Die erste große Liebe

Die erste große Liebe 

Man schrieb das Jahr 1968. Die Studentenbewegung begann. In Vietnam tobte ein blutiger Krieg zwischen den Amerikanern und den Nordvietnamesen. Überall auf der Welt erhoben sich die Studenten und demonstrierten für Frieden, Liebe und Demokratie. Es war eine Zeit, in der sich die Werte in der westlichen Welt veränderten. Mit etwas zeitlicher Verzögerung erreichte die Studentenbewegung die Schulen. Die Schüler begannen sich zu organisieren und hielten Schulversammlungen ab. Nils war mittendrin dabei. Er war jetzt ein Sozialist. Er wollte, dass alle Menschen in Frieden zusammenleben. Er wollte eine Welt, in der der Reichtum gerecht verteilt ist und alle Menschen etwas zu essen haben. Er war begeistert von dem großen Ziel einer glücklichen Welt. Er wollte die Welt verändern. Auf seine Schultasche hatte er mit großen Buchstaben geschrieben: Make Love Not War! Persönlich hatte Nils noch einige Schwierigkeiten mit der Liebe. Er hatte immer noch keine Freundin. Aber das änderte sich im Jahr 1970. Nils war jetzt achtzehn Jahre alt. In den Sommerferien fand ein internationales Jugendtreffen in Berlin statt. Mit sozialer Arbeit, vielen Gesprächen und vielen Feiern. Nils machte sich auf den Weg nach Berlin. Aus allen Städten Deutschlands strömten die Jugendlichen im Sommer 1970 in Berlin zusammen. Da alle Menschen frei, gleich und brüderlich sein sollten, schliefen sie zusammen auf Luftmatratzen im selben Raum. Jungen und Mädchen, Gruppenleiter und Gruppenteilnehmer, alles bunt durcheinander. Die Gruppenleiter wurden Teamer genannt. Nils verliebte sich in eine Teamerin. Sie hieß Helga. Sie war Studentin und wollte sich durch das Jugendtreffen etwas Geld dazuverdienen. Nils war ein pragmatischer Mensch. Er wünschte sich eine längerfristige Beziehung. Auf dem Jugendtreffen gab es viele sympathische Frauen. Es gab einige sehr attraktive Französinnen. Aber es gab nur zwei Frauen aus Hamburg, aus der Stadt in der Nils lebte. Die eine Frau war kein zu Nils passender Typ. Also machte sich Nils an die andere Frau heran. Das war nicht so einfach, weil Nils nur ein Schüler und Helga eine hochangesehene Studentin war. Aber Nils war geschickt. Er probierte es mit unverfänglichen Gesprächen, in denen er deutlich machte, dass er Helga sehr sympathisch fand. Letztlich war alles gar nicht so schwierig. Helga hatte gerade keinen Freund. Es gab viele Parties, auf denen man sich kennenlernen konnte. Jeden Abend war irgendeine Feier. Mit Kerzen auf Flaschenhälsen, Rotwein und Matratzen als Sitzgelegenheiten. Dazu gab es schöne Musik und ständig spannende Gespräche. Es ging über Politik, über das Verhältnis von Männern und Frauen und über tausend andere interessante Dinge. Helga fand es wunderbar, wie gut sie mit Nils über Psychologie und über Politik reden konnte. Nils hatte so eine Art an sich die Dinge immer ganz klar zu sehen. Er wußte immer genau wo es lang ging. Helga wußte das überhaupt nicht. Sie hatte sich völlig in dem Gewirr der vielen psychologischen und politischen Theorien verloren. Sie genoß es in Nils einen klaren Haltepunkt zu haben. Nils wußte so viel. Er hatte so gründlich über alle Dinge nachgedacht und selbstsicher seine eigene Linie gefunden. Und das, obwohl er erst ein Schüler war. 4 Dafür war Nils noch ziemlich unerfahren, was die Liebe zwischen Männern und Frauen anbelangt. Hier hatte Helga einige Pluspunkte. Hier konnte sie Nils viel geben. Es war eine hochdynamische Verbindung. Spannung lag in der Luft. Helga und Nils kamen einander näher. Sie fanden sich gegenseitig sympathisch. Als es Nacht wurde, legten sie ihre Matratzen aneinander. Nils kam zu Helga unter die Decke. Dann knutschten sie etwas. Dann hatte Helga Lust auf Sex. Nils wußte zwar nicht genau wie es geht, aber mit etwas Hilfe gelang es dann ganz gut. Der Tanz begann. Nacht für Nacht schliefen sie auf der Matratze von Helga. Eine große Liebesenergie entstand zwischen beiden. Nils fand Helga wundervoll. Sie war für ihn das Schönste und unvorstellbar Größte auf der Welt. Die Tage gingen dahin in einem Rausch aus Liebe und Musik. Nils öffnete sein Herzchakra so weit, dass er in eine Dimension der umfassenden Liebe und des Glücks eintrat. Alles war lichtdurchflutet. Nils hatte seine erste Erleuchtungserfahrung. Sie hielt tagelang an. Nils bemerkte seinen besonderen Bewußtseinszustand das erste Mal, als er mit Helga in Berlin in der U-Bahn fuhr. Bis dahin hatte er sich vollständig auf Helga konzentriert und nichts anderes wahrgenommen. Jetzt in der U-Bahn kam er etwas zur Ruhe. Nils betrachtete die Welt um sich herum. Sie sah so anders aus als früher. Sie war voller Licht. Die ganze U-Bahn war voller Licht. Wer erleuchtet ist, sieht die Energiestrahlung Gottes (der höheren Dimension des Kosmos) in der Welt. Er nimmt sie als helles Licht wahr. Gleichzeitig entsteht ein Gefühl der Einheit mit der ganzen Welt. Man ist im Einklang mit sich und der Welt. Man ist auf einer tiefen Ebene glücklich. Die Welt ist voller Licht, Liebe und Harmonie. Alle Dinge in der Welt strahlen von sich aus. Sie werden sehr intensiv wahrgenommen. Sie werden plötzlich sehr plastisch, fast räumlich erfahrbar. Es gibt im Yoga viele Erzählungen von Erleuchteten, die sich am Anfang ihrer Erleuchtung gar nicht satt sehen konnten an der neuen Schönheit der Welt. So ging es Nils auch. Er betrachtete voller Erstaunen das Licht in der Welt, wenn er nicht gerade mit Helga beschäftigt war. Nils und Helga waren nicht das einzige Liebespaar auf dem Jugendtreffen. Es gab viele Liebespaare. Es gab viele Menschen, die hier ihre ersten Liebeserfahrungen machten und von der Intensität ihrer Gefühle berauscht waren. Die Parole "Make Love Not War" wurde sehr ernst genommen. Es wurde viel über Liebe geredet und auch viel Liebe praktiziert. Nachdem Nils und Helga drei Wochen voller Liebe und Glück in Berlin verbracht hatten, fuhren sie gemeinsam zurück nach Hamburg. Helga hatte eine kleine Studentenwohnung in der Innenstadt. Das wurde jetzt die zweite Heimat von Nils. Sie trafen sich oft und redeten über die vielen Probleme von Helga. Sie hörten schöne Musik und liebten sich in Helgas großem Bett. Meistens fuhr Nils gleich nach der Schule zu Helga. Dann fielen sich beide glücklich in die Arme. Und redeten weiter. Und liebten sich weiter. Die Eltern von Helga hatten ein Haus auf der Nordsee-Insel Sylt. Dort verbrachten Nils und Helga eine wunderschöne Woche. Helga stellte Nils ihren Eltern vor. Sie machten lange Spaziergänge am Strand, liebten sich in den Dünen und feierten Abends in Helgas kleinem Zimmer. Eigentlich bestand das ganze Leben nur aus Sex und Spazierengehen. Nils hätte so ewig weiterleben können. Aber er mußte wieder zur Schule und Helga zur Universität. 5 Es gab Tage, an denen sie sich nicht treffen konnten. Dann schrieben sie sich lange sehnsuchtsvolle Briefe: "Mein lieber lieber Nils. Küßchen. Ganz schön blöd, dass du nicht hier bist. Ich möchte, dass du immerzu bei mir bist. Ich hab' dich so lieb ... Helga." "Mein lieber lieber Nils. Ich bin noch ganz aufgeregt von deiner Karte mit den schönen Blumen. Oh, im Radio spielen sie gerade 'Revolution' von den Beatles. Gestern war ich im Kino. Ich habe ständig geheult. Wahrscheinlich wollte ich nur, dass du da bist." "Übrigens bin ich seit gestern sehr erleichtert. Ich wollte schon zum Arzt gehen, weil ich mir eingeredet habe, dass mir morgens schlecht wird. Prompt wurde mir auch schlecht. Sämtliche Kleidungsstücke begannen in der Taille zu schnüren. Aber jetzt hat es sich doch als Fehlalarm herausgestellt." "Mein lieber Nils. Ach weißt du, ich möchte jetzt, dass du bei mir bist. Es muss sehr anstrengend für dich sein, wenn ich in meinen Gefühlen so sehr schwanke. Oft sind die gegen dich gerichteten Aggressionen nur ein Ventil für meine Unzufriedenheit mit mir selbst. Hinterher tut mir das immer so leid. Ich habe dich lieb. Deine Helga." Helga war eine sehr emotionale Frau. "Mein lieber Nils. Ich fühle mich so allein. Wo ich hinsehe, sehe ich meine Unfähigkeit systematisch und konsequent zu arbeiten. Ich möchte dich anrufen. Im gleichen Augenblick weiß ich aber, dass das nichts nützt. Es nützt nichts, wenn ich immer Hilfe bei anderen suche. Ich muss zu mir selbst finden. Ich muss in mir selbst Kraft entwickeln. Ich möchte nicht in einen Teufelskreis geraten, in dem ich immer abhängiger von dir werden." Helga suchte ihren eigenen Weg. Das Ideal der Studentenbewegung war die eigenständige, selbstbewußte und emanzipierte Frau. Helga experimentierte mit der freien Liebe. In einer Kneipe lernte sie einen anderen Mann kennen und schlief mit ihm. Nils konnte diesen Weg nicht mitgehen. Er verletzte ihn zu sehr. Nach einigen dramatischen Diskussionen und Wiederversöhnungen trennten sie sich. Für Helga begann eine lange Zeit der chaotischen Beziehungen. Nach etwa fünfzehn Jahren trafen sie sich zufällig in einem Kaufhaus wieder. Helga schob einen Kinderwagen vor sich her. Sie meinte: "Irgendwann mußte es ja einmal mit der Verhütung schief gehen." Nils brauchte lange Zeit, um über den Verlust von Helga hinwegzukommen. Er fiel in ein tiefes schwarzes Loch. Ihre Liebesbeziehung hatte ein Dreivierteljahr gedauert. Danach war Nils ein halbes Jahr sehr traurig. Insgesamt brauchte er zwölf Jahre, um den Verlust von Helga zu überwinden. Dann hatte er einen Traum, in dem er Helga losließ. Und danach war er irgendwie von seiner Sehnsucht nach seiner ersten großen Liebe befreit.