1967

Predigt über Markus 7, 31-37

(gehalten am 12. Sonntag nach Trinitatis, dem 13.8.1967 in St. Ulrich in Rastede)

Lieder:

Dir dir Jehova will ich singen EKG 237, 1-3

Nun lob mein Seel den Herren EKG 188, 3-5

Herr, für dein Wort sei hoch gepreist EKG 145, 1+2

O Jesu Christe wahres Licht EKG 50, 1-6

Herr höre Herr erhöre EKG 394, 1+6+9-11

Liebe Gemeinde!

Ein Mensch ist so hoffnungslos von seiner Krankheit gefangen, dass er sich im Laufe der vielen Jahre offenbar selbst mehr oder weniger damit abgefunden hat. Und dieser Mensch wird durch Jesus plötzlich gesund. Einer, der nach menschlicher Erfahrung endgültig die Möglichkeit verloren hat, znzuhören und zu antworten - diesem Menschen werden durch Jesus die Ohren aufgetan. Ich denke, das haben wir alle verstanden bei der Verlesung des Evangeliums, das heute unser Predigttext ist. Das Problem liegt offenbar bei diesem Evangelum nicht in der Hauptsache, sondern in. den Nebensache. Ich könnte auch so sagen: Die Fragen, die den meisten Menschen heute beim Hören dieser Geschichte kommen, sind eigentlich nicht Fragen nach der Botschaft dieser

Geschichte, sondern Fragen zu dieser Botschaft. Indem aber die Nebensachen problematisch werden, wird letztlich die Hauptsache auch problematisch. Darum dürfen wir, die wir vielleicht öfter mit der Bibel umgehen als andere, uns diesen Fragen nicht entziehen, auch wenn sie an der Hauptsache vorbeigehen.

Eine dieser Fragen, die heute immer noch – heimlich oder offen - von vielen Menschen gestellt werden, lautet: Kann Jesus das wirklich: Einen Tauben machen? Ich würde zunächst einfach antworten: Ja, das kann er. Aber diese Antwort reicht ja nicht aus. Denn hinter dieser Frage verbirgt sich in der Regel die unausgesprochene Hoffnung, eine Antwort zu hören, die so einleuchtend ist, daß ich nun selbst eigene und fremde Zweifel beschwichtigen kann.

Die Frage zielt ia nicht auf einen Jesus, der irgendwo und irgendwann gelebt und gehandelt hat, sondern sie steht auf dem Hintergrund der notvollen Gegenwart, wie sie uns heute umgibt. Warum gibt es denn das heute nicht? heißt das. Warum muß es heute Heime geben mit 10 000en von Bewohnern, eigenen Lehrern und Erziehern, Ärzten und Pastoren.

Ja vielleicht ist der eigentliche Anlaß zu dieser Rückfrage kein so allgemeiner, sondern einer, der viel näher liegt, vielleicht sogar in der eigenen Familie oder der nächsten Bekanntschaft. Ich muss

darum naher erläutern, wie ich das meine: Ja, Jesus kann das. Und ich stelle darum die Gegenfrage: Gibt es das heute denn nicht, daß scheinbar unheilbar Kranke gesund werden, auch Taubstumme? Können wir etwa nicht immer wieder erstaunliche Dinge hören und lesen von gelungenen Operationen und erfolgreichen Behandlungen auch scheinbar unheilbarer Krankheiten?

Der Frager wird mir wahrscheinlich entgegen halten: Ja, aber das sind doch ganz seltene Fälle, gemessen an der Zahl aller Kranken eine verschwindende Minderheit. Ich frage zurück: War das damals anders? Das Straßenbild jeder Stadt im Altertum war doch gezeichnet von Kranken mit den verschiedensten Gebrechen, die von ihren Angehörigen teils wegen Ansteckungsgefahr vertrieben, teils zum Betteln auf die Straße geschickt wurden. Die Zahlen gingen gewiß in die Hunderttausende, wenn nicht in die Million. Denn beim damaligen Stand der Medizin führte praktisch jede für heutige Verhältnisse vielleicht ganz unbedeutende Verletzung zu einer Ver-krüppelung. Oder eine Erkrankung, die heute mit Medikamenten erfolgreich bekämpft wird, hatte damals bleibende Schäden zur Folge.

Was bedeuten angesichts dieser Zahlen die wenigen, die durch die Vollmacht Jesu geheilt wurden. Hätte es nicht nahe gelegen, Jesus entgegenzuhalten: Ja, wenn du schon Herr über die Krankheit bist, dann bitte nicht nur hier mal einen und. da mal einen - das ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein! Dann bitte für alle, die ganze Welt!

In der Tat, liebe Gemeinde, dieser Vorwurf hat nicht nur nahe gelegen, er ist auch immer wieder ausgesprochen worden, und zwar nicht nur von Juden und Ungläubigen, sondern gerade auch von den nächsten Jüngern und Anhängern. Immer wieder haben sie Jesus gedrängt, in irdischer Sichtbarkeit und. Überzeugungskraft sein Messiasamt anzutreten: Bist du Gottes Sohn, dann .. dieser Aufruf zieht sich vom. Anfang seines Wirkens - wir denken an die Versuchung in der Wüste - bis zum Ende am Kreuz: Bist du Gottes Sohn, dann steige herab.

Jesus hat solche Bitten und Aufforderungen immer wieder zurückgewiesen und sie als die eigentliche Versuchung des Satans bezeichnet. Er hätte vielleicht wirklich die Möglichkeit gehabt, mit einem Schlage Krankheit und Not auf der Welt zu vernichten. Aber er wäre damit nicht Gottes Weg gegangen, der ein Weg von Gott in unser Menschsein sein sollte, sondern er wäre den Weg des Teufels gegangen. Denn die Welt ist ja nur um ihrer Feindschaft gegen Gott willen so geschlagen. Darum kann die wirkliche Heilung nicht darin bestehen, daß nur äußerlich die Not von Kranheit, Krieg und Hunger beseitigt wird. Die Ursünde, der eigentliche Krebsschaden wäre ja geblieben; denn die Menschen hätten auch weiterhin so tun können, als wäre die Welt ihre eigene und es ginge sie nichts an, wenn es Menschen anderswo schlecht geht oder die Schöpfung und ihrem Tun leidet. Jesus wäre bestenfalls der vollkommene Kommunist oder das vollendete Wirtschaftswunder in Person für diese Welt geworden. Aber der Weg zu Gott, der Weg des Glaubens, der Weg ins wirkliche Leben wäre für die Menschen verschlossen geblieben.

Darum hat Jesus nur einzelne Kranke geheilt, nur einzelnen Taubstummen Gehör und. Sprache wiedergeschenkt. Und auch nur so, dass diese Menschen eines Tages wieder krank geworden und endlich gestorben sind. Es ging ihm darum, Zeichen aufzurichten, Zeichen seiner Macht über Krankheit und Tod, damit das bei allen geschieht, was hier in der Geschichte bei den Zuschauern geschieht: Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohlgemacht.

Darum dürfen wir heute mit unserm Glauben nicht daran Anstoß nehmen, daß auch unter uns die Heilung von Kranken immer noch das Ungewohnte und. Unnormale ist; und daß auch die erfolgreiche Heilunng in. diesem. Leben immer nur eine vorläufige Besserung sein kann, die letztenendes am Tod nicht vorbeiführt. Denn nur so wird bei uns der Weg frei für das unerschütterlichen Vertrauen: Er hat alles wohlgemacht!

Ich meine allerdings, daß das nicht zum Freibrief werden darf, uns mit der Not in der Welt abzufinden. Die Tatsache, daß heute für die Kranken, für die Taubstummen, die Blinden, die Armen und was immer wir nennen wollen, daß zumindest für sehr viele von ihnen heute so gesorgt wird, daß sie nicht mehr auf der Straße zu liegen brauchen - diese Tatsache dürfen wir als Zeichen werten: Die Macht Jesu über die uns bedrohenden Mächte ist wirklich eine um sich greifende und sieg-

Macht. Und wir alle sind aufgerufen, dieser Macht zum Durchbruch zu verhelfen.

Aber damit bin ich eigentlich schon bei dem 2. Einwand gegen die Behauptung: Ja, Jesus kann das.

Er lautet: Ja, er kann das. Genauer: Er konnte das. Aber damit kann man doch die Erfolge heutiger Medizin nicht gleichsetzen. Heute geschieht das doch alles auf ganz natürliche, wissenschaftlich

exakte Weise, von Menschen, die oft ganz und gar nicht in der Vollmacht Jesu handeln. Und schaut umgekehrt die Kirche an, die doch wohl so etwas ist wie die eigentliche Sachwalterin Jesu sein sollte: Da passiert nichts. Muss man nicht etwas zugespitzt sagen: Zur Zeit der Bibel schauten die Augen der Nichtchristen erstaunt und verwirrt auf das, was sie in der christlichen Gemeinde geschehen sahen. Heute schaut die christliche Gemeinde erstaunt und verwirrt auf das, was sie bei den Nichtchristen geschehen sieht?

Ich glaube, liebe Gemeinde, hier stoßen wir in der Tat auf eine sehr faule Stelle im Gebälk unserer

Kirche. Aber diese Fäulnis rührt nicht daher, daß Christus das heilen und. helfen heute den Atheisten überlässt, sondern daher, daß wir die Wände unserer Kirche nach und nach so eng gezogen haben, daß der ganze Christus Jesus in seiner ganzen Vollmacht darin nicht mehr Platz hat. Es geht in unserer Zeit wohl entscheidend darum, daß wir - im Bild gesprochen - die Fenster und. Türen unserer Kirchen weit auf machen, und dann auf die Bänke steigen und hinausschauen, um endlich zu erkennen, daß Christus viel größer ist als der kleine liebe Heiland, den wir oft hier drinnen pflegen und kulttivieren, um dann schleunigst von den Bänken wieder herunter zu steigen und voll Hoffnung und Zuversicht hinaus und an die Arbeit zu gehen.

Man kann sich den Fehler dieser lebensgefährlichen Verengung unserer Kirche schon an so kleinen Äußerlichkeiten wie unserer Sprache klarmachen. Das Neue Testament nennt die Kirche den Leib Christi und weist darauf hin, dass er viele sehr verschiedene Glieder hat. Wir haben eigentlich – fürchte ich - einen Seelensilo daraus gemacht. Wir zählen die Gemeindeglieder nach „Seelen“, wir Pastoren werden als Seelsorger bezeichnet und in Anspruch genommen, unsere Gottesdienste sind weithin Veranstaltungen für die Seele, unser leiblicher Mensch ist oft gar nicht gefragt. Höchstens beim Kollekte geben - und das gibt nicht selten Anlaß zum Ärgern, genauso wie Predigten, die sich zu sehr mit alltäglichen Fragen beschäftigen.

Jesus Christus hat sich nie nur um die Seelen der Menschen gekümmert, in unserm Predigtext ist von der Seele des Taubstummen ebensowenig die Rede wie in allen andern Erzählungen des Neuen Testaments. Im Gegenteil: Es wird sehr bewußt, ,ja beinahe anstößig von den leiblichen Gesten gesprochen, mit deren Hilfe Jesus dem Kranken aus seiner zunächst leiblichen Not heraushilft. Ich denke, daß wir von hier aus noch sehr viel nachzudenken haben, nicht nur.über die Gestalt unserer Gottesdienste, etwa die Stellung und Gestaltung des Abendmahls in unsern Gottesdiensten, sondern überhaupt über die Gestalt unseres Glaubenslebens und damit die Gestalt der Lebensgemeinschaft in unserer Kirchengemeinde. Damit Jesus Christus für uns endlich nicht mehr nur ein Seelenchristus und. damit praktisch ein Sonntagvormittagchristus sein kann, damit wir ihn endlich in seiner ganzen umgreifenden Vollmacht entdecken, also auch da, wo nicht Bibel und. Gesangbuch, sondern vielleicht Medikamente oder Schulbücher oder Gesetzestexte im Schrank liegen. Auch da ist Christus, auch da wird in seiner Vollmacht gehandelt. Es ist immerhin bedeutsam, daß das Neue Testament diese Heilung des Taubstummen im galiläischer Gebiet der 10 Städte geschehen sieht, also außerhalb des heiligen Landes im jüdischen Verständnis.

Ich glaube, wenn wir diesen Aufbruch - es ist im wahrsten Sinn des Wortes ein "Aufbruch", da wird etwas aufgebrochen - ich glaube, wenn wir diesen Aufbruch in das weite Feld der Herrschaft Christi vollziehen, dann werden wir erstaunliche Dinge erleben. Wir selbst werden in einer ganz neuen und umfassenderen Weise von unserm Glauben her Weisung und Hilfe für unser Leben im Alltag empfangen. Wir werden erleben, wie auch unsere Zweifel und Unsicherheiten weniger werden, weil wir mit freudiger Überraschung immer mehr Zeichen der Wirksamkeit Christi entdeecken, nicht zuletzt auch darin, dass plötzlich Menschen zum Hören des Wortes Gottes und zum Beten finden, von denen wir es vorher nie geglaubt und zu hoffen gewagt hätten.

Und so sind wir auf einmal im gleichen Augenblick beides, Zeugen und selbst Betroffene von diesem Vollmachtswort Jesu: Hephata! Tu dich auf; denn wir werden erleben, wie Ohren sich auftun für die entscheidenen Worte und die Zunge anfängt, das wirklich „Rechte“ zu reden. Und damit wären wir auf dem Umweg über die Nebensachen am Ende doch bei der Hauptsache gelandet. Amen