Warum Kernlieder? Bänkellied und Krippentanz. Heilender Lobgesang u.a.

Gepostet am: Apr 30, 2015 12:12:14 PM

Aus der Einleitung

Kirchenlieder haben in der Regel eine zweifache Wirkung: Sie rufen, wenn wir sie hören oder singen, Erinnerungen und Gefühle bei uns wach, oft ganz unbestimmte, die sich gar nicht genauer zuordnen lassen. Und: Sie werfen Fragen auf, Fragen nach der Bedeutung eines Wortes oder Satzes oder auch Fragen nach der Geschichte, dies vor allem, wenn man auf die Angaben über Dichter und Komponist unter dem Lied schaut. Beides zusammen bewirkt, dass sich Choräle besonders gut dazu eignen, über den Glauben nachzudenken.

Manchmal haben die Spuren, auf die ich in meinem Gedächtnis stoße, gar nicht unmittelbar mit dem Text und der Melodie selbst zu tun; sie können mich auch an Begebenheiten erinnern, bei denen das Lied eine Rolle spielte. Dadurch wird mir vielleicht bewusst, was ich schon lange vermisse oder mir wünsche. Aber das geschieht natürlich auch, ja erst recht, wenn ich über das Lied selbst nachdenke. So haben diese Choräle immer schon irgendwie mit Gott zu tun, auch wenn ich ihren Text vielleicht noch gar nicht genauer bedacht habe: Mit Gott, über den ich mich freue, nach dem ich suche, dem ich danke, der mir Rätsel aufgibt und zugleich die Lösung aller Rätsel ist.

Aber gerade weil das so ist, sollten Predigten und Andachten über Lieder sich auch nicht damit begnügen, ihren Text nur mit eigenen Worten nachzuerzählen. Sie bleiben dann nämlich leicht hinter dem Gewicht der Spuren zurück, an die sie anknüpfen. So wie ich von einer Predigt über einen Bibeltext erwarte, dass der oder die Redende sich wirklich mit diesem Text auseinandergesetzt und also auch seine Hintergründe und seine Überlieferungsgeschichte durchleuchtet hat, so möchte ich auch in einer Liedandacht nicht nur hören, wie schön der Dichter das alles gesagt und wie eindrücklich der Komponist es in Töne umgesetzt hat. Ich möchte am Ende mehr wissen über dieses Lied, aber zugleich auch mehr über meinen Glauben. Mit dieser Erwartung habe ich mich an die Arbeit an diesen Liedern gemacht und ich habe viel dabei erlebt und gelernt. Ich würde mich freuen, wenn meine LeserInnen am Ende Ähnliches sagen könnten.

Der Untertitel des Buches deutet es schon an: Die Auswahl der bearbeiteten Lieder stammt nicht von mir. Ich habe sie mir von der Initiative „Kernliederliste“ vorgeben lassen. Über ihre Entstehung berichtet Bernhard Leube, Pfarrer im Amt für Kirchenmusik der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, in einem Flyer: „Die Kirchenleitungen der badischen und württembergischen Landeskirche haben sich im Jahr 2006 auf eine Kernlieder-Liste mit 33 Liedern verständigt. Der Anstoß dazu kam aus dem Stuttgarter Pädagogisch-Theologischen Zentrum, nachdem bei der Erarbeitung der neuen Lehrpläne für das Fach Evangelische Religion in den baden-württembergischen Grundschulen Lieder nicht wirklich eine Rolle gespielt haben. Daraus entwickelte sich eine konzertierte Aktion mehrerer Arbeitsbereiche: am Tisch der Arbeitsgruppe, die den Vorschlag für die Kernlieder-Liste erarbeitet hat, saßen prominente Vertreter und Vertreterinnen der Tageseinrichtungen für Kinder, aus Kindergottesdienst, aus Konfirmandenarbeit und Religionsunterricht, aus der Jugendarbeit, der Frauenarbeit, aus der Kirchenmusiker-und der Pfarrerschaft.“....

So mögen die einen in diesen Kernliedern eine Einladung finden, tiefer in altbekannte oder auch befremdlich neue Lieder einzudringen und ihren Glauben davon befragen zu lassen. Und den anderen mögen sie eine Hilfe sein, auf das Gesangbuch und seine Schätze aufmerksam zu werden und sich so ganz ohne Zwang von den Glaubenserfahrungen anderer helfen zu lassen. Menschen, die in einem Chor mitsingen, werden vielleicht die Erfahrung machen, „dass das Singen sich wie von selbst verändert, klangvoller wird und an Intensität gewinnt, wenn die Singenden über ein Lied etwas wissen.“...Andere werden wieder oder ganz neu entdecken, dass „die Kirche als Bewahrerin und Vermittlerin von Mut machender Dichtung und tröstender Musik durch die Jahrhunderte einen wichtigen, ja einzigartigen Dienst am Glauben und an der Kultur der Menschheit verrichtet. Wo gibt es sonst neben der christlichen Kirche einen Ort oder eine Institution, wo so viele Menschen aus verschiedenen Lebensphasen und Kontexten so regelmäßig miteinander singen, Heutiges und Zeitbezogenes, aber auch Vergangenes in den Atem der Gegenwart hinein nehmen und dadurch ...

Vom Himmel hoch da komm ich her (EG 24)

Die Melodie, in der das Lied „Vom Himmel hoch“ zu Luthers Lebzeiten gesungen wurde, finden wir in unserm Gesangbuch noch bei dem anderen Engellied Luthers: „Vom Himmel kam der Engel Schar“ (EG 25). Sie war, wie man schon von außen sieht, der uns vertrauten, die Luther später selbst dazu komponierte, zwar nicht unähnlich. Aber man erkennt in ihr beim Hören noch den „Gassenhauer“, der sie damals war: „Ich komm aus fremden Landen her und bring euch viel der neuen Mär“, begann das Lied und erzählte in der Regel irgendeine aufregende oder zu Herzen gehende Geschichte, wie man sie heute auf den „bunten Seiten“ unserer Zeitungen findet. Wer sie auf dem Marktplatz oder auf dem Festanger unter der Dorflinde vortrug, ließ sie meist in einer Frage ausmünden, die von den Zuhörern zu beantworten war und damit den nächsten Tanz eröffnete.

Auch im Weihnachtsgottesdienst wurde damals getanzt. Vor dem Altar war eine Krippe aufgestellt, neben der Josef und Maria ihren Platz fanden. Zwischen diesen beiden erhob sich dann ein Wechselgesang, das „Kindelwiegen“. Der Chor oder Einzelstimmen führten weiter in die Weihnachtsgeschichte ein und während die Gemeinde sich an dem Singen beteiligte, umtanzten die kleineren Kinder die Krippe mit dem heiligen Paar.

Bänkellied und Krippentanz

Als Luther sein Lied 1534 dichtete, hatte er diese alte Tradition vor Augen und die Melodie jenes Bänkelliedes im Ohr. In Str. 14 klingt der Krippentanz noch an: „zu singen, springen immer frei das rechte Susannine schön“. Und mit der Melodie des bekannten Gassenhauers wollte Luther die Weihnachtsbotschaft aus dem heiligen Buch, das auf dem Altar liegt, herausholen und auf den Markt bringen. Der Text der Bibel als Gottes Wort ist „ein lebendig Wort und eine Stimm, die da in die ganze Welt erschallet und öffentlich wird ausgeschrieen“, wusste Luther (WA 12,259). Die Menschen konnten das Evangelium aber nicht mehr verstehen, war sein Eindruck, auch die nicht, die sonntags in die Kirche gingen; denn dort wurde lateinisch gesprochen und in den Predigten war mehr vom Höllenfeuer zu hören als von Gottes Wort.

Solche Bänkellieder ersetzten damals in gewisser Weise die Zeitung. Luther erkannte das und hat 1523 selber einmal ein solches „Zeitungslied“ geschrieben und unter die Leute gebracht. Es berichtete von der Hinrichtung zweier Augustinermönche in Antwerpen und der Reformator wollte die beiden Ordensleute auf diese Weise als die ersten Märtyrer der Reformation bekannt machen. Aber zu Weihnachten geht es nicht um irgendeine Nachricht. Luther erkannte die Entsprechung zwischen den Märkten, auf denen sich zu seiner Zeit die Leute um Neuigkeiten drängten und den nächtlichen „Hürden“ von Bethlehem, auf denen den Hirten Gottes neues Lied gesungen wurde. Schließlich wird im Weihnachtsgottesdienst traditionell auch der 98. Psalm gebetet: „Singet dem Herrn ein neues Lied ... Der Herr lässt sein Heil kund werden.“

Im Zeitalter von Facebook und Twitter müssen wir uns fragen: Warum hören heute viele Menschen Gottes Wort nicht? Nur, weil sie keine Lust haben, dorthin zu gehen, wo es gesagt und gesungen wird? Oder liegt es daran, dass das Evangelium auch heute wieder weithin in einer Form und Sprache ausgerichtet wird, die die Menschen nicht verstehen können?

Luther ging es darum, die Sängerinnen und Zuhörer seines Liedes von der Christgeburt in die Situation der Hirten bei Bethlehem zu versetzen, die mit einer Nachricht überrascht werden. „Mär“ bezeichnete damals nicht das Märchen – dazu ist bei uns Weihnachten ja allzu oft geworden –, sondern eine Nachricht, ein Geschehen, über das gesprochen wird und gesprochen werden muss. Mär hieß im Griechischen „angelon“, die gute Mär des Himmelsboten ist also ein „eu angelon“, d.h. lateinisch-deutsch: „Evangelium bzw. gute Nachricht“.

Der Überraschungseffekt, den Luther mit seinem Lied nachstellte, ist heute natürlich ungleich schwerer zu erzielen als im Zeitalter der Reformation. Schließlich ist das Weihnachtsevangelium bei uns bereits seit Wochen in vielfacher Verzerrung auf allen Straßen und Plätzen breitgetreten und -gefahren worden. Und viele Zeitgenossen meinen, eher zu viel davon gehört zu haben als zu wenig. Aber wir müssen es trotzdem immer wieder versuchen, die überraschende Seite der guten Nachricht aufzudecken, dass uns, ausgerechnet uns, der Heiland geboren ist. Und wir sollten uns dabei von Luthers Mut, mit seinem Lied in die Alltagswelt der Menschen zu gehen und Bilder aus der allgemeinen Erfahrung sowie Musik von der Straße aufzunehmen, anstecken lassen.

Wegwerfwindeln für das Christkind

Dabei bleibt Luther sich der Schwierigkeit bewusst, dass unsere unbeholfenen Menschenworte in jedem Fall nur mäßig geeignete Mittel sind, Gottes Wort weiterzusagen. Aber das hat Gott so gewollt, weiß er. Krippe und Windeln sind schließlich das Zeichen, das den Hirten vom Engel mitgegeben wird, damit sie den Retter der Welt finden und erkennen. „Hier wirst du die Windeln und die Krippe finden, da Christus innen liegt, dahin auch der Engel die Hirten weist, schlecht und geringe Windeln sind es, aber teuer ist dieser Schatz, Christus, der darinnen liegt.“ (88, S. 308) Damit spielt Luther auf das Pauluswort an, dass wir Gottes Wort, „diesen Schatz in irdenen Gefäßen“ haben (2 Kor 4,7).

Das Evangelium in unsere Alltagssprache zu übersetzen, bedeutet freilich nicht, es billig zu machen. Ob der Reformator, als er sein Lied als „ein Kinder lied auff die Weihnacht Christi“ kennzeichnete, wieder einmal seiner Lust an ironischen Untertreibungen frönte oder ob hier nur der Herr Professor spricht, der sich mit Kindern nicht auskennt, weil unter seinem Katheder nur lernbegierige Studenten sitzen, muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist die Überlieferung, das Lied habe als Krippenspiel im Hause Luther gedient, wohl nur eine fromme Legende. Vermutlich verdankt sie ihren Ursprung einem im Bürgertum des 19. Jahrhunderts sehr beliebten Bild: „Martin Luther am Weihnachtsabend 1536 zu Wittenberg. Stahlstich von Carl August Schwerdgeburth (1843)“. Das Bild zeigt den Reformator mit Laute im Arm singend mit seiner Frau und seinen damals fünf Kindern, die Jüngste, Magdalena, eben geboren, in der Weihnachtsstube. ... Das passte gut zu der Tradition des Krippenspiels in den evangelischen Christvespern. Und es passte vor allem zu dem deutschen Supermann, zu dem man Luther inzwischen gemacht hatte: Vorbild für alle bürgerlichen Familienväter und Inbegriff des Deutschen überhaupt. Die letzten schrecklichen Ausläufer erlebte diese Ideologie im „deutschen Christentum“ der Nazis, als man versuchte, aus Luther und seinem Lied von der festen Burg ein Bollwerk gegen alles „Undeutsche“ und gegen alle „Untermenschen“ zu machen.

Nicht allein im Elend der Gottesferne

Aber es passt eben überhaupt nicht zu „Vom Himmel hoch“, weder inhaltlich noch formal. Man muss das Lied schon sehr oberflächlich lesen, um es als geeignete Vorlage für ein Krippenspiel in der Familie anzusprechen. Maria und Josef kommen darin nicht vor und die Hirten werden nur am Rande als Wegbegleiter erwähnt. Zwischen den Strophen gibt es zwar öfter einen Wechsel der Rederichtung, aber das dürfte eher der Vorlage des Bänkelliedes nachempfunden sein als der Idee eines kindlichen Laienspiels. Vor allem aber hat der Reformator inhaltlich seinem „Kinderlied“ die ganze schwere schöne Frucht des wiederentdeckten Evangeliums aufgebürdet, die sich aus Kindermund sehr künstlich anhören würde: „Er will euer Heiland selber sein, von allen Sünden machen rein.“ (Str. 3) „Und kommst ins Elend her zu mir; wie soll ich immer danken dir?“ (Str. 8). Freilich, Luther tut das nicht in der Form trockener dogmatischer Formeln, sondern als lebendiges Wechselgespräch, anschaulich und mit einer gehörigen Prise volkstümlicher Gesellschaftskritik. Da können sich die Weihnachtsprediger heute gern ein Stück abschneiden und sollten das Etikett „links“ nicht scheuen, das ihnen bei solchen Sätzen heuer in mancher Citykirche sicher umgehängt wird. „Und wär die Welt vielmal so weit, von Edelstein und Gold bereit, so wär sie doch dir viel zu klein, zu sein ein enges Wiegelein.“ Gold und Edelsteine mögen eine wertsichere Geldanlage sein unterm Weihnachtsbaum; aber den Blick auf die Mitte von Weihnachten verstellen sie eher, als dass sie ihn zum Leuchten bringen. „Luthers ,Kinderlied entreißt Weihnachten der Gefühlsseligkeit, in der sich die Menschen an ihrer eigenen Feier um Idee und Abbild des Kindes oder der Mütterlichkeit oder des Familienglücks berauschen und sich mit der Betrachtung und Darstellung schließlich nur noch der Attribute von Stall und Krippe, Wiege und Windeln, Kind und Esel begnügen. Die ganz menschliche und kindliche Freude am liebenden Umgang mit dem Jesuskinde ist erst die Frucht, die dem Aufmerken auf die neue, unerhörte, fremde Botschaft vom Himmel folgt.“.....

Beim Weitersingen wird ja schnell deutlich: Hier geht es nicht nur um ein paar sozialkritische Spitzen, hier geht es um den Kern des Evangeliums: „Der Sammet und die Seide dein, das ist grob Heu und Windelein.“ Indem Gott diese widersprüchlichen Zeichen seiner Gegenwart wählt, zeigt er an, „wie aller Welt Macht, Ehr und Gut vor dir nichts gilt, nichts hilft noch tut.“ Die Krippe als Predigerin der sola gratia, allein aus Gnaden. Gerade an dem Fest, das wir gern mit so viel Komfort ausstaffieren, um uns von dem Stress des Alltags zu erholen, geht es um unsere Armut und um unsere leeren Hände, wenn die Frage geklärt wird, was wirklich Wert hat. Der Friede, der uns Zukunft eröffnet, kommt zwar „vom Himmel hoch“, aber nicht als Sahnehäubchen auf unsere mühsam erwirtschaftete Selbstzufriedenheit. Er muss „von oben“ kommen, weil auch die höchsten Türme, die wir von unten aufbauen, ins Leere gehen und auf tönernen Füßen stehen. Das kleinste Erdbeben unseres Glücks bringt sie zum Einsturz. Es geht darum, dass wir beim Anblick dieses Kindes nicht von rührseligen Gefühlen überwältigt werden, sondern erkennen, dass es „ins Elend her zu mir“ kommt, also nicht in sein, sondern in mein Elend, ein altes Wort für die Gottesferne.

Das unterstreicht dann die neue Melodie, die Luther einige Jahre später für sein Lied komponiert und nach der wir „Vom Himmel hoch“ seitdem singen. Die gleichbleibenden Töne des Gassenhauers in den Zeilen 1, 2 und 4 der alten Melodie, die noch die Trommelschläge oder die Fanfare des Bänkelsängers atmen, werden durch ab und aufsteigende Tonleitern ersetzt. „Dabei fällt es unserer Melodie offensichtlich schwer, von dem königlichen Oktavton Abschied zu nehmen: Schon nach den ersten vier Tönen abwärts kehrt sie wie selbstverständlich zu ihm zurück. Dann aber wird der Absturz in kräftigen Sprüngen in Angriff genommen, doch kurz vor dem Ziel noch einmal aufgefangen (Z. 2). Dieser gewaltsame Zug nach unten hat aber die Sehnsucht nach der verlorenen Oktav erst recht gesteigert: Sie wird in kräftiger Gegenbewegung aufs Neue erreicht (Z. 3). Und erst in der letzten Zeile, die ohne Gewaltsamkeit in gelassenen Sekundschritten die ganze Tonleiter durchmisst, findet die Melodie ihre Erfüllung.“.... So zeichnet die Melodie eindrucksvoll nach: Der Himmel kommt in dem Gottessohn zu uns auf die Erde und wir durch ihn in den Himmel.

Gelobt sei Gott im höchsten Thron (EG 103)

.... Wer von Ostern, von der Auferweckung Jesu Christi, im Tonfall des Recht-haben-Wollens redet und nicht so, dass Gott dabei im Mittelpunkt steht, der verfälscht diesen Kernsatz unseres Glaubensbekenntnisses. Diese Gefahr taucht immer da auf, wo Menschen versuchen, die Auferstehung Jesu als ein historisches Faktum darzustellen, das jeder anerkennen müsse.

Ostern beweist: Hier ist nichts zu beweisen

Auch diese Neigung begleitet das Reden der Christen von Anfang an. Die Erzählung „vom leeren Grab“ wurde offenbar schon in den ersten Gemeinden von manchen so aufgefasst und weiter erzählt. Ich denke nicht, dass sie aus diesem Anlass erfunden wurde, wie man gelegentlich in theologischen Kommentaren lesen kann. Dagegen spricht schon, dass in der christlichen Kirche von Anfang an die Auferweckung Christi und unsere Hoffnung auf eine Auferstehung von den Toten eng miteinander verbunden waren. „Wenn aber Christus gepredigt wird, dass er von den Toten auferstanden ist, wie sagen dann einige unter euch: Es gibt keine Auferstehung der Toten?“, fragt Paulus sichtlich erstaunt seine Briefpartner in Korinth und fährt unmissverständlich fort: „Gibt es keine Auferstehung der Toten, so ist auch Christus nicht auferstanden!“ (1Kor 15,12f.). Vor diesem Hintergrund ist der Nachweis eines leeren Grabes zu Ostern eher ein Hindernis als eine Hilfe; denn jeder weiß – und die Korinther wussten es auch –, dass unsere Gräber nicht „leer“ sein werden.....

Unser Lied lässt von Anfang an keinen Zweifel aufkommen: Ostern will nicht bewiesen, zu Ostern will Gott gelobt werden. Aber das Lied scheut sich nicht, in dem Zusammenhang ausgerechnet die Ostergeschichte zu erzählen, in der das leere Grab eine Rolle spielt. „Gelobt sei Gott im höchsten Thron“, das steht am Anfang – und das nicht als eine leere Formel: „der für uns hat genug getan“, heißt es gleich in der ersten Strophe programmatisch. Michael Weiße, der Dichter unseres Liedes, wusste: Gott kann man nur glaubwürdig loben, wenn dabei die Liebe zu den Menschen im Blick ist. Das gesamte Evangelium, die Geschichte Jesu von der Geburt bis zu seiner Auferweckung, wird nur sachgerecht erzählt, wenn sie als „für uns“ geschehen ausgelegt wird. Und wer „für uns“ sagt, lobt Gott; nur von ihm her, als Ausdruck seiner Liebe, wird die Geschichte Jesu von Nazareth zum Evangelium. Aber weil zum Loben immer auch das Erzählen gehört, wird im Folgenden auf die Erzählung aus Markus 16,1–8 Bezug genommen.....

In der ursrpünglichen Fassung des Liedes, die zwanzig Strophen umfasste, kommt das noch unmittelbar zur Sprache. Auch damals bestand das Lied schon aus drei Teilen: dem Lob Gottes (ursprünglich Str. 1 und 2, heute 1, der Ostererzählung (3 bis 17, heute 3 und 4) und einem Gebet (18 bis 20 bzw. 5 und 6). Die Kürzung wurde bereits im 19. Jahrhundert vorgenommen, weil sich das Lied bis dahin in den Gemeinden nicht recht durchsetzen wollte, vermutlich wegen des überlangen Erzählteils in der Mitte. Dieser Teil enthielt freilich auch mit deutlichen Worten, was in den biblischen Ostergeschichten über die Fassungslosigkeit der Frauen (Mk 16,8) bzw. das Unverständnis der Jünger (Lk 24,11) gesagt ist.

„Die weyber feelten diser leer, und sagten dem betrübten heer, wie jhesus weg getragen wer. Halleluja. / Doch glaubten als die jünger nicht, wie denn auch die rechte geschieht, weil's jhn nicht kam vor jhr gesicht. Halleluja.“

Gestorbene Strophen auferwecken

Diana Rothaug stellt in ihrem Kommentar zu unserm Lied in der Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch die Frage, ob diese Strophen nicht „auch zum Bezugspunkt des heutigen Menschen werden (könnten), der der Osterbotschaft zweifelnd gegenübersteht“... Die altertümliche Ausdrucksweise allein spricht nicht dagegen. Schließlich wurden auch die übrigen Strophen bei der Übernahme in unser Gesangbuch einer gründlichen Revision unterzogen. Als Strophe 5 und 6 in den heutigen Textzusammenhang eingefügt, könnten sie z.B. lauten:

„Die Frauen fürchteten sich sehr. Den Jüngern brachten sie die Mär, dass Jesus wohl gestohlen wär. Halleluja . /

Die aber glaubten ihnen nicht, zu töricht schien ihn‘n der Bericht. Sie wollten sehen die Geschicht‘. Halleluja.“

Daran schlösse sich dann auch logisch wie im Original die Bitte an den Auferstandenen an, selber unser Herz für die Osterbotschaft zu öffnen, weil wir dazu nicht in der Lage sind....

Ich lobe meinen Gott (EG 272)

.... Anfangs hat das Lied nur eine Strophe. Erst 1988 erweitert Yves Kéler den Text um vier weitere Verse, wobei er sich eng an die Aussagen von Psalm 9 hält (Colette Chans-Gobert am 18.7.12).

Die deutsche Fassung des Liedes bestätigt diesen Hintergrund. Verfasserin der einen Strophe, die ins EG aufgenommen wurde, ist Gitta Leuschner, eine ehemalige Lufthansa-Stewardess, die in einer Lebenskrise ihre Bekehrung zum Glauben an Christus als Lebenswende erlebte. Sie lernte das Lied auf einem Festival 1976 in der französischen Schweiz kennen, wie sie mir auf Anfrage mitteilte, und nahm es mit in ihre Arbeit der „Jugend mit einer Mission“ in Hurlach / Bayern. Diese evangelistisch-fundamentalistische Organisation, international als YWAM (Youth with a Mission) bekannt, hat in Deutschland mehrere Einrichtungen gegründet. „JMEM Hurlach möchte ein Tor in die Mission sein“, sagen die Verantwortlichen über sich selbst. „Wir wollen dazu beitragen, Nationen und Generationen mit dem Evangelium zu erreichen, und ihnen helfen, ihren Platz im Reich Gottes einzunehmen.“

Auf meine Bitte, mir ihren Liedtext zu erläutern, teilte mir Gitta Leuschner mit: „Das Lied fand überall sehr schnell großen Anklang und wurde im deutschsprachigen Raum zu einem „Renner“. Der Grund dafür ist wohl, dass es aus der Bibel stammt und eine frische, Freude bewirkende Ausstrahlung hat. Wenn ich Lobpreis leitete, war es meistens auf meiner Liste ... Ich hab übrigens an die hundert Lobpreislieder aus dem Englischen übersetzt. Die meisten davon sind in irgendwelchen Liederbüchern zu finden.“ Auf meine beharrliche Rückfrage, woran sie z.B. bei „Erzählen will ich von all seinen Wundern“ im Einzelnen denke und welche „Botschaft“ sie mit ihrem Text vermitteln wolle, erhielt ich leider keine weitere Antwort, trotz mehrmaligem Bitten.

.... In dem Psalm heißt es: „Der Herr ist des Armen Schutz ... Herr, steh auf, dass nicht Menschen die Oberhand gewinnen“ (Ps 9,10 und 20). In Frankreich hat man das gespürt und deshalb 1988 die Strophen 2 bis 5 hinzu gefügt. ...

Die Melodie von Claude Fraysse ist gemessen an ihrer romantischen und von Anfang an charismatisch geprägten Entstehungsgeschichte erstaunlich schlicht. Sie hat nichts Überschäumendes an sich. Aber vielleicht macht sie das so sympathisch. In feierlichem Es-Dur und einem gemäßigten 2/2-Takt gehen die Töne in 20 Takten Silbe für Silbe den Text entlang. Ein ruhiges Singtempo empfiehlt sich schon allein wegen der vielen Silben, die beim Singen unterzubringen sind.“... Man nimmt unwillkürlich das Gefühl dankbarer Verwunderung mit, von dem der Text spricht. Matthias Krepelin hat zweifelsohne Recht, wenn er bei einem Symposion am 8./9.4. 2011 in Karlsruhe mit dem Thema Gesangbuch und Kirchenlied in der abschließenden Andacht ausführt: „Das gesungene und gespielte Gotteslob hat … etwas Therapeutisches …, es singt nicht nur vom vergangenen Heil oder vom zukünftigen Heil, sondern es macht das Heil gegenwärtig erfahrbar, es wirkt selbst das Wunder, von dem es singt“...

Aber das macht einen Text, dem man nachdenken und über den man sprechen kann, nicht überflüssig. Die französische Vorlage übersetzt deshalb in Strophe 2 die Verse 8 und 9: „Gott, der Herr, ist König, er regiert für immer. Er hat seinen Thron aufgerichtet, um Urteil zu sprechen, er richtet die Erde. Die Welt wird die Kraft seines Armes sehen.“ Strophe 3 nimmt die Gedanken des Psalmverses 10 auf: „Gott sieht die Unterdrückten, er ist ihr Obdach, ihre Zuflucht in Zeiten großer Not. Sein Name ist ihr Heil. Gott sieht den Unterdrückten und er rettet sein Volk, weil er der heilige Gott ist.“ Strophe 4 ergänzt und verstärkt: „Gott hört die Schreie derer, die wir vergessen haben.“ Und die letzte Strophe bildet den trinitarischen Schluss. Das Lied enthält in seiner französischen Vorlage also genug biblischen Stoff, um den Lobpreis von Strophe 1 auszumalen. Warum findet sich davon im Deutschen nichts?

Heilender Lobgesang

Nun, es gibt schon eine Reihe von Versuchen , das Lied mit weiteren Strophen anzureichern. Diese orientieren sich allerdings, soweit ich sehe, inhaltlich durchweg nicht an der französischen Vorlage oder dem zugrundeliegenden Psalm, sondern an einer englisch-amerikanischen Version aus der Global-Praise-Bewegung, und bleiben genau so allgemein und konturenlos wie die erste.

Global-Praise-Bewegung? Hartmut Handt erklärte mir, was es damit auf sich hat. „Der Musikethnologe und Kirchenmusiker I-to Lohe aus Taiwan ebenso wie der schwedische Theologe und Liedermacher Per Harling, die beide zu unserer Gruppe gehören“, schrieb mir Handt auf Anfrage, „(bezeichnen sie) als kulturellen Kolonialismus, (im Blick auf) ihre Ausbreitung in aller Welt (mit gigantischer Public Relation-Arbeit und gezieltem Kommerz)...weil sie in weiten Teilen der Erde die indigene Musik, die in manchen Kulturen im christlichen Bereich gerade erst zu keimen beginnt, unterdrückt“ (Email vom 10.4.2012).

Um die ruhige festliche Musik und die angesprochene „therapeutische Wirkung“ (Krepelin s.o.) beim Singen nicht zu stören, könnte es sich aber in der Tat nahe legen, die Thematik des 9. Psalms im engen Umkreis des eigenen Ich zu meditieren und den Blick zugleich doch über eine nur trancehafte Wiederholung des Hauptgedankens hinauszuführen. Zum Beispiel so:

1. Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen / Erzählen will ich von all seinen Wundern und singen seinem Namen. / Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen. Ich freue mich und bin fröhlich, Herr, in dir. Halleluja.

2. Ich singe meinem Gott und wäge die Worte, / verstehen möchte‘ ich, was sein guter Wille in meinem Leben wirkte. / Ich singe meinem Gott und all meine Lieder,/ sie tragen die Schreie nach ihm in die Welt. Halleluja!

3. Ich suche meinen Gott und prüfe die Spuren, / die er in der Zeit meines Leids in den Sand schrieb, ich war ja nicht verlassen. / Ich suche meinen Gott von ganzem Herzen./ Erzählen will ich, wie er sich hat erbarmt. Halleluja!

4. Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen. / Verschenken will ich mein Lied an die vielen, die noch nach Worten suchen. / Ich lobe meinen Gott und trau seinem Segen./ Er gibt sich auch dem, der noch nicht nach ihm fragt. Halleluja! (Klaus von Mering 2012)

Vielleicht fände das gefühlvolle Lied dann noch öfter in unseren Gemeinden Verwendung, wenn es sich mit verschiedenen biblischen Themen oder Predigtaussagen verbinden ließe.

Großer Gott, wir loben dich (EG 331)

...... Der Text des Liedes hat schon zu Franz' Lebzeiten zahlreiche Bearbeitungen erlebt, die auch später nicht aufhörten. Nicht alle waren Verbesserungen und haben sich deshalb auch nicht durchgesetzt. Am heftigsten haben die Nazis das Lied für ihre Zwecke umgearbeitet. Zum einen wurden alle Worte getilgt, die auf alttestamentliche Texte verwiesen, nach dem Motto: „Christus ist nicht Sproß und Vollender des Judentums, sondern sein Todfeind und Überwinder“ (52, S. 16). In dem Zusammenhang wurden die meisten Strophen kurzerhand gestrichen und zwei völlig neue hinzugefügt:

Alle Lande, Herr sind dein, / dein o Gott sind alle Meere.

Dir soll drum befohlen sein,/ unser Leben, unsre Ehre;

strecke segnend deine Hand / über unser Vaterland.

Dort, wo unsre Fahnen weh’n, / sei’s zu Lande, sei’s zu Meere,

lass die Treue Schildwach steh’n. / Sei uns selber Waff’n und Wehre! / Losungswort sei allzu gleich: / Treu zu Führer, Volk und Reich.

Nach dem Krieg wurde das Lied zunächst in beiden großen Kirchen nur zögerlich wieder in der alten Fassung in Gebrauch genommen. Man einigte sich auf eine elfstrophige Gestalt – die ursprünglichen Strophen 5 und 6 wurden zu einer zusammengefasst. Vor allem aber wurde darauf geachtet, dass der wichtige Mittelteil, die Strophen (4 bis 5) 6 bis 8 wirklich wieder die Mitte des Liedes bildeten und keine Kürzungen mehr in Umlauf kamen. Der Gefahr, aus dem Lied eine Hymne zu machen, in der Gott noch zur Steigerung des menschlichen Selbstbewusstseins zitiert wird, wurde dadurch gewehrt. In dieser Form kann unser Lied heute durchaus einen wichtigen Dienst leisten, indem es evangelische und katholische Christen, auch solche, die nicht regelmäßig den Gottesdienst besuchen, zum gemeinsamen Singen vereint.

Meinem Gott gehört die Welt (EG 408)

..... „Meinem Gott gehört die Welt“ und „Sein Eigen bin auch ich“. Wie sehr ist unser Besitzdenken uns eigentlich förderlich und welche Nachteile hat es? Ich denke, das betrifft nicht nur Grund und Boden oder Geld. Jahrhunderte lang hielten Menschen es für unverzichtbare, andere Menschen zu besitzen: Sklaven, Leibeigene, Frauen. Es hat lange gedauert, bis man einsah (und es ist noch immer nicht selbstverständlich): Menschen kann man nicht besitzen. Sie gehören einem nicht. Auch der Ehepartner, auch die eigenen Kinder nicht. Nicht einmal ich mir selbst. „Meinem Gott gehört die Welt.“

An dieser Stelle müssen wir aber noch ein anderes falsches Besitzdenken ansprechen: „Mein Gott“, das könnte ja auch so gemeint sein, dass ich Gott unter meine Besitztümer einreihe. Manchmal klingt das so: „Das muss jeder selbst wissen!“ Unter dem Vorwand der Toleranz wird das Suchen nach einer verbindlichen und Menschen verbindenden Wahrheit eingestellt. Gott wird verkleinert auf einen religiösen Privatbesitz. Ich sag nichts gegen deinen Gott, sag du nichts gegen meinen! Aber wer kann so leben? Wenn wir jeder in einen Glasbehälter kröchen, um ungestört zu sein, gingen wir an unserm Alleinsein kaputt. Wir brauchen den einen Gott über uns, dem wir alle gehören, jeder in seiner Unverwechselbarkeit.

Manchmal klingt das „mein Gott“ auch so: Ich lass mir meinen Kinderglauben von dir nicht zerstören. Das sagt jemand, dem ein bestimmtes Bild von Gott seit langem vertraut und selbstverständlich ist. Und nun zeigt ihm jemand ein ganz anderes Bild, das zu seinem überhaupt nicht passt. Das macht ihm Angst, weil er denkt: Hab ich vielleicht die ganze Zeit etwas Falsches geglaubt? Ich glaube, um von dieser Angst nicht weggeschwemmt zu werden, ist es heilsam, sich klarmachen: Nicht Gott gehört mir. Sondern ich gehöre Gott. Kann gut sein, dass ich noch nicht alle Seiten von ihm kennengelernt habe. Darum komm her und erzähl mir von deinen Sichtweisen, deinen Bildern. Vielleicht können wir unsern Erfahrungsschatz gemeinsam erweitern. Aber eins ist sicher: Meine Verbindung zu Gott ist nicht in Gefahr; denn ich gehöre ja ihm....

Weißt du, wie viel Sternlein stehen (EG 511)

Wenn sie hundert Freunde und Bekannte auf die Beine bringen würde, wäre es schon ein Erfolg. So hatte die norwegische Studentin Lill Hjønnevåg kalkuliert, als sie im Frühjahr 2012 während der Gerichtsverhandlung in Oslo gegen den Terroristen Anders Behring Breivik und seine rechtsextremen Thesen spontan zu einer musikalischen Demonstration aufrief. Nicht hundert, sondern rund 40 000 Menschen folgten nach Schätzungen der Polizei ihrem Appell. Gemeinsam sangen sie auf dem Youngsplatz im Zentrum der norwegischen Hauptstadt im Nieselregen ein Kinderlied. „Wir werden zusammenleben wie Brüder und Schwestern, kleine Kinder des Regenbogens und einer fruchtbaren Erde“, lautet der Refrain des Liedes. Seit den siebziger Jahren wird es überall in den Kindergärten und Grundschulen Norwegens gesungen. Breivik, der am 22. Juli 2011 eine Autobombe in Oslo gezündet und danach ein Massaker unter den meist minderjährigen Teilnehmern eines Zeltlagers der norwegischen Jungsozialisten verübte, hatte das Lied Monate später vor Gericht abfällig als Beispiel für die von ihm angeprangerte „marxistische Indoktrinierung“ des Kulturlebens in Norwegen zitiert.

Als ich von dieser machtvollen Demonstration der Norweger in der Zeitung las, habe ich mich unwillkürlich gefragt: Wäre etwas Ähnliches auch bei uns in Deutschland möglich? Und wenn ja, was würde die Menge bei uns singen? Könnte es das Lied „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“ sein? Es sind immer noch viele, die es als Kinder gesungen und nicht vergessen haben. Und es werden hoffentlich in Zukunft noch mehr sein, weil es nun wieder in unseren Gesangbüchern steht....... Als Hindernis, das Lied „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“ heute mit Kindern zu singen, könnten sich die zahllosen Verkleinerungen im Text erweisen: Sternlein, Mücklein, Fischlein, Bettlein – im 19. Jahrhundert galt das als Ausweis dafür, dass man sich bewusst an Kinder wendete. Heute empfinden wir solche Verniedlichungen eher als kindisch denn als kindgemäß. Man soll zwar ihren Verstehenshorizont berücksichtigen, aber nicht in der Babysprache mit ihnen reden, lassen uns die Pädagogen wissen. Ich halte es deshalb für vertretbar, von Sternen, Mücken, Fischen und Betten zu singen; das Lied verliert dadurch nichts von seiner Verständlichkeit, gewinnt eher – Wilhelm Hey dichtete übrigens noch „Weißt du, wie viel Sterne stehen“, Sternlein wurde daraus erst durch Angleichung an die folgenden Verkleinerungen...

Wichtiger scheint mir indes, dass wir den Kindern vermitteln: Was sie in Bilderbüchern über Sterne und Wolken, Mücken und Fische lesen, steht nicht im Widerspruch zu der Aussage des Liedes: Gott hat sie gezählt; er rief sie mit Namen. Wir dürfen angstfrei neue Entdeckungen der Naturwissenschaften zur Kenntnis nehmen. Unser Vertrauen darauf, dass alles aus Gottes Hand kommt, wird davon nicht berührt. Die Biologie kann mir erklären, wie ein Kind entsteht und geboren wird. Unser Glaube sagt uns, wozu wir auf der Welt sind und warum wir uns nie allein fühlen müssen: „Gott im Himmel hat an allen seine Lust, sein Wohlgefallen; kennt auch dich und hat dich lieb.“

Wir haben Gottes Spuren festgestellt (EG W 656)

..... Man mag sich fragen, worüber man sich mehr wundern soll: Darüber, dass solche Sätze es in den kleinen Kreis der Kernlieder in unserer Kirche geschafft haben, oder darüber, dass uns Evangelischen solche beunruhigenden biblischen Impulse ausgerechnet von einem katholischen Priester zugespielt werden. Zils ist sich jedenfalls sicher, dass sein Lied in beiden Kirchen „wohl einigen auf Sicherheit (trügerische Sicherheit) bedachten Glaubenden missfiel“ und sie das Anstößige durch Korrekturen abzumildern suchten. Aber das kann nur gelingen, wenn wir – anders als Jesus – der Versuchung nachgeben und „aus Steinen Brot machen“ (Mt 4,3): Scheinbar wird so auf wunderbare Weise dem Hunger gewehrt. In Wahrheit wird dadurch nur der „Stein des Anstoßes“ (Röm 9,33) zur weichen Masse gemacht, die sich breittreten und so abschaffen lässt.

Ich habe Diethard Zils in meinem ersten Brief gefragt, warum er die sechs Strophen der französischen Vorlage damals durch nur drei deutsche Strophen ersetzt habe. Er gab unumwunden zu: Mehr habe er damals einfach nicht geschafft. Aber das sollte nicht sein letztes Wort sein. Schließlich gibt es bereits seit den 90er Jahren eine sechstrophige Übertragung der französischen Vorlage von Dieter Trautwein (in Thuma mina, internet. ökumen. Liederbuch München 1995 Nr. 244). Die Herausgeber des neuen „Gotteslob“ hatten deshalb jüngst schon bei Zils angefragt, ob er sich eventuell mit der Übernahme der Strophen 4 bis 6 von dieser Fassung einverstanden erkläre. Aber dazu habe er sich nicht verstehen können, schrieb er mir, „nicht etwa wegen mangelnder literarischer Qualität, sondern weil sie im Vergleich mit meinem Text einen anderen literarischen Dialekt spricht.“

Drei neue Strophen - ein Vorabdruck

So hat er sich noch einmal hingesetzt und weitere Strophen übertragen, „was nach so vielen Jahren, die inzwischen vergangen waren, gar nicht so leicht war. Ob es ein gelungener Versuch war, ich weiß es nicht“, sagt er bescheiden. Die LeserInnen mögen es selbst beurteilen. Hier sind seine neuen Strophen:

4. Wir sah‘n die Reichen traurig und verstört

fortgehn mit leeren Händen,

wussten: der Schrei der Armen ist erhört,

ihre Nacht wird endlich enden.

5. Sättigen sah‘n wir sich mit Brot und Wein,

die immer Hunger litten,

sah‘n, wie die Armen singend zogen ein

in den Festsaal: Gott ließ bitten.

6. Wir sahen den Verlornen, der sich fand

in seines Vaters Armen,

sah‘n, was uns trägt, ein Herz und eine Hand,

eine Liebe ein Erbarmen. (Diethard Zils 2012)

Man sieht sofort: Zils ist seinem Prinzip treu geblieben, biblische Bilder sprechen zu lassen: Den Reichen, der traurig fortgeht, kennen wir aus Mk 10,22. Die Einladung an die Armen ergeht immer wieder in den Worten und Gleichnissen Jesu (Lk 14,13, Mt 22,1ff; Lk 6, 20f. u.ö.). Und in der sechsten Strophe begegnet uns das Gleichnis vom verlorenen Sohn wieder (Lk 15,11ff)..

Zusammenfassend antwortet Diethard Zils auf meine Frage, was ihn zum Liederdichten angestiftet habe: „Letztlich ist das Dichten von Liedern meine Form des Betens, mein Versuch inmitten der immerfort wiederholten Selbsttor-Praxis der Kirche(n) Antworten auf meine Fragen zu suchen, den Glauben als befreiende Gabe Gottes nicht aufzugeben, esist für mich als Dominikaner (das ist ein Predigerorden) auch eine Predigt, die Gottes leiser Stimme einen Weg zu den Menschen zeigen will (und kann).“

Inmitten der immerfort wiederholten Selbsttor-Praxis der Kirche(n) – ich denke, das gilt nicht nur für dieses Lied und diesen Autor: Die Lieder unseres Gesangbuchs sind voll von tüchtigen Verteidigern, die sich unserer Selbsttor-Praxis in den Weg stellen und den Ball nach vorn spielen, damit die Tore dort geschossen werden, wo sie uns weiterbringen.