Politische Verantwortung des Pfarrers - Thesen

Thesen zur politischen Verantwortung des Pfarrers / der Pfarrerin1

1. Als Glied dieser Gesellschaft kann ich nicht nicht Politik machen. Auch völlige politische Abstinenz im Reden und Handeln ist politisch, weil sie damit den politisch Aktiven das Feld überlässt, statt sie zu kontrollieren, wie es nicht nur mein Recht, sondern - in der Demokratie - meine staatsbürgerliche Pflicht ist. Die Forderung nach politischer Enthaltsamkeit ist verfassungsfeindlich, denn sie widerspricht unserm Grundgesetz und redet dem alten Obrigkeitsstaat das Wort.

2. Zum Beruf des Pfarrers gehört zentral, nicht nur beiläufig, das Reden in der Öffentlichkeit. Daraus ergibt sich eine - gegenüber dem 'normalen Bürger' - verschärfte Dringlichkeit, für die Grundwerte unserer Verfassung einzutreten. Wer Pfarrerinnen und Pfarrern Beschränkungen in politischer Hinsicht auferlegen wollte, müsste dafür schwerwiegende Gründe geltend machen können. Wir wollen deshalb fragen, ob die uns anvertraute Sache, die Predigt des Evangeliums oder die Seelsorge an den uns anvertrauten Gemeindegliedern, eine Beschränkung unserer Grundrechte und unserer verfassungsmäßigen Pflichten als politische Bürger rechtfertigen kann.

3. Eine sachgerechte, nicht auf das Schema Verheißung - Erfüllung reduzierte Auslegung der hebräischen Bibel, eine sozialpolitische Exegese der neutestamentlichen Texte im Theologiestudium und eine auf dieser Basis aufbauende praktisch-theologische Ausbildung bilden die selbstverständlichen Voraussetzung für alle Wortverkündigung in der Kirche. Sie kann deshalb an (gesellschafts-)politischen Fragen in der heutigen Zeit nicht vorbeisehen, weil sie von ihren antiken Pendants herkommt. Weiterbildung in homiletischen wie in gesellschaftspolitischen Fragen muss darum für PfarrerInnen, PrädikantInnen und LektorInnen verbindlich und möglich sein und darf weder einer Scheu vor Meinungsverschiedenheiten noch einer zu kurzen Personaldecke geopfert werden.

4. Die Botschaft von Jesus Christus ist nicht nur insoweit ein Politikum, wie das von jeder Religion gilt, da sie auf Gruppenbildung und gemeinsame Verhaltensregeln zielt. Die Kirche Jesu Christi wurzelt in der Kreuzigung Jesu, die ein Komplott aller damaligen politischen Interessengruppen war, weil seine Verkündigung jede von ihnen im Nerv traf:

- die Römer (Pilatus) mit ihrem Anspruch und ihrer Praxis, den Frieden durch Abschreckung zu sichern,

- die Zeloten (Judas?), die die Religion für ihre national-chauvinistischen Ziele in Anspruch nehmen wollten,

- die Herodianer (Herodes, Kaiphas), die ihre durch Kollaboration mit den Machthabern erkauften Privilegien gefährdet sahen.

Wer Jesu Botschaft unpolitisch interpretiert und auslegt, verharmlost und missdeutet sie deshalb nicht nur, sondern er raubt ihr die Mitte, weil er Jesu Kreuzestod als unnötig und sinnlos hinstellt. Die logische Folge ist eine kirchliche Verkündigung, die von der Mehrzahl der Menschen achselzuckend als unerheblich und 'langweilig' gemieden wird.

5. Evangelisches Christentum heute kann sich allerdings nicht damit begnügen, sein politisches Reden und Handeln von einem politischen Selbstbewusstsein Jesu abzuleiten. Manches, was im damaligen Palästina als private Hilfe erscheint, auch im Tun Jesu, ist in unserer globalisierten Gesellschaft nur als politischer Auftrag zu verwirklichen. Als konkrete politische Arbeit ist unser Bekenntnis zu Christus dann aber immer parteilich und deshalb auch meistens parteipolitisch, nicht, weil sie sich mangels eigenen Profils vorhandenen Parteiprogrammen anpasst, sondern weil sie selbst nicht Partei sein will und darf und darum zur Durchsetzung bestimmter Ziele mit dieser oder jener Partei zusammengeht. Die politischen Parteien haben ihrerseits in vom Christentum geprägten Gesellschaften im Zuge der zunehmenden Weltherrschaft Christi ('Reich Gottes') ehemals individuelle ethische Entscheidungen in ihrer politischen Dimension erkannt und in ihre Ziele zu übernehmen begonnen (z. B. auf den Gebieten Soziales, Recht, Wirtschaft usw.).

6. Sowohl aus den Erfahrungen in der Nazizeit wie denen in der Zeit der DDR wurde und wird immer wieder der falsche Schluss gezogen, politische Predigt sei zu unterbinden, weil sie sich damals durch ihre Anpassung an das jeweils herrschende System desavauiert hat. Dabei wird übersehen, dass der Fehler in Wahrheit nicht in der einzelnen irrigen politischen Aussage oder in der Anpassung an die herrschende Ideologie lag, sondern in der mangelhaften Bindung der PredigerInnen an das Evangelium und seine sachgemäße Auslegung. Heute entspricht der von Anfang an ökumenischen bzw. globalen Ausrichtung der biblischen Botschaft eine globale Verantwortung christlicher Verkündigung, die freilich ebenfalls nicht dazu missbraucht werden darf, konkrete politische Aussagen in der kirchlichen Verkündigung ad absurdum zu führen.

7. Eine Gemeinde, die die politische Dimension des Evangeliums begriffen hat, wird von ihrem Pfarrer nicht politische Abstinenz erwarten, sondern 'die Pflicht und das Recht des Pfarrers zur Predigt des Evangeliums' unterstreichen, 'das den Glauben und das Handeln in allen Bereichen des Lebens betrifft' (Pfarrerdienstgesetz der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland). Die Prüfung solcher Predigt auf ihre 'Schriftgemäßheit' durch den Predigthörer muss bei politischen Aussagen ebenso selbstverständlich vorausgesetzt werden wie bei Ratschlägen zur persönlichen Lebensgestaltung (Beispiel Schwangerschaftsabbruch).

8. Dass die Wirklichkeit in unseren Gemeinden oft anders aussieht, ist nicht zuletzt Schuld derer, die für die Verkündigung verantwortlich sind. Sie haben häufig aus einem falschen, weil privatisierenden Verständnis des Evangeliums heraus, gekoppelt mit der Unfähigkeit, auf demokratische Gesellschaftsstrukturen umzudenken, die Gemeinde daran gehindert, Evangelium politisch zu verstehen. Oder sie haben sich die Mühe erspart, die politische Dimension des Evangeliums zu erarbeiten und diese in ihrer Predigt kurzerhand durch politische Parolen ersetzt. Angesichts dieser verworrenen und für viele verwirrenden Situation kommt dem Gottesdienst und besonders dem Herrenmahl eine lebenswichtige Aufgabe für die Kirche zu. Nicht Rücksichtnahme auf Empfindlichkeiten und Verschleierung der gegensätzlichen politischen Positionen heißt die Devise, sondern Gespräch und, wenn es sein muss, Streit um die sachgemäße Auslegung des Wortes, zusammengehalten in der Gemeinschaft von Taufe, Brot und Wein.

9. Der immer wieder erhobene Einwand, eine Predigt sei zur Wirkungslosigkeit verurteilt, wenn die Hörer befürchten müssen, dass alle ihre Aussagen so wenig zutreffend seien wie diese oder jene darin angedeutete politische Analyse, verpflichtet uns zu größter Sorgfalt in allen Bereichen der Verkündigung: Eine im Gottesdienst gesprochene Absolutionsformel, die dem Hörer in ihrer Legitimation nicht (mehr) verständlich ist, macht den Pfarrer / die Pfarrerin genauso unglaubwürdig wie eine leichtfertige politische Aussage. Zwischen Auftrag und persönlichem Zeugnis bzw. zwischen Wahrheit und konkreter Stellungnahme zu unterscheiden, ohne beides zu scheiden, ist unsere schwere Aufgabe in allen Bereichen unseres Tuns.

10. Der in unsern Kirchen verbreiteten Sorge, dass Ärger über einzelne Aussagen von PredigerInnen zu Kirchenaustritten und damit zur Schwächung der Kirche in der Öffentlichkeit führen könnten, dürfen wir nicht damit Rechnung zu tragen suchen, dass wir auf klare und profilierte Aussagen verzichten. Im Gegenteil: Die für den Alltag der Menschen weithin unerheblichen Predigtaussagen sind seit langem der Grund für die latente Austrittsbereitschaft vieler Kirchenmitglieder. Was wir in der Kirche brauchen ist nicht Leisetreterei, sondern angemessene Möglichkeiten, über die konkrete und lebendige Auslegung des Evangeliums miteinander zu sprechen und, wenn nötig, auch zu streiten. Hier müssten Kirchenleitungen entschlossen und fantasievoll Lernprozesse für PredigerInnen wie PredighörerInnen initiieren, statt in Konfliktfällen denen Recht zu geben, die für unpolitische Predigten plädieren.

Klaus von Mering - Überarbeitete Fassung einer Veröffentlichung in ZGP, 5. Jg., Heft 1, 1987, S. 17f.

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