heiklen Situation freudig begrüßte? Hätte der Jünger, der in dieser Situation zum Schwert griff (Petrus?), nicht eher auf Judas eingeschlagen als auf einen der Soldaten, wenn er in ihm schon den hinterhältigen Ex-Jünger gesehen hätte? Schließlich und vor allem: Warum erzählen die Evangelisten überhaupt mit so deutlicher Entrüstung vom Verrat des Judas, wenn sie doch gleichzeitig überzeugt waren, dass der Weg Jesu zum Kreuz vorbestimmt war und Jesus ihn bewusst und freiwillig ging?

Überdenkt man all diese Ungereimtheiten, so kommt man m.E. fast zwangläufig zu dem Schluss: Judas hat Jesus im Grunde nicht anders verraten als alle andern Jünger, nämlich indem er ihn im Stich ließ. Ob er sich darüber hinaus mit etwas hervortat, ist nicht sicher.Von Petrus wird ja immerhin ausdrücklich erzählt, dass er dreimal öffentlich leugnete, es je mit Jesus zu tun gehabt zu haben. Im Unterschied zu ihm und den andern mag Judas sich allenfalls (weil aus Judäa stammend?) nach der Nacht in Gethsemane nicht versteckt, sondern weiter in der Öffentlichkeit gezeigt haben. Alles, was seine Gestalt so verlogen und verabscheungswürdig erscheinen lässt, wurde dann wohl nach und nach in seine Figur hinein gemalt; denn die Geschichte von dem unschuldig leidenden Jesus schrie von Anfang an nach einem Schuldigen - und nichts tut besser, als wenn man heimliche Selbstvorwürfe auf einen anderen abwälzen kann. Wir bürden, wie die Kirche vor uns, Judas auf, "was an Aggressionen, Mordgelüsten, Habsucht und Glaubenszweifeln in uns selbst steckt. Das bedeutet: Wir müssen lernen, in der Fratze, die wir an die Wand gezeichnet haben ("Vorbild"!), unsere eigenen Züge zu entdecken.", sagt Hans-Josef Klauck 13 .

Außerdem brauchten die kleinen Christusgemeinden in der Zeit der Verfolgung durch die Römer immer wieder die dringende Mahnung, für einander einzustehen und keinem Außenstehenden leichtfertig die geheimen Versammlungen zu verraten. Markus war der erste, der in diesem Sinn Judas als Vorbild zeichnet. Judas gehörte zum Kern der Jüngerschaft und nahm am Abendmahl teil. Trotzdem wurde er zum Verräter. Keine Kirche ist dagegen gesichert, dass sich einer aus ihrer Mitte eines Tages gegen sie stellt. Gleichzeitig ist dies eine unüberhörbare Warnung an alle Gemeindeglieder vor Selbstsicherheit des Glaubens.

Hinzu kam aber vor allem, dass der Name Judas sich besonders gut dazu eignete, die in der ersten Christenheit rasch zunehmende Abneigung gegenüber den Juden, die sich bald in Hass und Denunziation steigerte, bei diesem einen Juden abzuladen. Die gelegentliche Behauptung, dass Judas überhaupt nur eine Erfindung dieses Judenhasses sei, wurde zwar mit Recht als mit den Quellen nicht vereinbar zurückgewiesen. Aber wenn man weiß, dass es z.B. im Mittelalter kirchlicher Brauch war, in der Karwoche eigens einen Juden aus dem Ort in die Kirche zu schleppen, um ihn dort als "Judas" öffentlich zu ohrfeigen 14, wird man ermessen können, zu welcher Projektionsfläche Judas in der Kirchengeschichte werden konnte.

2) Judas wurde, wie wir sahen, in den christlichen Gemeinden von Anfang an als eindrücklicher Beispiel gesehen, mit dessen Hilfe man den Menschen bestimmte Lerninhalte vermitteln kann. Das galt für die Versuchung, die vom Geld ausgeht wie für die Gefahr, sich in seinem Glauben sicher zu wähnen, weil man sich doch zur Kerngemeinde zähle und regelmäßig am Gottesdienst und am Abendmahl teilnähme. Aber bei Licht besehen gibt es eben keine Sicherheit. Sie lässt sich weder durch Geld erkaufen noch durch feste Gewohnheiten garantieren.

Wenn das aber so ist, dann müssen wir uns immer wieder neu mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir mit unsern guten Vorsätzen scheitern können. Ja mehr noch: Unser Glaube ist, eben weil er Glaube ist, ständig vom Zweifel begleitet. "Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung" (Röm 8,24); "denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen" (2.Kor 5,7).

Wer sich mit solchem Glauben befasst und anfreundet, ist damit naturgemäß nicht gesichert gegen Enttäuschungen, weder bei anderen noch bei sich selbst noch bei Gott. Aber er (oder sie) findet vielleicht doch leichter einen Weg durch lichtloses Dunkel, weil sie (oder er) schon Erfahrungen mit solcher Finsternis gemacht hat. Ich könnte auch so sagen: Wer sich im Gespräch mit dem Evangelium von Jesus Christus einübt in die Erkenntnis, dass es im Leben eines Christen keine Perfektion gibt, sondern nur die immer neue Notwendigkeit, zu vergeben und um Vergebung zu bitten, der lernt vielleicht, dass es auch keine Ausweglosigkeit gibt, weil wohl wir am Ende sein können mit unsern Möglichkeiten, aber nicht Gott.

Judas ist in dieser Hinsicht für mich insofern ein Vorbild, dass er mich, wie alle Jünger, einlädt, viel, sehr viel von Gott zu erwarten und in solche Erwartung auch viel Verzicht und Hoffnungskraft zu investieren. Und wenn er, wie man vermuten darf, als einziger Judäer nachträglich zu dieser Gruppe stieß, dann muss er besonders stark gewesen sein, weil er sich nicht auf die gewachsene Gemeinschaft einer (Fischer-)Gruppe verlassen konnte. Aber vielleicht liegt hier auch der Ansatzpunkt für die tiefe Enttäuschung, die ihm nach seinem Verrat die Rückkehr zum Evangelium versperrte. Eugen Drewermann hält es jedenfalls für möglich, dass Judas als frommer Judäer eher und tiefer den Konflikt Jesu mit der Tora des Judentums spürte als die landläufig liberalen Galiläer. Die Hoffnung, die er mit seinem Verrat verband, so Drewermann, war, die Auseinandersetzung zwischen beiden zu erzwingen. "Dann wird die Synagoge akzeptieren, was der Nazarener mit seiner Botschaft vom Erbarmen Gottes meint, und Jesus wird verstehen, dass man auch die Gesetzesauslegung der Rabbinen nicht als prinzipiell unbarmherzig, gottlos und unmenschlich diffamieren kann und muss." 15 . Aber damit ließ er den Weg des Gesetzes, der eigenen Glaubensleistung nicht wirklich los und zerbrach am Ende an ihm.

3) Damit sind wir eigentlich schon beim Dritten und Letzten, wofür uns Judas die Augen öffnen kann. Klaus Eulenberger macht das am letzten Abendmahl deutlich, an dem auch Judas teilnimmt, und stellt dem die kirchliche Abendmahlslehre und -praxis gegenüber. "Etwas abgelöst von der konkreten Beziehung zwischen Judas und Jesus in (der Gethsemanegeschichte) möchte ich »Verrat« beschreiben als die Überlieferung der Wahrheit in die Hände der Menschen. Wenn die »reine« Wahrheit, die Wahrheit des Gedankens oder der Idee, unter die Leute kommt, wo sie sozusagen »Mensch wird«, dann wird sie unweigerlich ver­formt, entstellt, manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Aber nur in dieser Form ist sie lebendige, nämlich: gelebte Wahrheit. Sobald wir versuchen, in der Wahrheit zu leben, wird die »reine« Wahrheit korrumpiert durch unsere Schwäche, unsere vitalen Bedürfnisse, unsere Neigung, uns und andere zu belügen. Es ist aber nicht unmöglich, dass Aspekte der Wahrheit erhalten bleiben - gebrochen, diffus und mehrdeutig, aber mit dem unschätzbaren Vorteil, nicht abstrakter Gedanke geblieben zu sein. Wir werden - wie die Jünger, die sich alle für des Verrats fähig hielten: »Bin ich's?« - Jesus verraten, sobald wir versuchen, ihn weiterzugeben (zu »tra­dieren«), indem wir ihm ähnlich werden."16 .

So hilft uns Judas, der Verräter, das in seiner menschlichen Entstellung wenigstens ansatzweise zu verstehen, was uns als reine Wahrheit verschlossen bleibt: das Leiden und Sterben Jesu für uns. Gott hat "seinen eigenen Sohn nicht verschont .., sondern hat ihn für uns alle 'dahingegeben' – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?" sagt Paulus (Röm 8,32) und brauchte dabei das gleiche Tätigkeitswort, was im Zusammenhang mit Judas "verraten" bedeutet. Und schon im 1. Kapitel taucht das gleiche Wort im Zusammenhang mit Gottes Zorn über die Sünde auf: Gott hat die Menschen an ihnen feindliche Mächte 'ausgeliefert'. Ich glaube, sagt Wolfgang Teichert, Jesus und Judas gehören zusammen. "Sie verschaffen sich bei ihm (Gott) Gehör, selbst wenn er nicht 'hören' will... Das ist vielleicht ein ungewohnter Gedanke und eine noch unschönere Erfahrung. Aber..leichter ist nach Judas' Erlebnis und Tat von Erhörung nicht mehr zu reden." 17

Die Selbsttötung des Judas erschwert den Zugang zu dieser Erkenntnis, unabhängig davon, ob sie geschichtliche Tatsache oder Fiktion der Überlieferung ist. Seine Gründe, so zu handeln wie er es getan hat, werden durch die (Selbst-)Tötung zugedeckt und mit einem Tabuzaun umgeben. Dabei wäre es für die urchristliche Gemeinde und ihren Glaubenshorizont sicher hilfreich gewesen, sich mit seiner Denkweise auseinander zu setzen. Wo immer "der Verräter mit Auslöschungswünschen verfolgt wird", weiß die Sozialpsychologie, "entsteht ein brutales Element in der Gruppengeschichte, das auch weiterhin wirksam werden wird: nämlich das der legitimen Gewalt gegen Abweichler, das somit alle Tendenzen zu einer friedlichen Lösung von gruppeninternen Konflikten unterminiert" 18 .

Es ist wohl gut, wenn wir von hier aus noch einmal auf die Situation beim letzten Abendmahl zurückschauen. Wenn Judas, der Verräter, da "nicht ausgeschlossen war, dann ist Gottes Liebe auch größer, als unsere Untreue und als unsere Lauheit. ...Wenn Judas nicht ausgeschlossen war, dann führen auch unsere Wege durch den Tod ins neue Leben zu Gott." 19 Vielleicht musste es von Dorothy L. Sayers ausgesprochen werden, der weltbekannten Autoren für Kriminalromane. Sie meint in einem von Karl Barth übersetzten Essay mit dem Titel "Der Triumph von Ostern", die Tragik von Judas sei, das er durch seinen Suizid Ostern nicht mehr erlebt habe. Sonst hätte er, da ist sie sicher, seine Tat wirklich bereuen können und Vergebung erlangt, weil es "seitdem nicht mehr an uns ist, Gottes Gnade Grenzen zu setzen." 20

1 Auch dieser Text beruht, wie der andere über Simon von Kyrene, auf wenigen Bibelstellen. Aber anders als bei Simon hat die nachbiblische Überlieferung bei Judas gewaltig gewuchert. Es schien mir deshalb notwendig, bei diesem die kritische Sichtung dessen, was wir bei Judas assoziieren, in den Vordergrund zu stellen. Wer den Text als Predigtvorlage benutzen will, wird gut tun, ihn nach dem einen oder anderen Schwerpunkt zu überarbeiten und so bestimmte Akzente in den Vordergrund stellen.

Literatur:

Basse, Ottokar, Predigt über Judas. In: Das Evangelium in Zeit und Ewigkeit - Ausgewählte Predigten II Münster 2003 S. 171ff

Eulenberger, Klaus, Überlegungen zur Geschichte des Abendmahls in: Domay, E., Nitschke, H. (Hg), Gottesdienstpraxis A 1992 93 III,2 - Lätare bis 4.S. n. Trin. - Gütersloh 1993 S. 28ff

Fenske, Wolfgang u.a., Brauchte Gott den Verräter? - Die Gestalt des Judas in Theologie, Unterricht und Gottesdienst - Dienst am Wort 85 - Göttingen 2000

Kreller, Helmut u.a., Predigt über Judas. In: Werkstatt spezial. Werkstatt spezial, Bd. 1 5, Aachen 2003 S.3

Meiser, Martin, Judas Iskariot - Einer von uns. Biblische Gestalten (hg. v. Ch. Böttrich u.a.) Bd 10 Leipzig 2004

Niemann, Raul (Hg), Judas, wer bist du? - Gütersloh 1991

Vogler, Werner, Judas Iskarioth - Berlin 1983

2 Lk 6,16 3 vgl. Jos 15,25 4 Mk 1,16ff; s.Fenske a.a.O. S. 67 5 Vogler a.a.O. S.19 - Fenske a.a.O. S. 67 6 Joh 12,4ff 7 Sach 11,12f 8 Mt 27,5 9 Apg 1,18 10 1.Kor 15,5 11 Apg 1,17 12 Meiser a.a.O. S. 99 13 in Niemann S. 111 14 Hermann Häring, Vom Kainsmal der Überforderung - in Niemann a.a.O. S. 51 15 Eugen Drewermann, Fürbitte für einen Verzweifelten. In: Niemann a.a.O. S.37f 16 Klaus Eulenberger a.a.O. S. 28 17 Niemann a.a.O. S. 80f 18 Siegfried R. Dunde, Warum jede Gruppe ihren Judas braucht. In: Niemann S. 115f. 19 Helmut Kreller a.a.O. 20 zitiert von Johannes Beisheim in: Predigtstudien für das Kirchenj. 1985/86 - II,2 - hrsg. v. Peter Krusche u.a. - Stuttgart 1986 S. 17f.

Simon von Kyrene1

"Halt! Stehen bleiben. Im Namen des Gesetzes: Trag das Holz da!" Simon hatte sofort gewusst , dass er gemeint war. Er hatte sich zwar noch kurz umgedreht, als könnte jemand hinter ihm angesprochen sein und hatte, wieder zum Zenturio gewandt, mit einer hilflos-fragenden Geste auf sich gezeigt. Aber in seinem Innern hatte er sofort gewusst: Jetzt bist du dran.

Er war also umsonst schon zu nachtschlafender Zeit hinaus auf seinen Acker gegangen. Dann vermeidest du Ärger mit den Schriftgelehrten, hatte er sich gesagt; denn fromme Juden arbeiteten in dieser Festwoche nicht. Deshalb war er jetzt, am frühen Vormittag, auch schon auf dem Heimweg. Aber nun war er nicht den Gesetzestreuen seines eigenen Volkes in die Quere gekommen, sondern diesem römischen Zenturio. Und der hatte das Sagen: Jeder Einheimische muss einem Zenturio, wenn er's fordert, seine Last eine Meile weit tragen 7.

Simon kannte das schon aus der Zeit, als er und Mirjam, seine Frau, noch in Kyrene wohnten; denn auch dort bestimmten die Militärs aus dem fernen Rom, was Recht und Gesetz war. Dann waren sie nach Jerusalem gekommen, er und seinen beiden Jungen. Mirjam, die eigentlich den Anstoß zu diesem Umzug gegeben hatte, weil sie vom Vater einen kleinen Hof geerbt hatte - Mirjam hatte nicht mehr mitkommen können: Sie war ganz plötzlich gestorben.

Mirjam! Simon sah seine Frau in diesem Augenblick so lebendig vor sich, als wäre sie mit ihm zusammen auf dem Feld gewesen. Wie selbstverständlich er sie immer noch in seine Gedanken einbezog. Die Frau dahinten, ein Stück die Straße hinunter, das könnte Mirjam sein, dachte er2. Im gleichen Augenblick drückte ihm einer der Soldaten den schweren Balken auf die Schulter. Jetzt konnte er nur noch den Verurteilten vor sich sehen Er war, wie üblich, furchtbar zugerichtet, Blut verschmiert und völlig entkräftet. Zwei Soldaten zerrten ihn an einem Strick vorwärts. Hinter sich sich hörte er in einigem Abstand die wilde Horde von Gaffern und Gesindel, die sich stets zusammen fand, wenn irgendwo etwas Ungewöhnliches passierte: ein Feuer, ein Verkehrsunfall, eine Schlägerei oder eben eine dieser öffentlichen Hinrichtungen, wie sie die Römer liebten.

Seine Jungen hatten eigentlich nicht mit gewollt nach Jerusalem. Aber Simon hatte sich darüber hinweg gesetzt. Seitdem hatte das Verhältnis zwischen Vater und Söhnen einen spürbaren Knacks bekommen. Judäa war für sie ein fremdes Land, mit einer fremden Sprache und unverständlichen Gebräuchen 3. In der Synagoge und beim Sport wurden sie von ihren Altersgenossen gehänselt wegen ihrer ungewöhn­lichen Namen und ihres unüberhörbaren Akzents. Und die Trauer um die Mutter trug noch zusätzlich dazu bei, dass sie sich oft zurückzogen hinter ihre Bücher und ihre Erinnerungen.

Der Verurteilte vor ihm schwankte, drohte erneut zusammen zu brechen. Erst in diesem Augenblick erwachte in Simon die Frage, warum man ihn wohl angeklagt hatte. Simon erinnerte sich dunkel, dass die Männer in seiner Nachbarschaft kürzlich über jemanden gesprochen hatten, den ihre Hohenpriester dem römischen Gouverneur ausgeliefert hätten, angeblich wegen Gotteslästerung. Hätte er bloß etwas genauer hingehört. Vielleicht hätte er dann heute Morgen einen anderen Heimweg gewählt als diesen. Diese Straße, das wusste er, führte an jenem Hügel vorbei, den der Volksmund Golgatha nannte. Dort richteten die Römer gern ihre Kreuze auf.

Überrascht stellte Simon bei sich ein Gefühl der Erleichterung fest, als seine Gedanken wieder zu seinen Söhnen zurück kehrten. Rufus und Alexander. So schnell würde kein Römer auf die Idee kommen, dass es sich dabei um Juden handelte. Und wer weiß, vielleicht würden diese Namen am Ende auch ihn schützen, den Vater.

Der Balken auf der Schulter begann langsam zu drücken. Wie weit eine Meile doch ist, dachte er bitter. Er stemmte das Holz mit beiden Armen in die Höhe, zog den Kopf darunter durch und legte sich den Stamm auf der andern Schulter zurecht. Der Mann da vor ihm - seinen Händen nach zu urteilen war er nicht von hohem Stand. Aber gewalttätig sah er auch nicht aus. Ob er seine Nase in Dinge gesteckt hatte, die ihn nichts angingen? Simon versuchte sich zu erinnern. Wenn es um irgendwelche religiösen Diskussionen ging - das interessierte ihn nicht sonderlich. Aber war es denkbar, dass die Römer jemanden kreuzigten, nur weil er in einer religiösen Fragen anderer Meinung war als die Hohenpriester?

In diesem Moment forderte der Zenturio den Zug mit einem lauten Befehl zum Anhalten auf. Er winkte Simon zu, er könne den Balken jetzt ablegen. Die Meile war offensichtlich geschafft5. Da waren die Römer merkwürdig genau. Ein Soldat sollte den Stamm wieder dem Verurteilten auf den Rücken legen. Ohne weiter nachzudenken, trat Simon einen Schritt auf den Zenturio zu und erhob Einspruch. Der sei doch völlig fertig, wie jeder sehen könnte. Er, Simon sei schwere Arbeit gewohnt. Er könne den Balken ohne Probleme weiter tragen.

Der Zenturio war offensichtlich von diesem Einspruch so überrascht, dass er vergaß, diesen Bauern für seine Kritik zu maßregeln. Er schnalzte nur mit der Zunge und gab seinem Pferd mit den Fersen zu verstehen, dass es weitergehe. Die Soldaten bezogen diese stumme Aufforderung auch auf sich und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Und dann tauchte urplötzlich der Hügel Golgatha vor ihnen auf. Mehrere Pfähle, senkrecht in die Erde gerammt, schienen nur darauf zu warten, dass ein Verbrecher, an seinen Querbalken genagelt, an einem von ihnen hochgezogen wurde. Simon kannte die fürchterliche Prozedur schon aus Kyrene, er wollte das auf keinen Fall noch einmal erleben. Ein kurzer Blick zu dem Hauptmann zeigte ihm, dass dieser gerade mit dem Einteilen seiner Kohorte für den weiteren Vollzug beschäftigt war. So legte er das Holz einfach nieder und tauchte eilig in der Gruppe der Schaulustigen unter, die gerade damit begonnen hatten, um die besten Plätze zu rangeln. Wenig später lag Golgatha schon hinter ihm.

Als er die Stadt erreicht hatte, setzte er sich in die dämmrige Ecke eines kleines Gasthauses. Dort blieb er viele Stunden vor einem einzigen Glas Wein sitzen und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Der Wirt spürte, dass mit diesem Gast nicht zu spaßen war, und ließ ihn in Ruhe.

Es wurde schon dunkel, als Simon endlich zu Hause ankam. Seine Söhne machten ihm Vorwürfe, weil er so lange ausgeblieben war. Eine Frau warte im Obergemach auf ihn. Simon erkannte sie sofort wieder: Es war dieselbe, die ihn unterwegs spontan an Mirjam erinnert hatte. Und so war er eigentlich nicht überrascht, als sie sich auch mit "Mirjam" vorstellte. Sie sei gekommen, um ihm zu danken. Tränen traten in ihre Augen. Der Mann, dem er heute morgen den Balken getragen habe - sie rang um Fassung - sei ihr Sohn gewesen, Joshua. Jetzt sei er tot. Sie weinte still vor sich hin.

Simon überfiel ein tiefes Gefühl der Scham. Diese Mutter hatte es auf sich genommen, ihren Sohn bis in diesen entsetzlichen Tod zu begleiten. Und dann hatte sie noch die Kraft gefunden, sich nach ihm, Simon, zu erkundigen und ihm jetzt Dank zu sagen. Und er? Er hatte sich nicht einmal dazu durchringen können, bei ihrem sterbenden Sohn auszuharren und ihm sein Geschick vielleicht dadurch ein wenig zu lindern, dass er einige der Gaffer zurecht wies. Simon machte einen Versuch, Mirjam zu erklären, wie sehr ihn ihr Dank beschäme. Aber sie war bereits aufgestanden, schlug ihren Schleier um sich und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um: Wenn er in nächster Zeit das Bedürfnis spüre, sich über das Erlebte auszusprechen, sei er herzlich in den Kreis ihrer Freunde eingeladen. Mit einem feinen Lächeln nannte sie eine Adresse. Dann verschwand sie in der Dunkelheit.

Monate vergingen. Simon war mit der Feldarbeit beschäftigt. Eine Krankheit in seiner kleinen Schafherde hielt ihn in Atem. Dann stand die Ernte an. Eine seiner Nichten heiratete. Die Erinnerung an jenen düsteren Kreuzweg trat in den Hintergrund. Allerdings nur am Tage. Nachts quälte sie ihn, wenn er nicht schlafen konnte, um so mehr.

Eines Abends kam er später als gewohnt heim. Und anders als sonst üblich, erwarteten ihn Alexander und Rufus ungeduldig. Sie müssten ihm unbedingt etwas erzählen. Ihre Augen strahlten. Die Gleichgültigkeit, die sie sonst ihm gegenüber an den Tag legten, war wie weg geblasen. Sie hatten sogar ein gemeinsames Mahl vorbereitet - Simon konnte sich nicht erinnern, das nach dem Umzug von Kyrene nach Jerusalem jemals erlebt zu haben. Alexander, der Ältere, schenkte allen Wein ein. Dann begann er zu erzählen.

Vor einigen Tagen seien sie auf dem Markt mit dem Synagogenvorsteher in Streit geraten. Er habe sie getadelt, weil sie am vergangenen Sabbat statt zum Gottesdienst zu einer Sportveranstaltung der Römer gegangen waren. Das sei eine doppelte Verletzung der Tora Gottes, habe er geschimpft; denn der Weg zum Stadion sei viel weiter als die am Sabbat erlaubte Strecke. Und das Stadion sei ein unreiner Ort, weil er den Soldaten gehöre. Rufus ahmte die nörgelnde Stimme des Synagogenvorstehers nach. Beide Jungen lachten.

Aber dann habe sich plötzlich ein Mann ins Gespräch eingemischt. Der Messias Joshoa sei das Ende des Gesetzes, habe er dem Synagogenvorsteher vorgehalten. Nicht die Tora entscheide über das Leben, sondern der Geist Gottes. Und den könne jeder empfangen, der sich taufen ließe. Und dann habe er ihnen von Jesus Christus erzählt, der am Kreuz gestorben, aber von Gott auferweckt worden sei. Der Mann hieße Silas6, fiel Alexander ein. Er gehört zu einer Gruppe von Juden und Hellenen, die den Menschen, auch Nichtjuden verkünden, dass Gott sie alle in seinen neuen Bund rufe. Heute waren wir dort, drängte sich Rufus wieder dazwischen. Und zum ersten Mal, seit wir mit dir nach Jerusalem gekommen sind, fühlen wir uns richtig dazu gehörig und zu Hause. Wir wollen uns auch taufen lassen.

Es wurde ein langer Abend. Endlich konnte auch Simon seinen Söhnen von dem Erlebnis auf dem Weg nach Golgatha erzählen. Dabei stellte sich heraus, dass der Treffpunkt, den Mirjam ihm beim Weggehen genannt hatte, das gleiche Haus war, in dem Alexander und Rufus heute zu Gast waren. Die beiden erlaubten ihrem Vater erst, sich in sein Schlafzimmer zurück zu ziehen, nachdem er ihnen versprochen hatte, sie morgen dorthin zu begleiten.

Simon war zunächst etwas skeptisch, als sie sich am nächsten Abend auf den Weg machten. Religion war in ihrem Hause nie ein herausragendes Thema gewesen, schon gar nicht nach Mirjams Tod. Nicht ohne Vorbehalte beobachtete er, wie seine Söhne sich mit den andern bei der Begrüßung in den Armen lagen. So lebhaft hatte er sie lange nicht mehr erlebt. Er selbst wechselte ein paar freundliche Worte mit Mirjam, die mit ausgestreckten Armen auf ihn zu gekommen war. Ansonsten hielt er sich zurück und versuchte, seine Eindrücke zu ordnen.

Und dann wurde er auf einmal an den Tisch des Gemeindevorstands gerufen. Er sei, ohne es zu wissen, ein lebendiges Vorbild, das in die Geschichte des Evangeliums eingehen würde, sagte der Gemeindeälteste lächelnd und legte Simon die Hand auf die Schulter. "Du, Simon, hast getan, wozu unser Herr uns alle ermuntert hat: Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei!7"

1 vgl. Mark 15,21. Eine Langfassung dieser Erzählung habe ich vor Jahren in einem Sammelband der Bibel+KulturStiftung der Braunschweiger Bibelgesellschaft von 1815, Wendeburg 2009 S. 97-105 veröffentlicht; Titel: "Hagars Bericht. Neue Erzählungen zu biblischen Gestalten".

2 Nach dem Passionsbericht des Johannes war auch Maria, die Mutter Jesu, Zeugin der Kreuzigung (Joh 19,25). Markus erwähnt nur Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus (Mark 15,40)

3 Markus deutet in seinem Evangelium nicht an, aus welchem Grund Simon von Kyrene nach Jerusalem gezogen ist. Die Tatsache, dass er in der Urgemeinde unter dem Namen Simon von Kyrene bekannt war, deutet aber darauf hin, dass er in Jerusalem immer noch als Zugezogener wahrgenommen wurde.

5 vgl. Anm. 7

6 Silas war ein bedeutendes Mitglied der Jerusalemer Urgemeinde (Apg 15,22) und ein wichtiger Mitarbeiter des Paulus (Apg 16,29)

7 vgl. Matth 5,41. Es handelt sich "um den Fall eines Frondienstes, der von jedem Angeforderten zu leisten ist". "Das Wort nimmt solche Erpressung... als ein Vorkommnis des Alltags - wie es Regen und Sonnenschein gibt, so gibt es auch diesen Frondienst" (E. Lohmeyer, Matthäuskommentar S. 140f).