Nils, der Student

Im Frühjahr 1973 machte Nils sein Abitur. Jetzt standen ihm alle Wege offen. Welchen Weg sollte er in seinem Leben gehen? Nils dachte gründlich nach. Er spürte tief in sich hinein und erkannte, dass drei Dinge für ihn sehr wichtig waren. Er wünschte sich eine gute Beziehung, er wollte für das Glück aller Menschen arbeiten und er sah die Notwendigkeit sich innerlich positiv zu entwickeln. Nach längerer Überlegung kam er zu dem Schluss, dass Rechtswissenschaft das richtige Studium für ihn war. Er wollte als Sozialist den Marsch durch die Institutionen antreten. Das war damals bei den 7 68igern eine verbreitete politische Idee. Alle Sozialisten werden Lehrer, Verwaltungsbeamte, Richter und Politiker. Sie unterwandern die wichtigsten Institutionen des Staates und verwandeln dann eines Tages den Staat in eine sozialistische Demokratie. Diese Idee wurde auch weitgehend in die Tat umgesetzt. Nur dass dann der Staat/der Beruf die Sozialisten in Normalbürger verwandelt hat. Damit hatte keiner gerechnet. Frühere Kommilitonen von Nils wurden Bundeskanzler, Außenminister, Regierungsräte, Richter und Lehrer. Einige ihrer politischen Ideale konnten sie durchsetzen. Aber im Wesentlichen blieb Deutschland so wie es war. Die Reichen wurden weiterhin immer reicher. Die Armen blieben arm. Die Umwelt wurde schmutziger. Die sozialen Verhältnisse wurden kälter. Die Solidarität blieb auf der Strecke. Jeder kämpfte gegen jeden. Statt sozialer Gemeinsamkeit verbreitete sich ein individualistischer Egoismus. Die Konsumideologie hatte über die sozialistischen Ideale gesiegt. Deutschland wurde ein fester Bestandteil des globalen Kapitalismus. Es gibt in der Zukunft noch viel zu tun. Nils wollte in die höhere Verwaltungslaufbahn und die Verwaltung demokratisieren. Er schrieb sich an der Hamburger Universität ein. Während seines ganzen Studiums engagierte er sich intensiv in der Studentenpolitik. Er war Mitglied im Fachschaftsrat, Präsident des Studentenparlaments, Sozialreferent im Asta und Vorsitzender des sozialistischen Hochschulbundes. Er hielt viele Reden, verteilte viele Flugblätter und nahm an vielen Demonstrationen teil. Von seinen Großeltern hatte er ein kleines Haus am Stadtrand von Hamburg geerbt. Dort zog er mit seinen Freunden Jochen und Norbert ein. Jochen war ein ruhiger Mensch, der Soziologie studierte und Amnesty International unterstützte. Norbert wollte Lehrer werden und machte Musik in einer Band. Zusammen bildeten sie die drei glorreichen Halunken. Sie stritten sich oft, hatten aber auch viel Spaß zusammen. Und dann war da noch ein kleiner Kater. Der fing die Mäuse und machte lange Ausflüge in den Wald. Irgendwo wohnten einige nette Katzen. Die besuchte der Kater von Zeit zu Zeit. Ansonsten lag er faul in seinem Katzenbett. Für das Studium brachte Nils so viel Zeit auf wie es notwendig war. Viele seiner Mitstudenten brachen aus Frust das Studium ab. Nils machte nacheinander alle Scheine. Er merkte kaum, dass er studierte. Er war fast vollständig mit seinen politischen Ideen beschäftigt. Neben der Rechtswissenschaft studierte Nils auch noch Soziologie, Politologie und Volkswirtschaft. Er wollte alles wissen, was ihm wichtig erschien. Er nutzte sein Studium für die allgemeine Erweiterung seines Wissenshorizontes. Er versuchte, die Dinge von der Gesamtperspektive her zu verstehen. Diese Vorgehensweise hat ihm später auch auf seinem spirituelleren Weg sehr geholfen. Nach dem Studium schickte das Leben die drei Freunde auf ganz unterschiedliche Reisen. Als Norbert mit seiner Ausbildung fertig war, wurden leider gerade keine Lehrer gebraucht. Er ging mit den Zeichen der Zeit und wurde Programmierer. In seinem Beruf war er sehr gut, nur leider verstand er sich mit seinen Chefs nicht. So wanderte er von Firma zu Firma. Und manchmal war er auch arbeitslos. Eines Tages lernte Norbert eine nette Frau kennen. Sie heirateten und waren nicht glücklich bis an ihr Lebensende. Sie begannen sich vielmehr nach einigen Jahren zu streiten und trennten sich. So enden viele Märchen in der heutigen Zeit. Norbert wanderte daraufhin nicht nur von Firma zu Firma, sondern auch von Frau zu Frau. 8 Als Nils Norbert nach vielen Jahren wiedertraf, war Norbert gerade ein Single. Genau wie Nils. Sie unterhielten sich über das Glück. Und fanden das sehr witzig und lachten dabei viel. Einmal musste Nils so lachen, dass er drei Tage lang immer weiter lachte. So lange hatte Nils noch nie gelacht. Norbert und Nils waren beide irgendwie auf dem spirituellen Weg angekommen. Das äußere Leben hatte sie erheblich frustriert. Nun suchten sie ihr Glück auf dem inneren Weg. Norbert bevorzugte einen kraftvollen Weg. Er liebte die Extreme und starke Energiefahrungen. Nils ging vorsichtiger vor. Er überlegte immer vorher genau, was er tun sollte. Er bevorzugte sanfte spirituelle Übungen. Er erklärte, dass jeder Mensch seinen eigenen spirituellen Weg finden darf. Norbert fand, dass es nur einen Weg der Wahrheit gibt und dass das sein Weg sei. Und was tat Jochen inzwischen? Jochen redete nicht über das Glück. Er lebte es. Jochen war ein Mensch, der das Leben liebte. Und das Leben liebte Jochen. Jochen folgte vorwiegend dem Lustprinzip. Er machte keine großen Pläne. Normalerweise endet der Weg der Unweisheit im Leid. Wer nicht über das Leben nachdenkt und keine Pläne macht, der tappt in die vielen Fallen des Lebens. Er lebt zu intensiv seine Bedürfnisse und wird eines Tages ein Opfer seiner Genusssucht. Er arbeitet zu viel und endet im Burn Out. Wer in der heutigen schwierigen Zeit nicht weise lebt, verbraucht sich selbst sehr schnell und endet in einem Leidfeld. Das Leben beginnt sein trauriges Gesicht zu zeigen. Jochen sah immer nur das lachende Gesicht des Lebens. Er machte die größten Dummheiten und fiel immer wieder auf die Füße. Er lebte das Chaos und alles wurde gut. Er machte keine weisen Pläne und das Leben plante alles weise für ihn. Bei Nils war alles umgekehrt. Wenn er sein Leben nicht gut plante, wurde er sofort mit dem Leid konfrontiert. Das Leben zwang ihn weise zu leben, damit er das Leid in angemessenen Grenzen halten und das Positive entwickeln konnte. Nils betrachtete Jochens Lebensweg mit erstaunten Augen. Bis er dann eines Tages auf die YogaLehre vom Karma traf. Da begriff er erstmalig die merkwürdigen Geschehnisse im Leben von Jochen. Jochen war nicht nur ein Genussmensch, er war auch ein guter Mensch. Er hatte ein großes Herz für seine Mitmenschen. Er liebte es seinen Mitmenschen Gutes zu tun. Viele Jahre in seinem Leben arbeitete er bei Amnesty International. Er kümmerte sich um politisch verfolgte Menschen und erreichte teilweise ihre Freilassung. Er engagierte sich für die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte. Jochen tat viel Gutes und erntete deshalb nach den Gesetzen des Karmas auch viel Gutes. Auf eine geheimnisvolle Weise bekam Jochen ständig Gutes vom Kosmos zurück. Der Kosmos kümmerte sich sogar um Jochens Lebensplanung, weil er wusste, dass Jochen nicht mit großer Weisheit begnadet war. Jochen war ein Hans im Glück, der immer ins Glück stolperte. Jochen hatte Soziologie belegt. Damit konnte man auf dem Arbeitsmarkt kaum etwas anfangen. Aber als Jochen zuende studiert hatte, wurde ihm eine Ausbildung zum Computerfachmann angeboten. Er war erfolgreich in seinem Beruf. Er lernte eine nette Frau kennen. Sie gründeten eine Familie und hatten ein glückliches Leben. Zwar gab es immer noch viel Chaos bei Jochen. Aber es ging auch immer noch alles gut aus. 9 Es kam sogar so weit, dass er eines Tages als Ober-Glücksmensch mit seinem Bild in einer großen deutschen Tageszeitung abgedruckt wurde. Im Text darunter erzählte Jochen von seinem Leben und wie glücklich er sei. Besonders zufrieden war er damit zweimal in der Woche mit seiner Frau Sex zu haben. Norbert fand es ziemlich ungerecht, dass Jochen in seinem Leben das große Los gezogen hatte. Er schnitt den Zeitungsartikel aus und schickte ihn Nils. Nils ließ sich davon nicht besonders beeindrucken. Er schrieb zurück an Norbert: "Erleuchtung ist größer als Sex. Sex ist kurzfristiges Glück. Erleuchtung ist dauerhaftes Glück. Die äußeren Genüsse sind das kleine Glück und Erleuchtung ist das große Glück im Leben. Jochen backt nur kleine Brötchen. Ein Mensch mit einem klaren Verstand verwirklicht das Wesentliche. Es lebe die Weisheit!" Norbert war davon nicht so ganz überzeugt. Er war hin und her gerissen. Er wusste nicht genau, ob er lieber die Erleuchtung oder eine tolle Frau im Bett haben wollte. Eigentlich wollte er beides. Und in der Realität klappte beides nicht. Wenn Norbert ganz ehrlich sein Leben betrachtete, dann hatte er auch schon viele tolle Frauen gehabt. Nur nicht auf die Dauer. Aber so ist das mit dem äußeren Glück. Äußeres Glück gibt es nie dauerhaft. Auch für Jochen kommt einmal die Zeit, wo er sich von seinem wilden Sexualleben verabschieden muss. Norbert war damit einverstanden erleuchtet zu sein. Nur hatte er keine Lust viele Jahre hart innerlich an sich zu arbeiten. Er hätte die Erleuchtung am liebsten auf einem Wochenendseminar gebucht. So etwas wird im Westen viel angeboten. Auch im Westen gibt es viele geschäftstüchtige Gurus. Norbert war nach jedem spirituellen Workshop so unerleuchtet wie vorher. Es hatte nur viel Geld gekostet und ihn auf einen falschen spirituellen Weg gelockt. Es gibt die schnelle Erleuchtung. Aber nur für Menschen, die schon viele Leben lang intensiv an sich gearbeitet haben. Wenn die inneren Verspannungen weitgehend abgebaut sind, genügt ein kleines Ereignis, um den großen Durchbruch zu bewirken. Große Yogis können in fünf Minuten zur Erleuchtung gelangen. Kleine Yogis müssen leider dafür ziemlich lange etwas tun. Norbert und Nils verstehen sich immer noch gut. Auch wenn sie nur wenig Kontakt zueinander haben. Norbert schrieb Nils einen Satz, über den Nils sich sehr gefreut hat: "Ich hoffe, dass wir bei aller Suche nach der Wahrheit sowohl den Humor als auch die Ernsthaftigkeit nicht aus den Augen verlieren."