Barbara und Nils

Erleuchtung bedeutet keine Wünsche mehr zu haben. Der alte Yogi überlegte, ob noch Wünsche in ihm sind. Früher wollte er ein großer Guru werden. Aber dieser Wunsch in ihm war verschwunden. Er hatte viele Bücher geschrieben, die viele Menschen gelesen hatten. Das genügte. Ein großer Guru zu sein war ihm zu anstrengend. Der Impuls war verschwunden. Aber plötzlich tauchte noch ein Wunsch auf. Der Yogi hatte viele Jahre alleine gelebt und intensiv spirituell geübt. Jetzt hatte er auch das intensive Üben aufgegeben. Er lebte in der Ruhe und hatte viel Zeit. Und etwas Langeweile. 

Er beobachtete die vielen Menschen in der Single-Szene. Sie waren ewig auf der Suche nach dem Traumpartner und ständig am Daten. Der alte Yogi wollte auch einmal daten. Er wollte auch dort mitspielen. Insgeheim sehnte er sich auch etwas nach einer glücklichen Beziehung. Also meldete er sich bei mehreren kostenlosen Dating-Portalen an. Er durchforstete systematisch nach bestimmten Suchkriterien (Frau zwischen 45 und 65) die Liste mit vielen Bildern. Er machte einige Frauen zu seinen Favoriten. Und er schrieb sieben Frauen an. Vier Frauen reagierten nicht. Zwei Frauen antworteten, dass er nicht ihr Typ sei. Der Yogi war frustriert. Er beschloss das Daten wieder aufzugeben.

Da meldete sich eine Frau und wollte ein Date. Von ihrem Bild her war sie sehr schön und hatte viele männliche Fans. Sie verabredete sich mit dem Yogi in einem gemütlichen Eiscafe in seiner Nähe. Der Yogi war aufgeregt und kam etwas zu früh. Und wartete. Ob sie wohl kommen würde? Sie kam. Und zwar pünktlich. Der Yogi mochte sie. Allerdings sah sie etwa zehn Jahre älter aus als auf ihrem Foto. Sie setzen sich an einen Tisch, bestellten etwas zu Trinken und unterhielten sich. Sie verstanden sich von Anhieb an sehr gut. Sie hatten die gleichen Themen und die gleichen Interessen.  

Die Frau meldete sich am nächsten Tag wieder bei dem Yogi. Sie besuchte ihn in seinem Haus. Doch leider blätterte außen vom Haus etwas die weiße Farbe ab. Und der Yogi trug seine alte Wolljacke mit den Löchern. Gemäß Patrul Rinpoche wollte er sich genau so zeigen wie er ist. Und nicht verschönern. Keine Lügen. Auch alle Macken und Fehler zugeben. 

Die Frau war schockiert. Sie erklärte ihm sofort, dass sie sich eine Beziehung mit ihm nicht vorstellen kann. Der Yogi war geschockt. Er brauchte eine halbe Stunde, um ihre Kritik zu verdauen. Aber da er Kritik gewohnt ist und negative Energie in positive Energie umwandeln kann, entwickelten sich die Dinge langsam zum Positiven. Er lenkte die Frau auf ihre Themen, sie öffnete sich und fand in ihm einen guten Zuhörer. Sie merkten wieder, dass sie sich gut unterhalten und verstehen konnten. Zum Abschluss durfte der alte Yogi die schöne junge Frau sogar umarmen. 

Da sein Date sich beim zweiten Treffen beschwert hatte, dass er zu zerlumpt herumlaufe, schenkte er ihr einen Kaufhausbesuch, bei dem sie ihn völlig neu einkleiden und stylen darf. Und dabei natürlich auch sich einige neue Klamotten kaufen darf. Sie saß in ihrem kleinen Auto und wartete auf den Yogi. Der Yogi war etwas unsicher was ihre Stimmung anbelangte. 

Sie hatte gute Laune. Gemeinsam fuhren sie ins Einkaufszentrum. Und dann stürzten sie sich in das vorweihnachtliche Gewühl. Alles was ihr gefiel wurde gekauft. Mit zwei riesigen Tüten beladen verließen sie das Geschäft. So hatte sich der Yogi das vorgestellt. Die Frau probierte dieses und jenes an. Sie war im Kaufrausch. Und der Mann trottet mit großen Tüten beladen als Packesel hinterher. 

Glücklich plapperte sie wie ein kleines Kind. Sie lebte ihre kindliche Seite voll aus. Der Yogi entdeckte das kleine Mädchen in ihr. Er war verzaubert von ihrem Charme. Und sie war begeistert von ihrem Yogi. Stolz erzählte sie einem indischen Verkäufer, dass ihr Freund ein Yogi ist und im Wald lebt. Und ganz lange auf einem Bein oder je nach Wahl auf dem Kopf stehen kann. Das tut der Yogi zwar eher nicht, aber so stellt Frau sich eben einen Yogi vor. 

Zum Abschluss aßen sie etwas Kuchen und tranken Kaffee in einem Restaurant. Ein gelungener Nachmittag. Da sie schon lange in der Dating-Szene aktiv war, hatte sie viele interessante Geschichten zu erzählen. Und der Yogi war ein guter Zuhörer. Er freute sich, dass er nicht so viel reden musste. Sie berichtete, dass viele ältere Männer energetisch ziemlich ausgelaugt sein. Unser Yogi habe dagegen aus ihrer Sicht noch viel Pep. Die 30 Jahre im Wald haben ihm offensichtlich gut getan. Und Weihnachten kam sie zu ihm zu Besuch. Es wurde ein schöner Heiliger Abend. 

Wie es mit ihrer Liebe weiterging, berichtet der Yogi in seinem Tagebuch. Hier gibt es noch einen kleinen Bericht über die erste Zeit in seiner neuen Beziehung: "Ich bin gerade extrem glücklich und dankbar, dass es Barbara in meinem Leben gibt. Sie ist das Wunder in meinem Leben und ich bin das Wunder in ihrem Leben. Ich dachte, dass es nie wieder eine große Liebe in meinem Leben geben würde. Und jetzt ist sie da. Ich spüre, dass sich unsere Seelen sehr tief verbunden haben. 

Wie vermeide ich zu starke Anhaftung? Im Prinzip ruhe ich im glücklichen anhaftungslosen Sein. Ich handele nicht und bin im großen Nichtstun. Ich spiegele meine Mitmenschen und reagiere auf äußere Impulse. Wenn Barbara Sexenergie auf mich strahlt, kommt Sex. Ein bisschen hafte ich aber schon an, sowohl am Sex als auch an der Idee, dass ich nicht mehr alleine bin. Das finde ich okay. Bei zu viel Anhaftung greift das Leben ein. Dann fängt Barbara an Stress zu machen. 

So komme ich durch viele Elemente immer wieder ins Gleichgewicht. Und ich spüre auch wo das Gleichgewicht verloren geht und mit welcher Strategie ich am besten dort hinkomme. Witzigerweise entsteht bei mir Verliebtheit auch gar nicht mehr richtig. Obwohl Barbara eine schöne, liebenswerte Frau mit einem tollen Körper ist. Früher wäre ich ausgeflippt. Jetzt wundere ich mich nur, dass so ein schönes Wesen heiß auf einen alten mickrigen Yogi ist.

Ich denke, dass der Kosmos mir Barbara geschickt hat, damit ich erkenne, dass das Leben Fülle ist. Ich hing die letzten 30 Jahre zu sehr im Leid fest, in der Einsamkeit, in meinen Reinigungsprozessen und in dem langen Sterben meiner Mutter. Heute höre ich das erste Mal wieder Ballermann-Musik, sehe Frauen mit prallen Brüsten und denke ich bin auf Malle im Proll-Paradies. Ich bin mir aber immer bewusst, dass das wahre Glück im erleuchteten Sein zu finden ist. Vor diesem Hintergrund kann ich durch die weltlichen Genüsse ohne Anhaftung durchgehen. Leben besteht immer aus Freude und Leid. So ist es auch mit Beziehungen. Und letztlich sind alle weltlichen Dinge vergänglich. Nur die Erleuchtung ist ewig. Hier liegt das wahre Glück. Wenn man das Glück in sich hat, dann kann man auch glückliche Beziehungen leben. Tanzen wir den Tanz des Lebens, am besten aus dem erleuchteten Sein heraus. Ich sehe Beziehungen als einen spirituellen Übungsweg. Wer klug tanzt, wächst spirituell am Tanz des Lebens."