V. Vorrangfragen

V. Vorrangfragen

V.1 zur Entstehungsgeschichte des “Vertrags von Lissabon”

Der EU-Verfassungsentwurf wollte die Verträge, auf denen die EU bisher ruht, ablösen und die EU-Grundrechtecharta in sich aufnehmen, dabei deren Art. 52 um die Abs. 4 bis 7 und die Erläuterungen des EU-Konvents ergänzen. Nach den Ablehnungen des EU-Verfassungsentwurfs bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden wurde stattdessen beschlossen, durch den “Vertrag von Lissabon” die meisten Neuerungen des Verfassungsentwurfs auf Änderungen des EG- Vertragsund des EU- Vertrags zu verteilen und die EU- Grundrechtecharta sowie die Erläuterungen des Konvents dazu durch einen Verweis in Art. 6 EU- Vertrag einzubinden. Der EG- Vertrag wird umbenannt in “Vertrag über die Arbeitsweise der Union” (AEUV)

Der ehemalige Konventspräsident Valéry Giscard d' Estaing erklärte, es seien kosmetische Abweichungen von der EU-Verfassung, um diese leichter verdaulich zu machen (“Der Vertrag von Lissabon”, wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, 19.12.2007)

Zwei größere inhaltliche Unterschiede wurden jedoch vorgenommen im “Vertrag von Lissabon” gegenüber dem EU-Verfassungsentwurf. In Art. 21 EUV wurde nun festgelegt, welche Ziele und Prinzipien bei Entscheidungen über die GASP miteinander abzuwägen sind. Außerdem wurde in das neue Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse der Staatsformwechsel zum “Gewährleistungsstaat” eingebaut, wonach nun erstmals weite Teile der hoheitlichen Aufgaben funktionell privatisiert werden sollen.

V.2 Menschenrechtliche Verpflichtungen auf EU-Ebene durch das Grundgesetz

Nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist Deutschland zur Mitwirkung an der Europäischen Union verpflichtet, welche einen dem GG im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Das ist im ersten Lissabon- Urteil materiell- rechtlich gesichert worden durch die Bestätigung des Vorrangs aller Grundrechte des GG vor dem EU- Recht. Der Vorrang der Grundrechte des GG vor dem EU- Recht folgt aus der Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 GG) und der Unveräußerlichkeit der Grundrechte und gehört zu der auch durch Art. 4 EUV garantierten nationalen Identität und zu den grundlegenden verfassungsmäßigen Strukturen (siehe Leitsätze 3+4 des ersten Lissabon-Urteils).

Um dem ersten Lissabon-Urteil gerecht zu werden, bedarf es aber auch einer hinreichenden formellen Absicherung dieses Vorrangs über die Begleitgesetze. Dies gilt umso mehr, als die EU-Grundrechtecharta ein äußerst schwaches Grundrechtsinstrument ist, welches den Schutz durch die Grundrechte des GG in keiner Weise ersetzen kann (siehe Abschnitte dieser Verfassungsbeschwerden zur EU-Grundrechtecharta).

Durch das Zustimmungsgesetz zum “Vertrag von Lissabon” würde sich “eine Absenkung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards auf ein Maß” ergeben, “das von Grundgesetzes wegen nicht mehr als ein generell angemessener Grundrechtsschutz angesprochen werden könnte.” (Solange II-Urteil, BVerfGE 73, 339). Der “Vertrag vom Lissabon” würde es dem EUGH nicht mehr in ausreichendem Maße ermöglichen, “nach der bestmöglichen Entfaltung eines Grundrechtsprinzips im Gemeinschaftsrecht” zu trachten. Zur Auswirkung auf die einzelnen Grundrechte siehe auch Abschnitt IX dieser Verfassungsbeschwerden. Daher ist auch die formell-rechtliche Absicherung des Vorrangs der Grundrechte des GG über das IntVG unverzichtbar.

Im ersten Lissabon-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht in Leitsatz 4 bekräftigt, dass es auch gegenüber dem EU-Recht weiterhin über die durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität wacht, und dass dieser Schutz und zugleich der höchste Rang für die Strukturprinzipien Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Republik und Bundesstaat sowie für die Menschenwürde und für die übrigen Grundrechte “in ihrer prinzipiellen Qualität” auch durch das EU-Recht nicht in Frage gestellt werden dürfen (Rn. 217). Die Menschenwürde ist absoluter geschützt als die übrigen Grundrechte, weil sie unantastbar ist, die übrigen Grundrechte sind unveräußerlich (Art. 1 Abs. 2 GG), aber vom Umfang gegenüber Einschränkungen nur in ihrem Wesensgehalt garantiert.

Damit ist der Vorrang der Grundrechte und Strukturprinzipien des GG gegenüber dem EU-Recht materiell-rechtlich geklärt. Zur Durchsetzung dieses Vorrangs braucht es jedoch die Verpflichtung im IntVG des Bundestags und, soweit Länderkompetenzen berührt sind, auch des Bundesrats auf die Verfassungsidentitätsprüfung. Im ersten Lissabon-Urteil vom 30.06.2009 wurde das Zustimmungsgesetz zum “Vertrag von Lissabon” nur unter der Prämisse des Vorrangs der Verfassungsidentität vor dem EU-Recht, der Verfassungsidentitätsprüfung, der ultra-vires-Prüfung sowie weiterer Auflagen zur Änderung des Ausweitungsgesetzes (IntVG) nicht dem Grunde nach als verfassungswidrig abgelehnt. Die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde allein reicht für eine wirksame Verfassungsidentitätsprüfung nicht aus. Die im Vergleich zur Tragweite oberflächliche Behandlung des Zustimmungsgesetzes zum “Vertrag von Lissabon” im Bundestag ist der deutlichste Beweis dafür, dass das Recht zur Verfassungsidentitätsprüfung nicht ausreicht. Nur durch die Verfassungsidentitätsprüfungspflicht im IntVG wird für eine hinreichend große Prüfungsdichte gesorgt.

Diese Prüfungsdichte ist unentbehrlich angesichts von Inhalten des “Vertrags von Lissabon” wie Aufrührertötung (Art. 52 Abs. 3+7 EU-Grundrechtecharta, Art. 2 Abs. 2 EMRK), Solidaritätsklausel (Art. 222 AEUV), Todesstrafe (Art. 52 Abs. 3+7 EU-Grundrechtecharta, Art. 2 Abs. 2 EMRK), offensiver militärischer Missionen im Namen von Werten, gescheiterten Staaten und Krisen und des Staatsformwechsels zum “Gewährleistungsstaat” incl. erosionsartiger Aufweichung des Gewaltmonopols.

Die Beschwerdeführerin wäre bei Ratifizierung des “Vertrags von Lissabon” ohne vorherige Absicherung der Verfassungsidentitätskontrolle als Pflicht der Abgeordneten selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten, grundrechtsgleichen Rechten und universellen Menschenrechten verletzt. Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht außer dem Vorrang der Grundrechte und Strukturprinzipien auch den der grundrechtsgleichen Rechte und der universellen Menschenrechte vor dem EU-Recht bestätigen wird, ist nur dann der vom Grundgesetz normierte Schutz gesichert, wenn die Abgeordneten zur Verfassungsidentitätskontrolle verpflichtet sind. Darüber hinaus würde der Sinn von Art. 38 GG verkannt, wenn nicht sichergestellt würde, dass die Bundestagsabgeordneten wenigstens die wichtigsten ihrer Aufgaben zum Schutz der gem. Art. 79 Abs. 3 GG höchstrangigen Rechte des Volkes, für welche sie über das grundrechtsgleiche Wahlrecht vom Volk delegiert sind, in diskursiver Entfaltung (Leitsatz 3 des ersten Lissabon-Urteils) auch wahrnehmen.

V.3 Die grundrechtsgleichen Rechte

V.3.1 Rang der grundrechtsgleichen Rechte und deren Absicherung im Verhältnis zum EU-Recht

Der Rang der grundrechtsgleichen Rechte im Vergleich zum EU-Recht ist im Urteil vom 30.06. 2009 offen geblieben. Die grundrechtsgleichen Rechte sind die Rechte, welche in Art. 93 Nr. 4a GG als Rechtsgrundlagen für Verfassungsbeschwerden genannt sind, aber nicht im Grundrechtsteil (Art. 1 bis 19 GG) des Grundgesetzes stehen.

Es ist zu klären, ob die grundrechtsgleichen Rechte, ebenfalls unter dem Schutz der Ewigkeitsgarantie stehen. Dafür spricht, dass sämtliche grundrechtsgleichen Rechte (bis auf Art. 20 Abs. 4 GG) Grundlagen für Verfassungsbeschwerden sein können. Ebenso dafür spricht, dass das Bundesverfassungsgericht Art. 38 GG als Verbindung für die Einklagbarkeit nicht allein der Demokratie, sondern z. B. auch des Sozialstaatsgebots (Rn. 167 des ersten Lissabon-Urteils) ansieht, obwohl die Einklagbarkeit des Sozialstaatsgebots ja auch bereits über die Verbindung mit der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG möglich ist. Bei den Vereinten Nationen ist eine dem Art. 38 GG inhaltlich in ihrem Umfang ähnelnde Vorschrift in Art. 21 AEMR und Art. 25 UNO- Zivilpakt normiert, dort gleichberechtigt mit Menschenrechten, die es zum Teil in wiederum in vergleichbarer Form auch im GG gibt. Zum “universellen Grund” laut Rn. 218 des ersten Lissabon- Urteils für die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG gehören nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin auch die universellen Menschenrechte (siehe auch Abschnitt IV.1.2 dieser Verfassungsbeschwerden). Wenn selbst die Ewigkeitsgarantie von der AEMR inspiriert ist, dann spricht vieles dafür, dass der Grundgesetzgeber auch die Gleichrangigkeit zwischen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten des GG und damit den Vorrang der grundrechtsgleichen Rechte vor dem EU-Recht gewollt hat.

Auch am grundrechtsgleichen Recht auf den Funktionsvorbehalt (Art. 33 Abs. 4 GG) zeigt sich der Glechrang der grundrechtsgleichen Rechte mit den Grundrechten. Die Tragweite und die Schutzfunktion des Funktionsvorbehalts gehen über die manchen Grundrechts hinaus. Der Funktionsvorbehalt bestimmt, dass hoheitliche Macht in Deutschland grundsätzlich nur von Menschen ausgeübt werden darf, die gegenüber dem Staat in einem öffentlich-rechtlichen Dienst und Treueverhältnis stehen; von anderen Personen darf Hoheitliches in Deutschland nur als eng begrenzte Ausnahme wahrgenommen werden. Damit schützt der Funktionsvorbehalt die Bürger und Einwohner Deutschlands davor, einer von der Kontrolle durch die über das grundrechtsgleiche Wahlrecht (Art. 38 GG) bestimmten Politiker entzogenen, nicht abwählbaren Hoheitsgewalt unterworfen zu werden. Der Funktionsvorbehalt schützt vor der Etablierung paralleler undemokratischer Herrschaftsstrukturen, vor Staaten im Staate, auch vor Vermengungen der Demokratie mit demokratiefremden Staatssystemen wie z. B. Aristokratie oder Konzerndiktatur. Dass eine Aufweichung des Funktionsvorbehalts, insbesondere im Sicherheitsbereich, auch zu Vermengungen mit, staatsrechtlich betrachtet, diktatorischen Herrschaftselementen führen kann, zeigt der Abschnitt dieser Verfassungsbeschwerden zu den kolumbianischen Erfahrungen mit dem “Gewährleistungsstaat”. Der Funktionsvorbehalt schützt die Rechtsstaatlichkeit, darunter insbesondere durch die Sicherstellung der demokratischen Legitimationskette die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung. Zugleich sichert der Funktionsvorbehalt, dass die gem. Art. 38 GG demokratisch gewählten Politiker die Aufsicht darüber haben, dass Exekutive und Judikative die Grundrechte der Einwohner Deutschlands achten, schützen und gewährleisten. Kein Grundrecht und kein anderes grundrechtsgleiches Recht schützt den Bestand unserer Staatsform so sehr wie der Funktionsvorbehalt. Auch Art. 103 GG zeigt die Gleichrangigkeit von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten.

Art. 103 GG kann Grundlage einer Verfassungsbeschwerde sein gem. Art. 93 Nr. 4a GG. Gleichzeitig steht er nicht im Grundrechtsteil von Art. 1 GG bis Art. 19 GG, kann also kein Grundrecht, sondern ausschließlich ein grundrechtsgleiches Recht sein. Die Überschrift des Art. 103 GG lautet jedoch “Grundrechte des Angeklagten”. Dies zeigt, dass den grundrechtsgleichen Rechten vom Grundgesetzgeber in keiner Weise ein schwächerer Status als den Grundrechten zugedacht gewesen ist, sondern dass sie lediglich von der Nummerierung her thematisch und nicht dem Grundrechtsteil zugeordnet worden sind.

Artikel 20 Abs. 4 GG hat, ähnlich wie Art. 38 GG und Art. 33 Abs. 4 GG, ein weit größeres Gewicht zum Schutz der Verfassungsidentität als Ganzes, als manches Grundrecht. Es ist ein außergerichtliches subsidiäres grundrechtsgleiches Recht auf zivilen Ungehorsam, wenn die zuständigen staatlichen Institutionen beim Schutz der Ordnung des GG versagt haben, und von ihnen offenkundig auf dem gesetzlich vorgesehenen Weg keine Hilfe zu erwarten ist. Die Positionierung eines solch weitreichenden Rechtes unter den grundrechtsgleichen Rechten zeigt deutlich, dass die grundrechtsgleichen Rechte gleichrangig mit den Grundrechten sind und damit über dem EU-Recht stehen.

Die Beschwerdeführerin ist daher der Rechtsauffassung, dass es dem Willen des Grundgesetzgebers entsprochen haben muss, dass die grundrechtsgleichen Rechte den Grundrechten gegenüber gleichrangig sind, und dass die Art. 20 Abs. 4 GG, 33 GG, 38 GG, 101 GG, 103 GG und 104 GG nur aus Gründen der thematischen Übersichtlichkeit von der Nummerierung her jeweils dem Abschnitt zugeordnet worden sind, zu welchem sie inhaltlich gehören.

Die folgende Aussage des Solange I-Urteil (BVerfGE 37, 271), welche auch durch das erste Lissabon- Urteil bestätigt und weiter präzisiert wurde, ist nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin auch zugunsten der grundrechtsgleichen Rechte anzuwenden:

“Deshalb erwächst aus dem besonderen Verhältnis, das zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern durch die Gründung der Gemeinschaft entstanden ist, für die zuständigen Organe, insbesondere für die beiden zur Rechtskontrolle berufenen Gerichte

- den Europäischen Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht - zunächst die Pflicht, sich um die Konkordanz beider Rechtsordnungen in ihrer Rechtsprechung zu bemühen. Nur soweit das nicht gelingt, kann überhaupt der Konflikt entstehen, der zwingt, die Konsequenzen aus dem dargelegten grundsätzlichen Verhältnis zwischen den beiden Rechtskreisen zu ziehen. Für diesen Fall genügt es nicht, einfach vom "Vorrang" des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht zu sprechen, um das Ergebnis zu rechtfertigen, daß sich Gemeinschaftsrecht stets gegen das nationale Verfassungsrecht durchsetzen müsse, weil andernfalls die Gemeinschaft in Frage gestellt würde. So wenig das Völkerrecht durch Art. 25 GG in Frage gestellt wird, wenn er bestimmt, daß die allgemeinen Vorschriften des Völkerrechts nur dem einfachen Bundesrecht vorgehen, und so wenig eine andere (fremde) Rechtsordnung in Frage gestellt wird, wenn sie durch den ordre public der Bundesrepublik Deutschland verdrängt wird, so wenig wird das Gemeinschaftsrecht in Frage gestellt, wenn ausnahmsweise das Gemeinschaftsrecht sich gegenüber zwingendem Verfassungsrecht nicht durchsetzen läßt. ”

Auch die folgende Aussage des Solange-II-Urteils trifft auf die grundrechtsgleichen Rechte genauso zu wie auf die Grundrechte:

“...Ermächtigung auf Grund des Art. 24 Abs. 1 GG ist indessen nicht ohne verfassungsrechtliche Grenzen. Die Vorschrift ermächtigt nicht dazu, im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben” (Solange II-Urteil, BVerfGE 73, 339).

Dem Rang und der Schutzfunktion der grundrechtsgleichen Rechte wird nur eine verpflichtende Verfassungsidentitätsprüfung und ultra-vires-Prüfung in den Begleitgesetzen gerecht, welche ausdrücklich auch die grundrechtsgleichen Rechte umfasst, und welche vom Bundestag, und bei Berührung von Länderzuständigkeiten zusätzlich auch vom Bundesrat vorzunehmen ist. Und das Parlament muss gesetzlich verpflichtet sein, sämtliche Vorhaben insoweit abzulehnen, wie es mehrheitlich zum Ergebnis kommt, dass die Verfassungsidentität verletzt wird, bzw. die Kompetenzen der EU überschritten werden

Die Begleitgesetze enthalten aber hierzu nur eine Verpfichtung der Bundesregierung, dem Parlament ihre Einschätzung bzgl. der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit mitzuteilen, nichts zur Einschätzung bzgl. der Verfassungsidentität und der ultra-vires-Kontrolle. Das ist mit einer Verpflichtung des Bundestags und des Bundesrats, die Verfassungsidentität und Kompetenzüberschreitungen , ausdrücklich auch zum Schutz der grundrechtsgleichen Rechte, zu prüfen, nicht vergleichbar.

Rechtssystematisch am übersichtlichsten lässt sich die gebotene Ergänzung um die oben beschriebene verfassungsrechtlich gebotene Ergänzung um die Pflicht zur Identitätsprüfung und zur ultra- vires- Prüfung durch eine entsprechende Ergänzung von § 1 IntVG erreichen.

Die Beschwerdeführerin würde bei Rafifizierung des “Vertrags von Lissabon” ohne vorherige Änderung der Begleitgesetze zum Schutz der grundrechtsgleichen Rechte insoweit selbst, unmittelbar (ohne weitere Rechtsakte) und gegenwärtig (sofort) betroffen, wie der Schutz ihrer grundrechtsgleichen Rechte durch mangelnde Pflicht zur Überprüfung von deren Einhaltung zur Disposition gestellt würde.

Das ist mit der “Unveräußerlichkeit” (Art. 1 Abs. 2 GG) ihrer grundrechtsgleichen Rechte unvereinbar, da eine mangelnde Überprüfung oder gar eine Nicht-Überprüfung zum Schutz der grundrechtsgleichen Rechte de-facto eine ähnliche Wirkung hätte wie eine Herabstufung oder ein vollständiger Entzug der grundrechtsgleichen Rechte.

Es wäre eine Umkehrung des Sinns der durch die Wahl bewirkten Herrschaft des Volkes und damit von Art. 38 GG, wenn die Abgeordneten durch Wegschauen eine nur dem Volk zustehende Verfügung (Rn. 218 des ersten Lissabon-Urteils) über die zur Verfassungsidentität gehörenden grundrechtsgleichen Rechte bewirken könnten.

V.3.2: Zur formalen Bedeutung von Art. 38 GG

Die Verfassungsbeschwerden, über welche im Urteil vom 30.06.2009 entschieden worden ist, sind zulässig gewesen, soweit sie sich auf Art. 38 GG gestützt haben (Rn. 167, S. 56+57).

Auch die hier vorliegenden Verfassungsbeschwerden stützten sich in sämtlichen Rügen auch auf Art. 38 GG. Dies ist ersichtlich aus Abschnitt I.1 dieser Verfassungsbeschwerden, worin geltend gemacht wird, dass die angefochtenen Begleitgesetze zum „Vertrag von Lissabon“ gegen Art. 20 Abs. 1, 2 und 3 GG, Art. 2 GG, Art. 38 GG und Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen, und dann erst im zweiten Teil des Satzes aufgezählt wird, in welchen Grundrechten, Menschenrechten und grundrechtsgleichen Rechten die Beschwerdeführerin im besonderen verletzt würde. Durch ihre exponierte Positionierung im ersten Antrag der Verfassungsbeschwerden umfassen die Art. 20 Abs. 1, 2 und 3 GG, Art. 2 GG, Art. 38 GG und 79 Abs. 3 GG die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführerin gegen das IntVG, das EUZBBG und das EUZLBG wie eine Klammer, ohne dass sie zu jedem einzelnen Abschnitt nochmals wiederholt werden müssten. Aus Gründen äußerster Vorsicht wird auf Art. 38 GG trotzdem noch einmal in jedem einzelnen Abschnitt der Begründung bezug genommen.

Ungeachtet dessen kann die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde gegenüber Zustimmungsgesetzen zu internationalen Verträgen bzw. gegenüber deren Begleitgesetzgebung aber auch nicht auf Art. 38 GG verengt werden, weil dies sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn und Zweck von Art. 93 Nr. 4a GG widerspräche und mit der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar wäre. Die Grundrechte, grundrechtsgleichen Rechte und universellen Menschenrechte dürfen in ihrer Abwehrfunktion gegenüber Zustimmungsgesetzen zu internationalen Verträgen nicht allein auf die Verbindung mit Art. 38 GG verengt werden. Es käme einer, formell gesehen, Reduzierung auf das Recht, bzgl. dieser Rechte von den Bundestagsabgeordneten vertreten zu werden, gleich.

Selbstbewusste, zum Volk (Art. 20 Abs. 1 GG) gehörende bzw. im Geltungsbereich des GG lebende, Inhaber unveräußerlicher Grund- und Menschenrechte sowie grundrechtsgleicher Rechte würden bzgl. deren Inanspruchnahme gegenüber Zustimmungsgesetzen zu Mündeln der Bundestagsabgeordneten degradiert. Es ist aber gerade nicht der Sinn von Art. 38 GG, die Bürger, im Verhältnis zu internationalen Verträgen, zu Mündeln der Abgeordneten zu machen. Aus diesem Grund darf nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin die Befugnis der Verfassungsbeschwerde gegenüber dem EU-Recht nicht auf die Verbindung mit Art. 38 GG verengt werden. Art. 93 Nr. 4a GG will und normiert offensichtlich sämtliche Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte (mit Ausnahme von Art. 20 Abs. 4 GG) des Grundgesetzes als Rechtsgrundlagen für die Verfassungsbeschwerde und darüber hinaus, in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1+2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG auch die universellen Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Sicherlich gibt es ein Abstandsgebot zwischen Verfassungsbeschwerde und Normenkontrollklage. Das wird aber bereits dadurch gewahrt, dass die Normenkontrollklage sich auf sämtliche Vorschriften des Grundgesetzes beziehen kann, und dass bei der Verfassungsbeschwerde immer die persönliche Betroffenheit gegeben sein muss.

V.3.3: Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4 GG)

Gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes zu beseitigen, hat jeder Deutsche das Recht auf Widerstand (Art. 20 Abs. 4 GG), wenn keine andere Abhilfe möglich ist. Das Widerstandsrecht zum Schutze der Verfassung ist kein deutscher Alleingang; es findet sich konkludent auch in der Präambel der AEMR sowie in den Verfassungen anderer Staaten. In Venezuela sind die Bürger, wenn die venezolanische Verfassung auf eine andere als in der Verfassung selbst vorgesehene Weise außer Kraft gesetzt wird, sogar verpflichtet, dabei mitzuwirken, dass ihre tatsächliche Geltung wiederhergestellt wird (Art. 333 venezolanische Verfassung).

Die AEMR deutet in den Erwägungsgründen ihrer Präambel den Sinn des Widerstandsrechts an:

“...da es wesentlich ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letztem Mittel gezwungen wird.”

In diesem Sinne gehört der o. g. Erwägungsgrund der AEMR auch zu den historischen Vorverständnissen im Sinne von Leitsatz 3 des ersten Lissabon-Urteils.

Nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin gehören zur verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes zumindest die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne von §4 Abs.2 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) sowie die Grundrechte des Grundgesetzes und die Strukturprinzipien in den durch Artikel 79 Abs. 3 GG vor jeder Veränderung geschützten Artikeln 1 und 20 GG (das Demokratieprinzip, das Sozialstaatsprinzip, die Rechtsstaatlichkeit einschließlich der Gewaltenverschränkung und der Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland), außerdem über Art. 1 Abs. 2 GG die Unteilbarkeit und die Unveräußerlichkeit der für Deutschland geltenden Grund- und Menschenrechte incl. der zum zwingenden Völkerrecht (“ius cogens”) gehörenden Menschenrechte der Vereinten Nationen, soweit Deutschland letztere ratifiziert hat. Dafür, dass sich die Grundordnung im Sinne von Art. 20 Abs. 4 GG auf die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität bezieht, spricht auch Rn. 218 S. 1 des ersten Lissabon-Urteils, wonach die „Verletzung der in Art. 79 Abs. 3 GG festgelegten Verfassungsidentität” “aus der Sicht des Demokratieprinzips zugleich ein Übergriff in die verfassungsgebende Gewalt des Volkes“ ist.

Ein Einbruch in das Grundgefüge des Grundgesetzes, also in Strukturprinzipien, freiheitlich-demokratische Grundordnung oder den Wesensgehalt der Grund- und Menschenrechte, ist durch das Grundgesetz untersagt (Solange I-Urteil, BVerfG 37, 271; Solange II-Urteil, BVerfGE 73, 339; Urteil zum EU-Haftbefehl, Az. 2 BvR 2236/04).

In Rn. 186 des ersten Lissabon-Urteils hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass allein auf das grundrechtsgleiche Recht auf Widerstand nach Art. 20 Abs. 4 GG, obwohl dieser Artikel in Art. 93 Nr. 4a GG zitiert ist, keine Verfassungsbeschwerde gestützt werden kann. Das Recht auf Widerstand ist ein außergerichtliches, „subsidiäres Ausnahmerecht“, dass nur als ultima ratio in Anspruch genommen werden darf, „wenn alle von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfe so wenig Aussicht auf wirksame Abhilfe bieten, dass die Ausübung des Widerstandes das letzte Mittel zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechts ist.“

Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht im ersten Lissabon-Urteil zum Recht auf Widerstand auf das Urteil unter BVerfG 5,85 verwiesen. Nach jenem Urteil kann das Widerstandsrecht außerdem allein zur Bewahrung oder Wiederherstellung der Ordnung des GG eingesetzt werden und auch nur gegen offenkundiges Unrecht.

Das korrespondiert auch mit der Präambel der AEMR, wonach, solange die Menschenrechtsordnung und der Rechtsstaat funktionieren, der Widerstand illegitim ist, und wonach der Widerstand nur das letzte Mittel ist. Insbesondere der Staatsformwechsel zum „Gewährleistungsstaat“ ist ein offenkundiges Unrecht, bereits angesichts von dessen verheerender Wirkung auf Demokratie (Art. 20 Abs. 1 GG), Rechtsstaatlichkeit (Art. 1 Abs. 2+3 GG, Art. 20 Abs. 2+3 GG) und Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG). Für die Auslösung der Widerstandslage müsste aber noch die Aussichtslosigkeit der von der Rechtsordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe hinzukommen. Letzteres ist noch nicht der Fall, da gerade die im ersten Lissabon-Urteil aufgezeigten Grundsätze die Verfassungswidrigkeit des „Gewährleistungsstaats“ beweisen, und weil der Lissabon-Vertrag von Deutschland noch nicht ratifiziert ist.

Die Grenzen bei der Inanspruchnahme des Widerstandsrechts zeigt das Grundgesetz selbst auf in Form der durch Art. 20 Abs. 4 GG geschützten Rechtsgüter des Grundgesetzes, also der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, der Strukturprinzipien und vor allem der Grundrechte anderer.

Inhaltlich wäre das Widerstandsrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin klar begrenzt auf den zur Befolgung der Grundrechte und Strukturprinzipien des Grundgesetzes sowie der zum “ius cogens” gehörenden Uno-Charta und der ebenfalls zum “ius cogens” gehörenden von Deutschland ratifizierten UNO-Menschenrechte unbedingt erforderlichen zivilen Ungehorsam gegenüber dem EU-Recht begrenzt. Auch auf Art. 20 Abs. 4 GG könnte also kein willkürlicher oder gar krawallartiger Ungehorsam gegenüber dem EU-Recht gegründet werden.

Selbst der Widerstand gegenüber dem Staatsformwechsel zum “Gewährleistungsstaat” müsste sich innerhalb der o. g. Grenzen bewegen.

Außerdem ist das Widerstandsrecht begrenzt auf die Zeit bis zur Beendigung der Widerstandslage durch Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung. Im vorliegenden Fall wäre die Widerstandslage nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin beendet, sobald der Schutz der Ordnung des Grundgesetzes (incl. des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 33 Abs. 4 GG) vor Aushebelung oder Herabstufung sowie vor dem “Gewährleistungsstaat” sichergestellt wäre.

V.4 Der Staatsauftrag der europäische Integration und dessen Absicherung im Verhältnis zum EU-Recht

Nach Rn. 219, 224 und 225 des ersten Lissabon-Urteil enthält das GG einen Staatsauftrag “europäische Einigung” (Präambel und Art. 23 Abs. 1 GG), welcher gleichrangig ist mit dem Staatsauftrag “Frieden” (Präambel und Art. 1 Abs. 2 GG). Es ist nach Rn. 225 ausdrücklich nicht in das politische Belieben der deutschen Verfassungsorgane gestellt, ob sie an der EU teilnehmen wollen oder nicht. Nach Rn. 224 sind beide Staatsaufträge auf den Frieden ausgerichtet, die europäische Einigung dabei in besonderem Maße auf den Frieden zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Das enthält zugleich auch eine Verpflichtung, die europäische Integration auf eine mit dem Frieden vereinbare Weise zu verwirklichen; würde sich die EU zu einem unfriedlichen Bündnis entwickeln, wäre Deutschland als ultima ratio verpflichtet, die EU zu verlassen und die europäische Integration stattdessen im Rahmen einer anderen Organisation anzustreben, denn die EU ist ja kein Selbstzweck, sondern vor allem auch als europäisches Projekt für Frieden und Völkerverständigung entstanden.

Die europäische Integration als Staatsauftrag des GG ist höherrangig als jede einzelne Vorschrift selbst des EU-Primärrechts. Denn sonst könnte der Gleichrang zwischen europäischer Integration und Frieden nicht gewahrt werden für den Fall, dass einzelne Vorschriften des EU-Primärrechts mit dem Staatsauftrag Frieden kollidieren würden.

Darüber hinaus gibt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vor, wie die Europäische Union, in welche sich Deutschland grundsätzlich zu integrieren hat, auszusehen hat, im Sinne einer Verpflichtung Deutschlands, einerseits auf eine entsprechende Entwicklung der EU hinzuwirken und andererseits der Umsetzung des EU-Rechts auf nationaler Ebene die Grenzen zu setzen, welche nach dem Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG erforderlich sind. Nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG muss es sich um eine EU handeln, welche demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen sowie dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet ist und einen dem GG im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Da, wie im Abschnitt zu den Mängeln auf Grund von Art. 52 EUGrundrechtecharta in einem Abschnitt dieser Verfassungsbeschwerden dargestellt, der Grundrechtsschutz innerhalb des EU-Rechts mit dem des GG gerade nicht vergleichbar ist, können die in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vorgegebenen Modalitäten der europäischen Integration hier nur hinreichend gesichert werden durch eine im IntVG zu verankernde verpflichtende Verfassungsidentitätsprüfung durch den Bundestag.

Zur Verwirklichung des Staatsauftrags europäische Integration kann es erforderlich werden, der Anwendung des EU-Rechts insoweit Grenzen zu setzen, wie EU-Recht selbst die europäische Integration in besonderm Maße gefährden kann. Denn die europäische Integration will nicht nur die enge Zusammenarbeit der Premierminister im Europäischen Rat bzw. der Regierungen im Ministerrat, sondern ebenso die Vereinigung der Völker der Mitgliedsstaaten in einem engen, aber souveränitätswahrenden, Staatenverbund.

Das betrifft hier z. B. die Solidaritätsklausel. Deren Anwendung auf deutschem Boden ohne vorherige konstitutive Zustimmung des Bundestags, und zwar auch, soweit es die Genehmigung des Einsatzes von Truppen aus anderen EU-Mitgliedsstaaten betrifft, sowie deren Anwendung über die im Grundgesetz aufgezählten und gem. Art. 87a Abs. 2 GG abschließenden Möglichkeiten hinaus wären dazu angetan, in der deutschen Bevölkerung ein solches Mißtrauen gegenüber der EU zu , dass daran die europäische Integration scheitern könnte. Auch aus Gründen des Staatsauftrags europäische Integration ist es daher erforderlich, im IntVG abzusichern, dass die Bundesregierung ihre Zustimmung zu sämtlichen Anwendungen der Solidaritätsklausel, welche militärische Mittel einschließen, nur geben darf nach vorheriger Zustimmung von Bundestag und Bundesrat (letzterer wegen der Länderhoheit über die Polizei). Bundestag und Bundesrat müssen zur Überprüfung jeder Anwendung der Solidaritätsklausel nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sein. Das Parlament muss gesetzlich verpflichtet sein, sämtliche Vorhaben zur Anwendung der Solidari-tätsklausel insoweit abzulehnen, wie es mehrheitlich zum Ergebnis kommt, dass diese den Rahmen der vom GG ausdrücklich erlaubten (Art. 87a Abs. 2 GG) Militäreinsätze im Inneren überschreiten. Die europäische Integration ist auf Einigung, nicht auf Unterdrückung, ausgerichtet; aus diesem Grund spricht Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG auch von einem “vereinten”, nicht nur von einem “integrierten”, Europa.

Der Staatsformwechsel zum “Gewährleistungsstaat” ist nicht nur in höchstem Maße verfassungswidrig und verfassungsfeindlich im Sinne von §4 BVerfSchG, sondern ebenso integrationswidrig und integrationsfeindlich. Es würde die Völkerverständigung zwischen den Völkern der Mitgliedsstaaten erheblich beeinträchtigen, wenn ihre hoheitlichen Berhörden und Gerichte und sogar ein Teil der Sicherheitsaufgaben plötzlich von EU- ausländischen Firmen, deren höchste Loyalität mit Sicherheit nicht der nationalen Verfassung des jeweiligen Gastlandes gelten würde, betrieben würden; das würde eher EU- ausländerfeindliche Ressentiments fördern und wäre etwas völlig anderes, als eine integrationsfreundliche Öffnung des öffentlichen Dienstes der Mitgliedsstaaten, indem man direkt beim Staat EU- Ausländer als Angestellte, Beamte oder Arbeiter beschäftigen würde, denn letzeres würde in keiner Weise die Kontrolle des öffentlichen Dientes durch die vom Volk über das grundrechtsgleiche Wahlrecht (Art. 38 GG) legitimierten Politiker über die Exekutive beeinträchtigen.

Es wäre auch kein freundlicher Akt und wenig integrationsfürdernd, wenn man seinem Nachbarn dessen Haus bis auf die Außenmauern entkernen würde. Das würde eher massenhafte Proteste zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in den Mitgliedsstaaten hervorrufen.

Dass Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG der EU durch die Verpflichtung nur auf “demokratische, rechtsstaatliche, soziale und föderative Grundsätze” die diesbezüglichen Verpflichtungen für die Art und Weise der europäischen Integration dem Wortlaut nach quantitativ weniger eng eingrenzt als bzgl. des Grundrechtsschutzes, ändert nichts daran, dass der Schutz der Verfassungsidentität nach Art. 79 Abs. 3 GG vorrangig ist. Zum einen hat das erste Lissabon-Urteil ausdrücklich den Vorrang der Grundrechte und Strukturprinzipien des GG vor allem anderen Recht in Deutschland klargestellt, zum anderen zeigt auch der Wortlaut von Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG, dass Art. 79 Abs. 3 GG Vorrang vor dem Art. 23 GG hat. Die zum Teil etwas weiche Formulierung in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG führt allein dazu, dass der Staatsauftrag “europäische Integration” so, wie er in Art. 23 Abs. 1 GG normiert ist, allein nicht zum Schutz der Verfassungsidentität ausreicht. Die weiche Formulierung lässt außerdem zu, dass Deutschland den Weg wählen kann, der autonomen Entwicklung des EU-Rechts mehr Freiheit zu lassen, als das GG deren Verwirklichung für Deutschland erlaubt; dafür muss dann aber im Rahmen der Verfassungsidentitätsprüfung auch durch den Bundestag und, soweit es um Länderzuständigkeiten geht, auch durch den Bundesrat, sichergestellt werden, dass das EU-Recht nur insoweit für Deutschland angewendet wird, wie dies mit der Verfassungsidentität vereinbar ist. Es muss aufs deutlichste betont werden, dass Art. 23 GG selbst nicht von der Ewigkeitsgarantie mit erfasst wird; das wird auch daraus deutlich, dass Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG den Vorrang von Art. 79 Abs. 3 GG vor dem Art. 23 GG bekräftigt. Auch darum kann Art. 23 GG nicht als lex specialis zur Verfassungsidentität gewertet werden.

In diesem Zusammenhang scheint es geboten, auf den Teil der Stellungnahme von Herrn Prof. Dr. von Bogdandy gegenüber den Europaausschüssen von Bundestag und Bundesrat einzugehen. Er versucht dort, den Rang der Verfassungsidentität oberhalb von Art. 23 GG zu verkehren bzw. zu relativieren. Rhetorische Tricks wie der Appell an das “gesunde Selbstvertrauen” der Abgeordneten oder deren “Skepsis gegenüber einer übermäßigen Einengung ihrer Befugnisse nach Art. 23 Abs. 1 GG” sind ein Ausweichen weg von der logischen hin zur emotionalen Ebene. In dieser rhetorischen Linie stehen auch seine unbewiesenen Behauptungen, das erste Lissabon-Urteil beruhe “auf einem problematischen Verständnis über die Grenzen der Integrationsgewalt unter dem Grundgesetz”, und dass “Art. 79 Abs. 3 GG eine problematische, ja teilweise abwegige Auslegung” erfahre. Das Ausweichen auf die emotionale Ebene wird in der Rhetorik gerne angewandt, um die Unvollständigkeit logischer Begründungsketten zu kaschieren.

Darüber hinaus kollidiert der Staatsformwechsel zum “Gewährleistungsstaat” in solchem Ausmaß mit der Demokratie, dem Rechtsstaat, mit dem Sozialstaatsgebot und mit den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten, dass er selbst mit dem in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ausgestalteten Staatsauftrag europäische Einigung unvereinbar ist. Insoweit wird auf den Abschnitt dieser Verfassungsbeschwerden zum “Gewährleistungsstaat” verwiesen.

Ohne eine verpflichtende Verfassungsidentitätsprüfung durch den Bundestag, wäre darüber hinaus, auch aus Sicht des Staatsauftrags “europäische Einigung”, das grundrechtsgleiche Wahlrecht aus Art. 38 GG verletzt, weil das Wahlrecht in seinem Sinn entleert würde, wenn nicht sichergestellt wäre, dass die vom Volk gewählten Abgeordneten nach bestem Wissen und Gewissen Eingriffe in die Verfassungsidentität verhindern. Da die Demokratie vom Volk ausgeht (Art. 20 Abs. 1 GG) , ist den Abgeordneten untersagt (Rn. 216 des ersten Lissabon-Urteils), in die Verfassungsidentität einzugreifen, welche nur dem Volk zusteht. Damit ist nicht nur ein Eingriff durch aktives Handeln, sondern auch durch ein passives Geschehenlassen, welches auch in einem bewussten Nicht-Wissen- Wollen bestehen könnte, untersagt. Schließlich besitzt gem. Rn. 218 des ersten Lissabon-Urteils die Verfassung der Deutschen “gerade auch seit Bestehen der Vereinten Nationen einen universellen Grund”, “der durch positives Recht nicht veränderbar sein soll.”

Mit Ratifizierung des “Vertrags von Lissabon” ohne vorherige Absicherung im IntVG einer verpflichtendenVerfassungsidentitätsprüfung durch den Bundestag und, soweit Länderzuständigkeiten berührt sind, auch durch den Bundesrat, würde die Beschwerdeführerin selbst, gegenwärtig (sofort) und unmittelbar (ohne vorherigen weiteren Rechtsakt), in ihrem grundrechtsgleichen Wahlrecht aus Art. 38 auch insoweit beschwert, wie es darum geht, sicherzustellen, dass die europäische Integraion in einer mit der Verfassungsidentität vereinbaren Weise erfolgt.

V.5 Staatsauftrag Frieden und dessen Absicherung im Verhältnis zum EU-Recht

Auf Grundlage der Menschenwürde bekennt sich das deutsche Volk zu unverletztlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Abs. 2 GG). Einer der Erwägungsgründe zur Schaffung des Grundgesetzes war, dass das deutsche Volk “beseelt” war bzw. ist, “als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen”. Die Ausrichtung des Wortes “dienen” den Frieden zeigt, dass der Frieden genauso entscheidend ist wie gesamte europäische Integration zusammen.

Rn. 225 des ersten Lissabon-Urteils bekräftigt die Gleichrangigkeit von Frieden und europäischer Einigung und erkennt erstmals in dieser Deutlichkeit, dass es sich bei beiden um Staatsaufträge, um überragende politische Ziele des GG handelt. Nach Rn. 224 hat die europäische Integration auch deshalb ein solches Gewicht im GG, weil sie Kriege zwischen den europäischen Staaten für immer ausschließen soll.

Aus dieser Gleichrangigkeit folgt, dass das Friedfertigkeitsgebot nicht willkürlich zur Aushebelung des Gebots zur europäischen Einigung benutzt werden darf, dass aber Deutschland sich gleichzeitig jedem unfriedlichen Kurs der europäischen Einigung mit seinem ganzen Stimmgewicht zu widersetzen hat.

Aus dem Rang des Friedfertigkeitsgebots als Staatsauftrag über Art. 1 Abs. 2 GG ist der Frieden besser abgesichert als allein aus dem Angriffskriegsverbot des Art. 26 GG, weil Art. 1 Abs. 2 GG offensichtlich von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst ist.

Die Staatsaufträge Frieden und europäische Integration stehen klar unterhalb der Grundrechte und Strukturprinzipien, da sie nach Rn. 219 des ersten Lissabon-Urteils nicht über die Grenze der unantastbaren Verfassungsidentität verwirklicht werden dürfen.

Sie stehen aber über dem EU-Recht. Das folgt denkgesetzlich schon daraus, dass der Frieden für Deutschland den gleichen Rang hat wie die gesamte Teilnahme Deutschlands an der europäischen Einigung. Das kann durch keine einzelne Vorschrift des EU-Rechts, auch nicht des EU-Primärrechts, ausgehebelt werden. Das ist insbesondere deshalb entscheidend, weil das EU-Recht kein eigenes Angriffskriegsverbot enthält. Der Staatsauftrag Frieden hat insoweit ein etwas stärkeres Gewicht als der Staatsauftrag europäische Integration, als er Teil von Art. 1 GG ist. Art. 1 und Art. 20 GG sind ausdrücklich durch Art 79 Abs. 3 GG direkt als unabänderlich selbst vor dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers geschützt (Rn. 218 des ersten Lissabon-Urteils). Dementsprechend wäre Deutschland zum Austritt aus der EU oder zumindest aus deren militärischem Teil verpflichtet, wenn die GASP nicht mehr mit dem Staatsauftrag Frieden vereinbar wäre.

Zuvor müsste aber versucht werden, dieser Vereinbarkeit wiederherzustellen.

Aus dem Staatsauftrag Frieden sowie aus dem Strukturprinzip Demokratie folgt laut Rn. 255 des ersten Lissabon-Urteils das Supranationalisierungsverbot der GASP. Die dem Grunde nach von Art. 23 GG vorgeschriebene europäische Integration darf nicht so verwirklicht werden, dass damit der Frieden nicht mehr hinreichend gesichert wäre. Daher darf auch im Lichte des Staatsauftrags europäische Einigung der dem Staatsauftrag Frieden ebenso wie der Demokratie dienende wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt durch das EU-Recht in keiner Weise unterlaufen werden, und müssen sämtliche Vorschriften, welche zu einem solchen Unterlaufen führen würden, in ihrer Anwendung entsprechend eingegrenzt werden, sodass jede Umgehung des Parlamentsvorbehalts ausgeschlossen bleibt.

Über die Präambel des Grundgesetzes ist Deutschland darüber hinaus darauf verpflichtet, nicht nur dem Frieden in Europa, sondern dem Frieden in der Welt zu dienen. Dem ist Deutschland vor allem dadurch nachgekommen, dass es Mitglied in der UNO geworden ist und damit die UNO-Charta incl. Angriffskriegsverbot und Souveränität aller Staaten als höchsten internationalen Vertrag anerkannt hat (Art. 2 Abs. 1 + 4 und 103 Uno-Charta), und dies in Art. X der Schlussakte von Helsinki und im Zwei-plus-Vier-Vertrag nochmals bekräftigt hat.

Genauer konkretisiert wird das Friedfertigkeitsgebot durch Art. 26 GG, wonach Deutschland bereits die Vorbereitung eines Angriffskriegs verboten ist, und durch Art. 24 Abs. 2 GG, wonach der Eintritt bzw. der Verbleib Deutschlands nur in solchen sicherheitspolitischen Bündnissen erlaubt ist, welche keinen agressiven Charakter haben. Art. 2 S. 1 des Zwei-plus-Vertrags ging noch einen Schritt weiter, indem er Deutschland dazu verpflichtet, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird.

Die Friedfertigkeit Deutschlands ist auch Voraussetzung für die Erreichung des Zwei-plus-Vier- Vertrags zur Vollendung der deutschen Wiedervereinigung gewesen (Art. 2 S. 1+3 Zwei-plus-Vier- Vertrag). Seitdem darf sogar von deutschem Boden aus nur noch Frieden ausgehen; das ist deutlich weitgehender als nur das Verbot von Angriffskrieg und dessen Vorbereitung und zugleich die Vertrauensgrundlage für die deutsche Wiedervereinigung. Durch die Präambel des Zwei-plus-Vier-Vertrags ist Deutschland, ebenso wie die EU-Staaten Großbritannien und Frankreich, außerdem, zumindest auf deutschem Boden, zur Abrüstung verpflichtet.

Mit dem Friedfertigkeitsgebot des Grundgesetzes kollidiert der “Vertrag von Lissabon” vor allem durch die Aufrüstungsverpflichtung, durch Ermöglichung von militärischen Kampfeinsätzen zur Bewältigung nicht definierter Krisen, durch Ermöglichung von Kampfeinsätzen für die Werte und Interessen der EU, durch die Aushebelung der Parlamentsvorbehalts bzgl. militärischer Missionen, durch die Kappung des Rechtsschutzeses vor dem EUGH (Art. 275 AEUV) bzgl. der GASP und durch die Ermöglichung von Armeeeinsätzen innerhalb der EU in Fällen undefinierter “vom Menschen verursachter Katastrophen”, ferner durch die bereits erfolgte Ausfüllung eines Teils der strategischen Interessen im Rahmen der “Europäischen Sicherheitsstrategie” mit dem unbestimmten Rechtsbegriff “Scheitern von Staaten” als Teil der europäischen Bedrohungsdefinition.

Eine derart weite Aushebelung des Friedfertigkeitsgebots wäre mit dem Grundgesetz unvereinbar. Auch darum war es erforderlich, im ersten Lissabon-Urteil das Supranationalisierungsverbot der GASP (Rn. 255), die unbedingte Verbindlichkeit des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts (Rn. 255), das Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts (Rn. 299) und nicht zuletzt die Eigenschaft des Friedfertigkeitsgebots als Staatsauftrag klarzustellen.

Dem muss aber auch auf einfachgesetzlicher Ebene im IntVG Rechnung getragen werden. Insbesondere muss der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt im IntVG auch einfachgesetzlich verankert werden für jegliche auf EU-Recht gegründete Militäreinsätze, unabhängig davon, ob es sich um eine gemeinsame Verteidigung, um militärische Missionen im Sinne von Art. 42 Abs. 5 EUV oder Art. 43 EUV oder um die Solidaritätsklausel (Art. 222 AEUV) handelt.

Die Beschwerdeführerin wäre bei Ratifizierung des “Vertrags von Lissabon” ohne vorherige Absicherung des Parlamentsvorbehalts im IntVG selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Rechten auf Leben (Art. 2 Abs. 2 GG) und, soweit es die Solidaritätsklausel betrifft, auch auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) verletzt. Die Verletzung würde bereits zum Zeitpunkt der Ratifizierung eintreten, weil diese völkerrechtlich nicht mehr rückgängig zu machen wäre und für Deutschland den Weg frei machen würde für lebensgefährliche, Angriffskriege ermöglichende, Vorschriften, ohne diesen auf der einfachgesetzlichen Ebene hinreichende formell-rechtliche Grenzen zu setzen.

V.6 Vorrangansprüche von UNO-Charta und UNO-Menschenrechten

Die Uno-Charta, also die Satzung der Vereinten Nationen, ist nach deren Art. 103 der höchstrangige internationale Vertrag. Dies bekräftigt auch die OSZE in Art. X der Schlussakte von Helsinki.

Die Uno-Charta ist von besonderer Bedeutung durch das Verbot des Angriffskrieges (Art. 2 Abs. 4 Uno-Charta) und als Rechtsgrundlage für die Existenz und die Befugnisse des UNO-Sicherheitsrates und der UNO- Vollversammlung. Sie enthält die wichtigsten globalen Strukturprinzipien für eine weltweite Friedensordnung unter voller Berücksichtigung der Souveränität (Art. 2 Abs. 1 UNO- Charta) der Staaten. In der Präambel des Zwei-plus-Vier-Vertrags über die abschließende Regelung Bezug auf Deutschland haben die Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche Demokratische Republik, Frankreich, die Sowjetunion, Großbritannien und die USA nochmals ihre Verpflichtung auf die UNO- Charta und auf die Schlussakte von Helskinki der OSZE bekräftigt.

Der Vorrang der UNO- Charta vor regionalen Verteidigungsbündnissen wurde vom Bundesverfassungsgericht in der Urteilsbegründung zu BVerfGE 90, 286 bereits in der Weise bestätigt, dass die UNO-Charta die Rechtsgrundlage für die Existenz solcher regionaler Bündnisse ist.

Seit 1948 hat jeder Mensch einen Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die Rechte und Freiheiten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno voll verwirklicht werden können (Art. 28 AEMR). Art. 28 ist damit zugleich ein eigenes Menschenrecht und ein globales Strukturprinzip.

Das bedeutet den Vorrang der AEMR vor allen weiteren internationalen Verträgen außer vor der UNO- Charta, denn die UNO-Menschenrechte dürfen in keinem Fall in Widerspruch zu den “Zielen und Grundsätzen” der UNO-Charta ausgeübt werden (Art. 29 Nr. 3 AEMR). Dieser Vorranganspruch ist vergleichbar mit der Unverletzlichkeit der Grundrechte nach Art. 1 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes.

Dass kein anderer internationaler Vertrag in der Rangfolge zwischen Uno-Charta und UNO-Menschenrechte passt, ergibt sich auch aus Art. 1 Nr. 3 + 4 Uno-Charta (bekräftigt durch die Präambel der Allgemeinen Erklärung der UNESCO über das menschliche Genom und die Menschenrechte vom 17.11.1997), wonach die Menschenrechte ebenso wie der Frieden und die Völkerverständigung zu den Zielen der UNO gehören, für welche diese gegründet wurde, und dass die UNO ein weltweiter Mittelpunkt zur Koordinierung der Verwirklichung dieser Ziele ist. Jeder Staat, welcher der UNO beitreten will, muss sich nicht nur auf die UNO- Charta, sondern auch auf die AEMR verpflichten. Das gesamte übrige internationale Recht (“internationale Ordnung”) hat sich der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte unterzuordnen. Soweit andere internationale Verträge mit der AEMR kollidieren, muss deren Verletzung genau insoweit hingenommen werden, wie es erforderlich ist, um die AEMR zu erfüllen.

Prof. Jean Ziegler, UNO-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Nahrung, bekräftigt in Tz. 56 seines Berichts vom 28.08.2003 (Az. A/58/330) ebenfalls den Vorrang der UNO-Menschenrechte und zeigt die Menschenrechte beispielhaft als Schranken für die Reichweite von Schuldendienst und Handelsvereinbarungen auf. In welchem Ausmass die Umsetzung welcher anderen internationalen Verträge durch die Verpflichtung auf die UNO- Charta und die Menschenrechte der UNO hintanstehen müssen, ist für Deutschland durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu klären (analog Art. 100 Abs. 2 GG).

Menschenrechte sind unveräußerlich (Präambel der AEMR, Art. 1 Abs. 2 GG). Sie sind das Geburtsrecht jedes menschlichen Wesens, und man behält sie auch lebenslänglich. Sie können weder verkauft noch verschenkt werden, weder von Individuen noch von Regierungen oder Parlamenten, auch nicht zugunsten anderer internationaler Verträge. Die UNO- Menschenrechte sind noch nicht einmal das Eigentum der UNO, sondern sie sind untrennbar mit jedem einzelnen Menschen verbunden.

Alle Menschenrechte der UNO sind gleichrangig, interdependent und unteilbar (Präambel Allgemeine Erklärung der UNO- Menschenrechte, Art. 5 Erklärung von Wien der UNO- Vollversammlung vom 12.07.1993 (Az. A/CONF. 157/23), Art. 6 Abs. 2 Resolution 41/128 der UNO-Vollversammlung über das Recht auf Entwicklung, Präambel der Resolution 48/141 der Uno-Vollversammlung zur Schaffung des Amtes der Hochkommissarin für Menschenrechte). Diese Position wird gestützt durch die Präambel der UNO- Charta, wonach die Völker der Vereinten Nationen fest entschlossen sind, “den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern”, d. h., die Menschenrechte der sozialen und der bürgerlichen Traditionen gleichermaßen zu erfüllen.

Auf Grund der Gleichrangigkeit der Uno-Menschenrechte untereinander sind auch der Sozialpakt, der Zivilpakt und die Menschenrechtskonventionen (z. B. zu Frauenrechten und Kinderrechten) vorrangig. Das Recht auf geistiges Eigentum findet sich im UNO- Sozialpakt in Art. 15 Abs. 1 c, das Recht auf unternehmerische Freiheit (zumindest im Sinne der Freiheit, ein Unternehmen zu eröffnen) in Art. 6 des UNO- Sozialpakts, beides auch in bürgerlichen Traditionen zu findende Menschenrechte; Art. 6 schützt nicht nur das Recht der Arbeitnehmer auf “angenommene”, sondern ebenso verbindlich das der Selbständigen auf “frei gewählte” Arbeit. Das Recht, vor uneingewilligten medizinischen Experimenten geschützt zu sein, steht explizit in Art. 7 S. 2 UNO- Zivilpakt, ist aber gleichzeitig gem. Tz. 8 des Allgemeinen Kommentars Nr. 14 des UNO- Wirtschafts- und Sozialrats Bestandteil des Menschenrechts auf Gesundheit (Art. 12 Uno-Sozialpakt).

Ein weiterer Beweis für die Unteilbarkeit der UNO- Menschenrechte ist der exakt gleich Wortlaut von Art. 1 des UNO- Sozialpakts und des UNO- Zivilpakts. Die Menschenwürde ist ein ebenso soziales wie bürgerliches Menschenrecht, bereits sie allein schützt vor Folter und Beleidigung ebenso wie das Existenzminimum des Einzelnen. Laut den Präambeln des Zivilpaktes, des Sozialpaktes und des Übereinkommens gegen die Folter leiten sich die in diesen Verträgen jeweils normierten Rechte aus der Menschenwürde her. Auch für die Vereinten Nationen ist die Menschenwürde damit der Rechtsgrund für die Unteilbarkeit aller Menschenrechte.

Auch das Menschenrecht auf Schutz der Familie ist ebenso bürgerlich wie sozial; wollte man hiervon den sozialen Teil abspalten, blieben z. B. das Erziehungsrecht der Eltern und der Schutz der Kinder durch den Staat sowie das Verbot von Zwangsehen erhalten, die Mütter hätten aber keinen Grundrechtsanspruch auf Lohnersatzleistungen für die Zeit vor der Niederkunft mehr (vgl. Art. 6 GG, Art. 16 AEMR, Art. 23 Uno-Zivilpakt, Art. 10 Uno-Sozial-pakt, Art. 33 EU-Grundrechtecharta). Auch die OSZE bekräftigt die Verbindlichkeit aller Uno-Menschenrechte (Art. VII Schlussakte von Helsinki).

Ebenso aus den Verfassungstraditionen anderer EU-Staaten ist die Unteilbarkeit der Menschenrechte ersichtlich. So zeigt z. B. Art. 23 der belgischen Verfassung die Verwurzelung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte in der Menschenwürde auf. Die italienische Verfassung verlangt zur Erfüllung der Menschenrechte in Art. 2 in einem Atemzug politische, wirtschaftliche und soziale Solidarität. Art. 1 Abs. 2 GG betont für alle Grundrechte des Grundgesetzes, ohne Unterschied zwischen sozialen und bürgerlichen, deren Unverletzlichkeit und deren Verwurzelung in der Menschenwürde.

Nach Art. 1 Abs. 2 GG bekennt sich das deutsche Volk auf Grund der Menschenwürde „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.

Anders als Art. 1 Abs. 3 bezieht sich Art. 1 Abs. 2 GG nicht ausdrücklich allein auf die Grundrechte des Grundgesetzes; die Menschenrechte wurden vom Grundgesetzgeber als nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt als „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit“ postuliert. Die Unveräußerlichkeit bezieht sich damit offensichtlich nicht nur auf die Menschenrechte aus deutscher Rechtsquelle, sondern ebenso aus allen für Deutschland ratifizierten und damit gültigen internationalen Rechtsquellen, hier also aus den Menschenrechtsverträgen der Uno, des Europarats und aus der EU-Grundrechtecharta. Das bedeutet, dass Art. 1 Abs. 2 GG nicht nur die Herabstufung der deutschen Grundrechte verbietet, sondern auch die Herabstufung der in Deutschland geltenden internationalen Menschenrechte insoweit untersagt, wie deren Rang in der jeweiligen internationalen Rechtsquelle ausdrücklich normiert ist.

Damit ist es auch durch Art. 1 Abs. 2 GG untersagt, die UNO- Menschenrechte nach unterhalb des EU-Rechts herabzustufen, weil der Rang der UNO- Menschenrechte direkt nach der UNO- Charta über Art. 28 AEMR und 29 Nr. 3 AEMR normiert ist, und weil die Menschenrechte der Vereinten Nationen zum zwingenden Völkerrecht (“ius cogens”) gehören (Art. 53 WVRK, Rn. 279-282 des Urteils des EU-Gerichts 1. Instanz zu Az. T-306/01, Gutachten des internationalen Gerichtshofs § Advisory Opinion of the International Court of Justice of 8 July 1996, The Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Reports 1996). Kein internationaler Vertrag darf in unvereinbarem Gegensatz zum “ius cogens” stehen, sonst wird er nichtig (Art. 53 WVRK). Zur Vermeidung des Nichtigkeitsrisikos, soweit es Kollisionen mit den universellen Menschenrechten und deren Ranganspruch betrifft, ist es entscheidend, den Rang der universellen Menschenrechte gegenüber dem EU-Recht hinreichend zu sichern.

Art. 1 Abs. 2 GG steht durch Art. 79 Abs. 3 GG über Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG. Damit kann auch Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG keine Rechtsgrundlage dafür sein, das EU- Recht über die UNO- Menschenrechte zu stellen. Da die EU mangels eigenen Staatsvolks kein Staat ist, ist das EU-Recht trotz Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG weiterhin Teil des Völkerrechts. Das wurde in Leitsatz 1 des ersten Lissabon-Urteil durch die Feststellungen bestätigt, dass die EU weiterhin auf vertraglicher Grundlage arbeitet, dass ihre Mitgliedsstaaten souverän und die Herren der Verträge (Rn. 235) bleiben.

Selbst die Ewigkeitsgarantie des GG wird von den Menschenrechten der Vereinten Nationen abgeleitet, besitzt einen universellen Grund (Rn. 218 des ersten Lissabon-Urteils), der durch positives Recht nicht veränderbar sein soll. Der Grundgesetzgeber wollte den universellen Menschenrechten, wie an Art. 1 Abs. 2 GG überdeutlich wird, offenbar einen hohen Rang für Deutschland einräumen, direkt unterhalb des Grundgesetzes und der UNO-Charta. Wenn nun nach dem ersten Lissabon- Urteil zumindest das EU-Primärrecht, über großen Teilen des GG steht, dann wird der Unveräußerlichkeit der universellen Menschenrechte aus Art. 1 Abs. 2 GG, im Verhältnis zum EU- Recht, nur noch dadurch nachzukommen sein, dass sie zumindest oberhalb jeglichen EU- Sekundärrechts plaziert werden. Nur so kann verhindert werden, dass die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG durch eine Überbetonung der Europarechtsfreundlichkeit hinsichtlich der universellen Menschenrechte marginalisiert wird.

Das erste Lissabon- Urteil ist dem Ranganspruch der UNO-Charta im wichtigsten Punkt gerecht geworden, indem es die Supranationalisierung der GASP untersagt hat (Rn. 255 und 342). Damit ist der wichtigsten Aufgabe der Vereinten Nationen als Weltfriedensbündnis Rechnung getragen.

Hinsichtlich der universellen Menschenrechte ist im ersten Lissabon-Urteil entschieden worden in Leitsatz 3, dass die europäische Einigung nur so verwirklicht werden darf, dass noch genügend Raum für Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse verbleibt. In diesem Zusammenhang spricht Leitsatz 3 in einem Atemzug sowohl von der persönlichen als auch von der sozialen Eigenverantwortung. Die Aufzählung “wirtschaftlich, kulturell und sozial” ist die Sprache des UNO- Sozialpaktes, was aufzeigt, dass das erste Lissabon-Urteil ausreichenden Raum für die Verwirklichung der Menschenrechte des UNO- Sozialpaktes auf nationaler Ebene will. Dass das, auf Grund der Unteilbarkeit der universellen Menschenrechte, gleichermaßen für die bürgerlichen universellen Menschenrechte gilt, ist daran ersichtlich, dass in einem Atemzug von persönlicher und von sozialer Eigenverantwortung gesprochen wird. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf Abschnitt

II.5.3 dieser Verfassungsbeschwerden verwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat im ersten Lissabon-Urteil damit im Sinne der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG entschieden.

Das erste Lissabon-Urteil spricht in Leitsatz 3 sowie in Rn. 251 und 252 auch davon, dass ein hinreichender Raum zur Verwirklichung der persönlichen und sozialen Eigenverantwortung (zum Schutz der bürgerlichen und der sozialen Menschenrechte) vor allem hinsichtlich solcher politischer Entscheidungen gewahrt bleiben muss, welche in besonderem Maße auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind. Die universellen Menschenrechte sind Teil dieser Vorverständnisse, da sie das Ergebnis einer geistig-moralischen Fortentwicklung auf Grund gemeinsamer leidvoller Erfahrungen von Weltkriegen und Völkermord gewesen sind. Wie die Präambel der AEMR zeigt, sollen durch die universellen Menschenrechte fortan “Barbarei”, “tiefe Verletzungen” des “Gewissens der Menschheit”, “Tyrannei” und “Unterdrückung” beendet bzw. verhindert werden.

Gelegentlich wird argumentiert, die bürgerlichen Menschenrechte seien zum Befolgen, die sozialen bloss zum Beobachten da, denn die Erfüllung der sozialen Menschenrechte könne so teuer werden, dass dies die Haushaltshoheit zu sehr einengen würde. Dabei wird oft übersehen, dass auch die Erfüllung der bürgerlichen Menschenrechte mit erheblichen Aufwendungen verbunden ist, vor allem bzgl. Sach- und Personalausstattung der Polizei. Wenn die Kosten der Erfüllung eines internationalen Vertrags das entscheidungserhebliche Kriterium für dessen Verbindlichkeit wären, dann wäre auch der Nato-Vertrag unverbindlich und müsste nur beobachtet, aber nicht befolgt werden. Er ist nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zum Tornado-Einsatz (2 BvE 2/07) in Afghanistan sowie zur Lagerung chemischer Waffen (BVerfG 77,170) jedoch verbindlich und in Verbindung mit Art. 27 WVRK unmittelbar anwendbar und vorrangig vor den einfachen Gesetzen.

Wenn das Menschenrecht auf Gesundheit (Art. 12 UNO- Sozialpakt), anders als das auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), unverbindlich wäre, dann wäre der Gesundheitsschutz menschenrechtlich nur insoweit abgesichert, wie es um die Vermeidung bleibender körperlicher Schäden ginge, nicht aber die Gesundheitsprävention mit Ziel des für den jeweiligen Menschen erreichbaren Höchstmaßes an körperlicher und geistiger Gesundheit.

Der unmittelbaren Geltung der Uno-Menschenrechte nach Art. 25 GG kann ebenso wenig wie dem Nato-Vertrag eine etwaige zu geringe Spezifizierungstiefe entgegengehalten werden, weil der Spezifizierungsgrad nach Tz. II.1 der Entscheidungsgründe des Verfassungsgerichtsurteils zur Lagerung chemischer Waffen (BVerfG 77,170) ausdrücklich kein Maß für die unmittelbare Geltung ist. Da der Nato- Vertrag Teil der “internationalen Ordnung” ist, sind die diesem gegenüber gem. Präambel und Art. 28 AEMR höherrangigen UNO- Menschenrechte ebenfalls verbindlich und unmittelbar anwendbar. Die Menschenrechte der UNO haben diesen Status in Deutschland jeweils bei Inkrafttreten der ihnen zugehörigen deutschen Zustimmungsgesetze erlangt (VG Frankfurt vom 09. 11.1998, Az. 9 E 1570/98 (V) – NvwZ-RR 1999,325).

Die Vereinten Nationen haben mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Zivilpakt, dem Sozialpakt und den Menschenrechtskonventionen das am besten ausgebaute Menschenrechtssystem, christlich gesagt, den besten bereits existierenden rechtlichen Ordnungsrahmen für die Umsetzung des biblischen Gebots der Liebe, wobei letzteres wiederum eine der 4 Säulen des “universellen Gemeinwohls” im Sinne der Enzyklika “pacem in terris” ist. Nirgendwo kommt die Ausrichtung der UNO auf das universelle Gemeinwohl deutlicher zum Ausdruck als in Art. 28 AEMR. Nur die UNO schreibt Menschenrechte wie die auf Nahrung und auf Gesundheit fast weltweit vor. Daher stützt auch die “Verantwortung vor Gott und den Menschen” (Präambel des Grundgesetz) den Vorrang der UNO- Menschenrechtsverträge vor dem übrigen internationalen Recht.

Art. 1 Abs. 2 GG zeigt darüber hinaus noch eine weitere Funktion der Menschenrechte, darunter ausdrücklich auch der universellen (“in der Welt”) auf, nämlich den Frieden, der laut dem ersten Lissabon-Urteil den Rang eines Staatsauftrags hat, zu stabilisieren. Das ist von besonderer Bedeutung für die internationalen Beziehungen, aber auch innerstaatlich unverzichtbar. Die Unteilbarkeit der Menschenrechte hat nicht nur den Sinn einer Versöhnung zwischen Liberalismus und Arbeiterbewegung, sondern viel mehr noch für den friedlichen Ausgleich jeglicher Interessengegensätze.

Die Pflicht, stets die Menschenrechte miteinander abzuwägen, zwingt zu Kompromissen, mit denen alle leben können, sodass in einer Gesellschaft, wo versucht wird, dieser Unteilbarkeit zu genügen, für niemanden eine Legitimation zu unfriedlichen Handlungen bestehen kann.

V.7 Unteilbarkeit und Rang der universellen Menschenrechte als Teil der kulturellen und historischen Vorverständnisse auch aufgrund ihrer Verankerung in Naturwissenschaft und Religion

Die Unteilbarkeit der Menschenrechte, darunter insbesondere die Gleichrangigkeit und gleichermaßen Verbindlichkeit der sozialen und der bürgerlichen Menschenrechte, ist nicht nur eine zivilisatorische Leistung der Vereinten Nationen und zahlreicher nationaler Verfassungen, sondern zugleich tief verwurzelt in der Naturwissenschaft und in religiösen Traditionen. Am Beispiel der aktuellen Evolutionstheorie und des Katholizismus wird im folgenden aufgezeigt, dass die Unteilbarkeit der Menschenrechte zu den kulturellen und historischen Vorverständnissen im Sinne des Leitsatzes 3 des ersten Lissabon-Urteils gehört.

Der Naturwissenschaftler Charles Darwin hat zwei Bücher zur Evolution geschrieben, das erste zur Entstehung der Arten, und das zweite zur Abstammung des Menschen. Im ersten Buch hat Darwin den Konkurrenzkampf als das wichtigste Prinzip der Evolution angesehen. Im seinem nicht so bekannten zweiten Werk zur Evolution hat er aufgezeigt, dass die Zusammenarbeit noch entscheidender ist. Selbst das Tierreich ist nicht primär auf den sog. “Kampf ums Dasein” ausgerichtet, denn dann gäbe es nicht die Vielfalt an auffälligen Farben und Formen, die dem Gefallen der eigenen Artgenossen, nicht aber dem Schutz vor Freßfeinden, dienlich sind.

Neuere wissenschaftliche Untersuchungen an der Universität Bern haben laut einem Bericht in der Wissenschaftssendung “Leonardo” im WDR 5 vom 09.01.2008 im Tierversuch festgestellt, dass u. a. Ratten, Erdmännchen, Graufischer und Fledermäuse nicht nur an sich selbst denken, sondern auch Futter miteinander teilen und einander schützen. Das sind gewichtige Indizien dafür, dass ein zumindest instinktives Gespür für die Unteilbarkeit zwischen den primär die Freiheit schützenden bürgerlichen Rechten und den primär die Freiheit von Angst und Not schützenden sozialen Rechten selbst im Tierreich vorhanden zu sein scheint. Die Evolution der Menschheit braucht sowohl die Freiheit, die erst Höchstleistungen ermutigt, als auch den sozialen Zusammenhalt, der für die Kommunikation und damit für die Intelligenzentwicklung unverzichtbar ist. Auch anhand des Katholismus ist die Zugehörigkeit des Ranganspruchs zu den kulturellen und historischen Vorverständnissen ersichtlich.

Seine Heiligkeit Papst Benedikt XVI. hat in seiner Rede vor der Uno-Vollversammlung vom 18.04. 2008 zum 60-jährigen Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nochmals bekräftigt, dass die Universalität, Unteilbarkeit und gegenseitige Abhängigkeit der Menschenrechte den Schutz der menschlichen Würde garantieren. Die AEMR sei die Frucht einer Konvergenz unterschiedlicher kultureller und religiöser Traditionen.

Nachdrücklich betonte Benedikt XVI. die Verankerung der Menschenrechte im Naturrecht und in der Würde der Person als Geschöpf Gottes. "Die Menschenrechte aus diesem Kontext zu lösen, hieße ihre Reichweite beschränken und einer relativistischen Konzeption nachzugeben, nach der die Bedeutung und Interpretation von Rechten schwanken und ihre Universalität im Namen unterschiedlicher kultureller, politischer, sozialer und sogar religiöser Anschauungen geleugnet werden könnte", so der Papst (

www.ots.at/meldung.php?schluessel=OTS_20080418_OTS0294 ).

In seiner Rede vom 18.04.2008 erinnerte der Papst auch an das Prinzip des “universellen Gemeinwohls”. Dieses wird in der Rede Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II vom 01.01.2003 anläßlich des Weltfriedenstages der katholischen Kirche erläutert. Das “universelle Gemeinwohl” stammt aus der Enzyklika “pacem in terris” Seiner Heiligkeit Papst Johannes XXIII vom 19.04.1963. Es stützt sich auf die Säulen Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit. Der Weg zum Frieden, so habe Papst Johannes XXIII in der Enzyklika “pacem in terris” gelehrt, müsse über die Verteidigung und Förderung der menschlichen Grundrechte führen. Denn diese Rechte genieße jeder Mensch, und zwar nicht als eine von einer bestimmten Gesellschaftsklasse oder vom Staaat gewährte Gunst, sondern als ein Vorrecht, das ihm als Person zustehe.

www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/messages/peace/documents/hf_jpii_ mes_20021217_xxxvi-world-day-for-peace_ge.html

Johannes XXIII habe in der UNO ein glaubwürdiges Werkzeug zur Erhaltung und Festigung des Friedens in der Welt gesehen. Gerade deshalb habe er seine besondere Wertschätzung für die AEMR zum Ausdruck gebracht, welche er als »einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur rechtlichen und politischen Ordnung der Weltgemeinschaft« ansah (“pacem in terris”, 295). Denn in der AEMR seien die moralischen Grundlagen gelegt für den Aufbau einer Weltgemeinschaft, die von Ordnung statt von Unordnung, vom Dialog statt von Gewalt gekennzeichnet sei. In dieser Perspektive habe Seine Heiligkeit Papst Johannes XXIII begreiflich gemacht, daß der Schutz der Menschenrechte seitens der Vereinten Nationen die unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung der Handlungsfähigkeit der Uno selbst sei, die internationale Sicherheit zu fördern und zu verteidigen.

Damit dürfte die Zugehörigkeit der Unteilbarkeit der Menschenrechte, einschließlich der Unteilbarkeit der universellen Menschenrechte, zu den sprachlichen und kulturellen Vorverständnissen im Sinne von Leitsatz 3 des ersten Lissabon-Urteils bewiesen sein.

Nach Rn. 251 des ersten Lissabon-Urteils ist es auf Grund dieser Vorverständnisse erforderlich, “ gerade in zentralen politischen Bereichen des Raumes persönlicher Entfaltung und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse “ nicht nur die Machtübertragung auf die EU “in vorhersehbarer Weise sachlich zu begrenzen”, sondern, wichtiger noch, bietet es sich in besonderem Maße an, für diese Bereiche “die Grenzlinie dort zu ziehen, wo die Koordinierung grenzüberschreitender Sachverhalte sachlich notwendig ist.”

Dieser hinreichende Raum muss auch für die universellen Menschenrechte gegenüber dem EURecht gewahrt werden bzw. bleiben. Daher ist es unerlässlich, die universellen Menschenrechte in den Prüfungsmaßstab für die Verfassungsidentitätsprüfung und für die ultra-vires-Prüfung auf einfachgesetzlicher Ebene im IntVG zu verankern.

Die Beschwerdeführerin würde bei Rafifizierung des “Vertrags von Lissabon” ohne vorherige Änderung der Begleitgesetze zum Schutz der universellen Menschenrechte insoweit selbst, unmittelbar (ohne weitere Rechtsakte) und gegenwärtig (sofort) betroffen, wie der Schutz ihrer universellen Menschenrechte durch mangelnde Pflicht zur Überprüfung von deren Einhaltung zur Disposition gestellt würde. Das wäre mit dem gebotenen Respekt vor den kulturellen und sprachlichen Vorverständnissen (Leitsatz 3 des ersten Lissabon-Urteils) ebenso unvereinbar wie mit der “Unveräußerlichkeit” (Art. 1 Abs. 2 GG) ihrer universellen Menschenrechte (“in der Welt”), da eine mangelnde Überprüfung oder gar eine Nicht-Überprüfung zum Schutz der UNO- Menschenrechte de- facto eine ähnliche Wirkung hätte wie eine Herabstufung oder ein vollständiger Entzug der universellen Menschenrechte.

Auch das grundrechtsgleiche Wahlrecht aus Art. 38 GG würde in seinem Sinn entleert, wenn nicht einfachgesetzlich abgesichert würde, dass die Parlamentarier ihrer vornehmsten Aufgabe, für welche sie in ihr hohes Amt gewählt worden sind, nämlich die Menschenrechte ihrer Wähler nicht nur zu achten, sondern auch aktiv zu schützen, auch nachkommen. Hier ist eine Pflicht erforderlich, damit die Abgeordneten ihre Freiheit auch in Anspruch nehmen, welche wiederum die Freiheit ihrer Bürger schützt.

V.8 Schutz der Menschenrechte und der Charta der Vereinten Nationen gegenüber dem EU-Recht auf der nationalen Ebene

Winston Churchill, ehem. britischer Premierminister, Gründungsvorsitzender der “Europäischen Bewegung” und einer der Vordenker für die Gründung der EU, würde angesichts des im “Vertrag von Lissabon” implizierten Vorranganspruchs der EU vor der UNO seine Vision von Europa nicht mehr wieder erkennen. Churchill sagte am 19.09.1946 in einer Rede an der Universität Zürich: “Unser beständiges Ziel muss sein, die Vereinten Nationen aufzubauen und zu festigen. Unter- und innerhalb dieser weltumfassenden Konzeption müssen wir die europäische Völkerfamilie in einer regionalen Familie neu zusammenfassen, die man vielleicht die Vereinigten Staaten von Europanennen könnte.” (Zitat aus “Die Europäische Verfassung verstehen”, Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld, Verlag Bertelsmann-Stiftung, S. 19).

Churchills Vision war explizit ein Europa, welches sich unter- bzw. innerhalb des UNO-Systems einfügt. Das ist mit einer Europäischen Union, welche sich über das UNO- System erheben würde, unvereinbar.

Die Rechtserheblichkeit der Vorrangfrage zwischen EU-Recht und den höchsten Verträgen der Vereinten Nationen ergibt sich daraus, dass Erklärung Nr. 17 zum „Vertrag von Lissabon“ erstmals einen Vorranganspruch des AEUV (bisher EGV) vor den nationalen Verfassungen der Mitgliedsstaaten normieren würde und Art. 51 EUV zugleich allen Protokollen und Anhängen zum “Vertrag von Lissabon” die gleiche Verbindlichkeit und den gleichen Rang geben würde wie dem EUV und dem AEUV selbst. Gleichzeitig würde der “Vertrag von Lissabon” Art. 1 EUV dergestalt ändern, dass er den EUV erstmals ausdrücklich gleichrangig mit dem AEUV machen und den EUV damit in den neuen Vorranganspruch mit einbeziehen würde. Der “Vertrag von Lissabon” will darüber hinaus auch alles auf dem AEUV und dem EUV aufbauende Sekundärrecht über die mitgliedsstaatlichen Verfassungen stellen. Darüber hinaus würde der “Vertrag von Lissabon” die EU-Grundrechtecharta über Art. 6 Abs. 1 S. 3 EUV verbindlich machen und damit zugleich auch deren Präambel, welche die EU-Mitgliedsstaaten auf die gesamte bisherige Rechtssprechung des EUGH verpflichten würde, darunter auch auf das Urteil zur Rechtssache Costa/Enel (Az. 6/64), welches erstmals, ohne Rechtsgrundlage im Primärrecht, einen Vorrang des gesamten EG-Rechts vor den mitgliedsstaatlichen Verfassungen postuliert hat.

Die Auswirkung auf die UNO- Charta und die universellen Menschenrechte bestünde darin, dass diese sich selbst direkt unterhalb der nationalen Verfassungen einordnen und damit, würde dem neuen Vorranganspruch stattgegeben, sich plötzlich komplett unterhalb des EU- Rechts wiederfinden würden.

Das Bundesverfassungsgericht hat im ersten Lissabon- Urteil für Deutschland verbindlich dem neuen Vorranganspruch des EU- Rechts insoweit klare Grenzen gesetzt, als es den Vorrang von Grundrechten und Strukturprinzipien des GG sowie der Staatsaufträge europäische Integration und Frieden des GG vor dem gesamten EU- Recht festgestellt hat.

Außerdem ist nach Rn. 255 und Rn. 342 des ersten Lissabon-Urteils die Supranationalisierung der GASP untersagt. Das gilt insbesondere auch im Hinblick auf den konkreten Einsatz deutscher Streitkräfte. Daraus folgt, dass das EU-Primärrecht, soweit es zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU gehört, ein normaler internationaler Vertrag ist und insoweit unterhalb der UNO- Charta und der universellen Menschenrechte steht. Das ist entscheidend, weil Art. 2 Abs. 4 UNO- Charta ein eigenes Angriffskriegsverbot enthält, im Gegensatz zum EU-Recht und zu vielen nationalen Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten.

Die GASP steht außerdem unterhalb der UNO- Menschenrechte und damit auch unterhalb des mit diesen gleichrangigem humanitären Kriegsvölkerrechts (Genfer und Haager Konventionen). Damit darf Deutschland der GASP nur insoweit folgen, wie dies die universellen Menschenrechte und das humanitäre Kriegsvölkerrecht zulassen. Als Folge des ersten Lissabon-Urteils ist auch bei miliärischen Missionen der EU zwischen Soldaten und Zivilisten zu unterscheiden und genießen die Zivilisten auch bei militärischen Missionen der EU den vollen Menschenrechtsschutz der universellen Menschenrechte, welche der Staat, in dem der jeweilige Einsatz stattfindet, ratifiziert hat. Die universellen Menschenrechte gehören darüber hinaus, anders als das EU-Recht, zum “ius cogens” (Art. 53 WVRK, Rn. 279-282 des Urteils des EU-Gerichts 1. Instanz zu Az. T-306/01, Gutachten des internationalen Gerichtshofs § Advisory Opinion of the International Court of Justice of 8 July 1996, The Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Reports 1996). Zum “ius cogens”, der höchsten Kategorie des internationalen Rechts, gehören nur solche internationalen Verträge (und daneben auch ein Teil des ungeschriebenen Völkergewohnheitsrechts), zu welchen der überwiegende Teil der UNO- Mitgliedsstaaten die Rechtsauffassung hat, dass diese dazu gehören.

Das “ius cogens” kann sich also logischerweise nur auf Verträge mit zumindest fast weltweiter Gültigkeit beziehen. Da jeder Staat, der den Vereinten Nationen beitritt, im Rahmen seines Beitritts auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterschreibt, erkennt er damit auch den Vorranganspruch der universellen Menschenrechte gem. Art. 28 AEMR vor allen anderen internationalen Verträgen außer der UNO- Charta an. Kein internationaler Vertrag darf in unvereinbarem Gegensatz zum “ius cogens” stehen, sonst wird er nichtig (Art. 53 WVRK). Auch zur Vermeidung des Nichtigkeitsrisikos, soweit es Kollisionen mit den universellen Menschenrechten und deren Ranganspruch betrifft, ist es entscheidend, den Rang und den Wesensgehalt der universellen Menschenrechte gegenüber dem EU-Recht hinreichend auf der Ebene der Begleitgesetze zu sichern.

Wie in Abschnitt VIII. dieser Verfassungsbeschwerden ausführlich erörtert, sind die Menschenrechte der Vereinten Nationen außerdem in Deutschland direkt einklagbar (siehe auch Studie von Jakob Schneider zur Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte). Der Vorrang der Grundrechte der Grundgesetzes vor den Menschenrechten der UNO ist bereits dadurch gesichert, dass die UNO- Charta vom Rang unterhalb der nationalen Verfassungen und oberhalb der universellen Menschenrechte steht. Weiterhin ergibt sich die direkte Einklagbarkeit aus der nicht ausdrücklich auf deutsche Rechtsquellen beschränkten Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG und der Unverzüglichkeit aus Art. 2 lit. c Uno- Frauenrechtskonvention. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf Abschnitt VIII. dieser Verfassungsbeschwerden verwiesen. Rechtssystematisch gehört der Schutz der universellen Menschenrechte gegenüber dem EU-Recht im Rahmen einer verpflichtenden Verfassungsidentitätsprüfung des Parlaments in das IntVG.

Durch den “Vertrag von Lissabon” würde die EU-Ebene über Art. 3 AEUV und 216 AEUV das Recht erhalten, ohne Mitbestimmung der nationalen Parlamente alle internationalen Verträge der Mitgliedsstaaten neu verhandeln, um den neuen Vorranganspruch des EU- Rechts (aus Erklärung Nr. 17 i. V. m. Art. 1 EUV und Art. 51 sowie aus Art. 6 Abs. 1 S. 3 EUV i. V. m. der Präambel der EU- Grundrechtecharta) gegenüber allem anderen internationalen Recht durchzusetzen. Das würde sich vor allem gegen die UNO richten, weil nur deren Charta und deren Menschenrechte ebenfalls einen Vorranganspruch vor allem anderen internationalen Recht haben. Wenn die EU internationale Verträge mit Wirkung für ihre Mitgliedsstaaten abschließen würde, so würde es sich dabei um Außenpolitik handeln, auch wenn Art. 3 AEUV und Art. 216 AEUV nicht in dem Kapitel “spezifische Vorschriften der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik” des EUV stehen. Es würde sich auch um eine gemeinsame Außenpolitik handeln, da die EU nur autonom, nicht souverän ist (Rn. 228 und 231 des ersten Lissabon- Urteils). Wenn der EU- Ebene der Raum gegeben würde, mit Wirkung für ihre Mitgliedsstaaten und zugleich ohne vorherige Zustimmung der nationalen Parlamente im Einzelfall die zum “ius cogens” gehörenden UNO- Charta und die universellen Menschenrechtsverträge zu kündigen oder neu auszuhandeln, wäre dies mit Art. 53 WVRK unvereinbar und würde zur Nichtigkeit des AEUV führen.

Um den Schutz der zum “ius cogens” gehörenden und auch nach Art. 1 Abs. 2 GG auch von ihrem Rang her unveräußerlichen universellen Menschenrechte sicherzustellen, ist es daher unerläßlich, dass die Zustimmung Deutschlands zu einem Abschluss der EU von Verträgen mit den Vereinten Nationen sowie die Bindung Deutschlands an einen solchen Abschluss nur über ein vorheriges, konstitutives Zustimmungsgesetz des deutschen Bundestags erfolgen darf. Das Erfordernis eines solchen Zustimmungsgesetzes muss im IntVG verankert werden.

Der Ort, wo die Kollisionen zwischen UNO- Charta und universellen Menschenrechte auf der einen und dem EU-Recht auf der anderen Seite gelöst werden müssen, ist auf der nationalen Ebene, durch eine im IntVG zu verankernde verpflichtende Verfassungsidentitätsprüfung durch den Bundestag, welcher auch den Schutz der universellen Menschenrechte und des Supranationalisierungsverbots der GASP umfassen muss.

Denn Deutschland ist Mitglied in EU und UNO. Analog zu Art. 100 Abs. 2 GG ist in Deutschland verbindlich zu entscheiden und letztinstanzlich vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfen, welches Rangverhältnis die internationalen Verpflichtungen Deutschlands zueinander haben, und welche Vorgaben bzw. welchen Spielraum es für den Gesetzgeber auf Grund unserer Verfassung gibt, diese auf der einfachgesetzlichen Ebene miteinander in Einklang zu bringen.

Die EU ist kein Mitglied der Vereinten Nationen, was sie nach Art. 4 UnNO- Charta auch nicht werden kann, weil sie ohne eigenes Volk kein Staat im existentiellen Sinne sein kann. Damit ist die EU selbst auch nicht auf die UNO- Charta und die universellen Menschenrechtsverträge rechtsverbindlich verpflichtet, sondern die Mitgliedsstaaten. Die EU könnte sich explizit die von ihren Mitgliedsstaaten eingegangenen Verpflichtungen auf die UNO- Menschenrechtsverträge zueigen machen; dies ist aber bis heute im EU-Primärrecht nicht ausdrücklich erfolgt.

Im bisherigen Art. 6 EUV bzw. im neuen Art. 2 EUV in der Fassung des “Vertrags von Lissabon” sind zwar die Menschenrechte als Teil der Werte genannt, auf denen die EU beruht. Die UNO- Organisation UNRIC versteht dies so, dass damit auch die UNO-Menschenrechte gemeint sind (“Wie Europäische Union und Vereinte Nationen zusammenarbeiten”, Tz. 2.2), die Menschenrechte der Uno werden aber nicht ausdrücklich im EUV genannt, und es wird im EUV auch nicht klargestellt, wie die EU zum Vorranganspruch der UNO- Menschenrechte nach Art. 28 AEMR steht.

Art. 21 Abs. 1 EUV spricht von der “universellen Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten”, sagt aber nicht klar, ob “universell” im Sinne von weltweit gemeint ist, also im Sinne der “universellen” Menschenrechte der Vereinten Nationen, oder nur in dem Sinne, dass die von der EU gemeinten Menschenrechte jedem Bürger gleichermaßen zustehen sollen, oder ob die EU vielleicht den Rang der UNO- Menschenrechte nur für die Politik gegenüber Drittstaaten respektiert.

Es wird nicht klar, was mit dem Wort “Unteilbarkeit” gemeint ist, da die Menschenrechte aus der EU-Grundrechtecharta ja gerade dadurch geteilt sind, dass ein Teil von ihnen unter den “Vorbehalt der nationalen Gepflogenheiten” gestellt wurde; es wird nicht klar, ob der Begriff “Unteilbarkeit” des Art. 21 EUV auf die Uno-Menschenrechte hindeuten will, oder ob den Verfassern von Art. 21 Abs. 1 EUV die Geteiltheit der EU- Grundrechte nicht bewußt war. Selbst wenn in Art. 21 Abs. 1 EUV die universellen Menschenrechte der Vereinten Nationen und deren Unteilbarkeit gemeint sein sollten, so würde Art. 21 EUV diese ausschließlich verbindlich in einen Katalog von Kriterien einbeziehen, welche die Premierminister der EU bei Entscheidungen über die GASP miteinander abzuwägen hätten. Der gleiche Art. 21 EUV würde in seinem Abs. 2 lit. a in diese Kriterien mit gleichem Rang einreihen die allein von den Premierministern der EU zu bestimmenden strategischen Interessen der EU. Das wäre gerade keine Anerkennung von Art. 28 AEMR, ein entscheidendender Grund mehr, warum das Supranationalisierungsverbot der GASP nach Rn. 255 des ersten Lissabon-Urteils unter keine Umständen ausgehebelt werden darf. Art. 21 Abs. 2 lit. c EUV würde sogar so weit gehen, ausdrücklich auch die Prinzpien der UNO-Charta mit den selbst definierten strategischen Interessen abzuwägen, und dabei nur die Prinzipien der Charta, nicht einmal die ganze Charta mit einzubeziehen. Da die UNO- Charta über den universellen Menschenrechten steht (Art. 29 Nr. 3 AEMR), würden diese durch Art. 21 EUV gegenüber den selbstdefinierten strategischen Interessen noch mehr ausgehebelt. Solch eine Herausforderung gegen Art. 103 UNO- Charta und gegen Art. 28 AEMR würde zur Nichtigkeit zumindest des EUV gem. Art. 53 WVRK führen.

Explizit werden im “Vertrag von Lissabon” als Menschenrechte, auf welche die EU verpflichtet ist, nur (in Art. 6 EUV), im Sinne des lex specialis, die EMRK des Europarates, die Grundrechtecharta der EU und die Erläuterungen des EU-Konvents genannt.

Die mangelnde Verpflichtung auf den Vorrang der UNO- Charta durch den “Vertrag von Lissabon” zeigt sich in Art. 2 Abs. 5 EUV, wonach die EU sich nur auf einen Beitrag zum Schutz der Prinzipien der UNO- Charta verpflichten würde; die Pflicht, einen Beitrag zu leisten, bedeutet gerade nicht, sich unter allen Umständen auf diese Prinzipien zu verpflichten, sondern nur, dass man sich der Schutzverpflichtung nicht unter allen Umständen entzieht.

Es fehlt eine ausdrückliche Bestätigung des Vorrangs der UNO- Charta als höchstem internationalen Vertrag (Art. 103 UNO-Charta) im EU-Primärrecht, was in der Form möglich wäre, dass die EU sich auf die Verpflichtungen ihrer Mitgliedsstaaten auf die UNO- Charta verpflichten würde. Eine direkte Verpflichtung der EU auf die UNO- Charta wäre nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin rechtlich nicht möglich, da die Uno nach Art. 4 Nr. 1 ihrer Charta nur Staaten aufnimmt.

Nach dem Protokoll über den Beitritt der EU zur EMRK des Europarats würde die EMRK damit für die gesamte EU verbindlich; die EMRK wäre formell kein Teil des EU-Primärrechts, da Art. 6 EUV nur die EU-Grundrechtecharta und die Erläuterungen ausdrücklich auf die gleiche Stufe heben würde wie die Verträge der EU. Über Art. 52 Abs. 3 der EU-Grundrechtecharta wären jedoch sämtliche Grundrechte der EU, welchen ein vergleichbares Menschenrecht der EMRK gegenüber steht, entsprechend dem Wortlaut der EMRK auszulegen.

Es ist hervorzuheben, dass die EU-Ebene selbst sich nicht explizit auch auf die zum zwingenden Völkerrecht (“ius cogens”) gehörenden Menschenrechte der Vereinten Nationen verpflichten würde, welche weit mehr bürgerliche und soziale Rechte als die EMRK enthalten.

Die lückenhafte EMRK würde durch den “Vertrag von Lissabon” über die Menschenrechte der Uno gehoben. Bereits durch die Verpflichtung der EU-Ebene auf die EMRK, nicht aber ausdrücklich auf die Menschenrechte der Uno, würde der Vorranganspruch der zum “ius cogens” gehörenden UNO- Menschenrechte aus Art. 28 AEMR angegriffen. Dem lässt sich nur dadurch hinreichend gegensteuern, dass die universellen Menschenrechte über das IntVG in den Prüfungsmaßstab einer verpflichtend vom Bundestag durchzuführenden Verfassungsidentitätsprüfung einbezogen werden.

Ohne eine verpflichtende Verfassungsidentitätsprüfung durch den Bundestag, welche auch die universellen Menschenrechte und das Supranationalisierungsverbot der GASP in den Prüfungsmaßstab mit einbeziehen müsste, wäre darüber hinaus das grundrechtsgleiche Wahlrecht aus Art. 38 GG verletzt, weil das Wahlrecht in seinem Sinn entleert würde, wenn nicht sichergestellt wäre, dass die vom Volk gewählten Abgeordneten nach bestem Wissen und Gewissen Eingriffe in die Verfassungsidentität verhindern. Die universellen Menschenrechte selbst sind zwar formell nicht Teil der Verfassungsidentität, wohl aber gem. Art. 1 Abs. 2 GG deren Unveräußerlichkeit dem Rang nach.

Da die Demokratie vom Volk ausgeht (Art. 20 Abs. 1 GG) , ist den Abgeordneten untersagt (Rn. 216 des ersten Lissabon-Urteils), in die Verfassungsidentität einzugreifen, welche nur dem Volk zusteht. Damit ist nicht nur ein Eingriff durch aktives Handeln, sondern auch durch ein passives Geschehenlassen, welches auch in einem bewussten Nicht-Wissen-Wollen bestehen könnte, untersagt. Schließlich besitzt gem. Rn. 218 des ersten Lissabon-Urteils die Verfassung der Deutschen “gerade auch seit Bestehen der Vereinten Nationen einen universellen Grund”, “der durch positives Recht nicht veränderbar sein soll.”

Im Falle der Ratifizierung des “Vertrags von Lissabon” wäre die Beschwerdeführerin selbst, gegenwärtig (im Zeitpunkt der Ratifizierung) und unmittelbar (ohne weiteren Rechtsakt) in sämtlichen universellen Menschenrechten sowie im grundrechtsgleichen Wahlrecht aus Art. 38 GG verletzt, wenn nicht zuvor im IntVG eine verpflichtende Verfassungsidentitätsprüfung mit Einbeziehung der universellen Menschenrechte und des Supranationalisierungsverbots der GASP in den Prüfungsmaßstab, das Erfordernis eines vorherigen konstitutiven Zustimmungsgesetzes für alle Verträge der EU mit der UNO und die Verpflichtung Deutschlands zur Ablehnung jeglicher Abwägung der UNO- Charta oder der universellen Menschenrechte mit der GASP aufgenommen würden

V.9 Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Herausforderung der universellen Menschenrechte und der grundrechtsgleichen Rechte

Art. 52 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta würde alle Grundrechte der EU vom Rang zwischen dem Primärrecht und dem Sekundärrecht einordnen, sie also unterhalb von EUV und AEUV stellen.

Damit würden auch die EU-Grundfreiheiten des EGV (bzw. AEUV) Kapitalverkehrsfreiheit, Warenverkehrsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit über alle Menschenrechte der EU erhoben. Die Menschenrechte müssten Rücksicht auf den Kern der wirtschaftlichen Grundfreiheiten der EU nehmen, nicht mehr umgekehrt.

Auf Grund von Art. 52 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta hat der EUGH, aus Sicht des EU- Primärrechts vollkommen zutreffend, in den Urteilen zu den Rechtssachen “Viking” (C-438/05) und “Laval” (C- 341/05) die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV) höher gewichtet als das Streikrecht.

Durch das erste Lissabon-Urteil hat sich die Rechtslage hierzu, zumindest für Deutschland, erheblich gewandelt, da nun klargestellt ist, dass alle Grundrechte des GG, also auch das Streikrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG, über dem gesamten EU-Recht stehen. Auch wenn der EUGH, vollkommen zurecht, die wirtschaftlichen Grundfreiheiten der EU über die Grundrechte der EU stellt, kann dies in Deutschland jederzeit durch Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht auf das Streikrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG wieder korrigiert werden.

Aber auch nach dem ersten Lissabon-Urteil bleibt das Erfordernis bestehen, auch die universellen Menschenrechte gegenüber den wirtschaftlichen Grundfreiheiten der EU abzusichern. Es geht darum, dass die Freiheit des Kapitalverkehrs, der Waren, der Dienstleistungen und der Arbeitnehmrfreizügigkeit in einer mit den universellen Menschenrechten vereinbaren Weise realisiert werden.

Da die EU nicht selbst an die universellen Menschenrechte gebunden ist, kann diese praktische Konkordanz von universellen Menschenrechten (Völkerrechtsfreundlichkeit) und wirtschaftlichen Grundfreiheiten (Europarechtsfreundlichkeit) nur auf der nationalen Ebene sichergestellt werden.

Das würde die Beschwerdeführerin vor allem insoweit betreffen, wie gesundheitsgefährdende (z. B. radioaktiv bestrahlte, genmanipulierte oder mit überhöhten Pestizidmengen belastete) Lebensmittel in deutsche Supermarktregale unter Berufung auf die Warenverkehrsfreiheit gelangen könnten, obwohl solche Lebensmittel mit den Wesensgehalten der Menschenrechte auf Nahrung (Art. 11 UNO- Sozialpakt i. V. m. Art. 8 Allgem. Kommentar Nr. 12 zum UNO- Sozialpakt) und auf Gesundheit (Art. 12 UNO- Sozialpakt, Allgem. Kommentar Nr. 14 zum UNO- Sozialpakt) kollidieren.

Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Art. 2 Abs. 1 UNO- Sozialpakt die fortschreitende (“nach und nach”) Verbesserung der Umsetzung der Rechte aus dem Sozialpakt normiert. Man könnte Art. 2 Abs. 1 UNO- Sozialpakt auch als eine “soziale Fortschrittsklausel mit Rückschrittsverbot” bezeichnen.

Darüber hinaus enthält Art. 4 UNO- Sozialpakt auch eine Wesensgehaltsgarantie, weil alle Einschränkung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Menschenrechte der UNO mit der Natur dieser Rechte vereinbar sein müssen.

Darüber hinaus würden die wirtschaftlichen Grundfreiheiten auch, im Falle des Staatsformwechsels zum “Gewährleistungsstaat” mit dem grundrechtsgleichen Recht auf den Funktionsvorbehalt (Art. 33 Abs. 4 GG) kollidieren. Wie im Abschnitt zum “Gewährleistungsstaat” umfassend erläutert wird, würde der Erosionsmechanismus zwar über Art. 18 AEUV laufen, aber die wirtschaftlichen Grundfreiheiten kämen dann ins Spiel, wenn ein Staat Aufgaben wieder zurückholen wollte, und diese dann auch Firmen aus dem EU-Ausland, welche sich auf die Dienstleistungs- und die Niederlassungsfreiheit berufen könnten, wieder wegnehmen müsste.

Nach dem Maastricht-Urteil (BVerfGE 89, 155) und dem Urteil zum EU-Haftbefehl (2 BvR 2236/ 04) hingegen dürfen auch Zustimmungsgesetze zu internationalen Verträgen die Grundrechte des Grundgesetzes nicht in ihrem Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG) beeinträchtigen und müssen verhältnismäßig sein (2 BvR 2236/04, Leitsätze 2+3). Darüber hinaus dürfen nach diesen beiden Urteilen, im Urteil zum EU-Haftbefehl (2 BvR 2236/04) sogar nach dessen Leitsätzen, internationale Verträge in Deutschland nicht tiefer in die Grundrechte des Grundgesetzes eingreifen, als dies auch den Gesetzen in Deutschland möglich ist. Das muss auch zum Schutz der grundrechtsgleichen Rechte gelten. Außerdem ist auf nationaler Ebene, da hier alle internationalen Verpflichtungen Deutschlands zusammentreffen, sicherzustellen, dass die Menschenrechte aus internationaler Rechtsquelle, auf die sich Deutschland verpflichtet hat (Völkerrechtsfreundlichkeit des GG), nicht durch anderes internationales Recht ausgehebelt werden.

Dafür ist es erforderlich, im IntVG eine verpflichtende Verfassungsidentitätsprüfung durch den Bundestag zu verankern, welche ausdrücklich auch den Schutz der grundrechtsgleichen Rechte und der universellen Menschenrechte gegenüber dem EU-Recht beinhalten muss. Nur dadurch wird hinreichend sichergestellt, dass sie nicht durch wirtschaftlichen Grundfreiheiten ausgehebelt werden, sondern dass die wirtschaftlichen Grundfreiheiten auf eine Weise verwirklicht werden müssen, die mit den grundrechtsgleichen Rechten und den universellen Menschenrechten im Einklang steht.

Ohne eine verpflichtende Verfassungsidentitätsprüfung durch den Bundestag, welche auch die grundrechtsgleichen Rechte und die universellen Menschenrechte mit umfassen würde, wäre darüber hinaus das grundrechtsgleiche Wahlrecht aus Art. 38 GG verletzt, weil das Wahlrecht in seinem Sinn entleert würde, wenn nicht sichergestellt wäre, dass die vom Volk gewählten Abgeordneten nach bestem Wissen und Gewissen Eingriffe in die Verfassungsidentität verhindern. Die universellen Menschenrechte selbst sind zwar formell nicht Teil der Verfassungsidentität, wohl aber gem. Art. 1 Abs. 2 GG deren Unveräußerlichkeit dem Rang nach. Und die grundrechtsgleichen Rechte stehen vom Rang den Grundrechten gleich, wie in Abschnitt

V.3.1 dieser Verfassungsbeschwerden dargelegt. Da die Demokratie vom Volk ausgeht (Art. 20 Abs. 1 GG) , ist den Abgeordneten untersagt (Rn. 216 des ersten Lissabon-Urteils), in die Verfassungsidentität einzugreifen, welche nur dem Volk zusteht. Damit ist nicht nur ein Eingriff durch aktives Handeln, sondern auch durch ein passives Geschehenlassen, welches auch in einem bewussten Nicht-Wissen-Wollen bestehen könnte, untersagt. Schließlich besitzt gem. Rn. 218 des ersten Lissabon-Urteils die Verfassung der Deutschen “gerade auch seit Bestehen der Vereinten Nationen einen universellen Grund”, “der durch positives Recht nicht veränderbar sein soll.”

Im Falle der Ratifizierung des “Vertrags von Lissabon” wäre die Beschwerdeführerin selbst, gegenwärtig (im Zeitpunkt der Ratifizierung) und unmittelbar (ohne weiteren Rechtsakt) in sämtlichen universellen Menschenrechten sowie in allen grundrechtsgleichen Rechten, darunter vor allem im grundrechtsgleichen Wahlrecht aus Art. 38 GG, verletzt, wenn nicht zuvor im IntVG eine verpflichtende Verfassungsidentitätsprüfung mit Einbeziehung der grundrechtsgleichen Rechte und der universellen Menschenrechte in den Prüfungsmaßstab aufgenommen würde.

V.10 Eingrenzung der Überhöhung des geistigen Eigentums auch über die Begleitgesetze erforderlich

Die in Art. 118 AEUV vorgesehene EU- weit einheitliche und zentralisierte Regelung von Inhalt und Reichweite des geistigen Eigentums,von dessen Genehmigung, Koordinierung und Überwachung kollidiert insoweit mit zahlreichen Vorschriften das Grundgesetzes und der UNO- Menshenrechte, wie sich dies auf die Patentierung von Leben sowie auf den landwirtschaftlichen Sortenschutz bezieht.

Das Gemeinschaftspatent aus Art. 118 AEUV steht gem. Art. 52 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta über allen Grundrechten der EU. Den hieraus resultierende Gefahren für die Grundrechte und Strukturprinzipien des GG ist das Bundesverfassungsgericht im ersten Lissabon-Urteil entgegengetreten durch die Entscheidung, dass die Verfassungsidentität des GG über dem EU-Recht steht (Leitsatz 3), dass das Bundesverfassungsgericht für die Verfassungsidentitätsprüfung zuständig bleibt (Leitsatz 4), dass das Bundesverfassungsgericht das Letztentscheidungsrecht hat (Rn. 299), und dass alle Grundrechte und Strukturprinzipien des GG am Schutz der Verfassungsidentität teilhaben (Rn. 217).

Den Kollisionen der Überhöhung des geistigen Eigentums mit den grundrechtsgleichen Rechten und vor allem mit den universellen Menschenrechten wurde damit noch nicht Rechnung getragen. Den Schutz des geistigen Eigentums über alle Menschenrechte der Vereinten Nationen zu stellen, würde deren Unteilbarkeit verletzen (Präambel Allgemeine Erklärung der Uno-Menschenrechte, Art. 5 Erklärung von Wien der UNO- Vollversammlung vom 12.07.1993 (Az. A/CONF. 157/ 23), Art. 6 Abs. 2 Resolution 41/128 der UNO- Vollversammlung über das Recht auf Entwicklung, Präambel der Resolution 48/141 der UNO- Vollversammlung zur Schaffung des Amtes der Hochkommissarin für Menschenrechte).

Bisher ist das geistige Eigentum in Deutschland, wie alles andere Eigentum auch, über Art. 14 GG geschützt. Daneben ist es, gleichermaßen wie alle anderen Eigentumsrechte, geschützt durch Art. 17 AEMR. Eigene menschenrechtliche Schutzvorschriften für das geistige Eigentum finden sich in Art. 27 Nr. 2 AEMR, Art. 15 Abs. 1 c UNO- Sozialpakt und Art. 17 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta.

In keinem dieser Menschenrechtsdokumente steht das geistige Eigentum über den anderen Menschenrechten.

Aus christlicher Sicht ist die Überhöhung des Menschenrechts auf geistiges Eigentum bedenklich.

Papst Johannes Paul II und Papst Benedikt XVI haben am 01.01.2003 bzw. am 18.04.2008 die Unteilbarkeit der Menschenrechte bekräftigt. Johannes Paul II zitierte Johannes XXIII am 01.01. 2003 hinsichtlich der Liebe als Säule des “universalen Gemeinwohls”:

“Die Liebe wird der Sauerteig des Friedens sein, wenn die Menschen die Nöte und Bedürfnisse der anderen als ihre eigenen empfinden und ihren Besitz, angefangen bei den geistigen Werten, mit den anderen teilen.”

Das Teilen der geistigen Werte bezieht sich nach Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin auch auf das allen Menschen gleichermaßen zukommende Recht, ihren Anteil an der Nutzung und Bewahrung der Schöpfung zu leisten bzw. zu haben. Damit ist die Überhöhung des geistigen Eigentums unvereinbar. Die neue Verfassung das katholischen Venezuela aus dem Jahr 1999 trägt dem Rechnung, indem sie in Art. 127 S. 4 bestimmt: “Das Genom der Lebewesen darf nicht patentiert werden, und das Gesetz, das Bezug auf die bioethischen Prinzipien nimmt, trifft Regelungen auf diesem Gebiet.”

Das Teilen auch der geistigen materiellen Werte ist nach Rechtaufassung der Beschwerdeführerin so tief im Christentum verankert, dass es zu den kulturellen Vorverständnissen im Sinne von Leitsatz 3 des ersten Lissabon-Urteils gehört, das geistige Eigentum nicht über alle anderen Menschenrechte zu stellen.

Welche Auswirkungen die Überhöhung der Durchsetzung des geistigen Eigentums über die der anderen Menschenrechte hätte, wird im folgenden verdeutlicht am Beispiel eines EU-Richtlinienentwurfs, welchem Art. 118 AEUV eine Grundlage im EU-Primärrecht geben würde. Gegenstand dieser Verfassungsbeschwerden kann selbstverständlich kein Richtlinienentwurf sein. Dieses Beispiel ist gleichwohl erforderlich für das Verständnis der Tragweite von Art. 118 AEUV in Zusammenhang mit Patenten auf Leben.

Art. 3 des Richtlinienentwurfs zur Strafbarkeit aller Verletzungen geistigen Eigentums (Az. 2005/0127 (COD), vorhergehend KOM(2006) 168)) will alle Mitgliedstaaten verpflichten, jede vorsätzlich begangene Verletzung geistigen Eigentums, den Versuch einer solchen Rechtsverletzung sowie die Beihilfe und Anstiftung strafbar zu machen. Dazu fordert Art. 5 Abs. 2 des Richtlinienentwurfs Haftstrafen bis zu 4 Jahren und Geldstrafen bis zu 100.000,- €, bei gewerbsmäßigem Umfang sogar bis zu 300.000,- €. Bei gewerbsmäßigem Umfang würde dieser Richtlinienentwurf außerdem zu Maßnahmen wie der Beschlagnahmung der Betriebsmittel und der Erträge aus der Verletzung geistigen Eigentums sowie zur Untersagung der betrieblichen Tätigkeit führen. Der Entwurf nimmt keinerlei Rücksicht darauf, aus welchen Gründen jemand es für geboten hält, Patente auf Leben oder Sortenschutzvorschriften zu verletzen. Nach Art. 8 des Richtlinienentwurfs müsste der Staat jegliche Verletzung geistigen Eigentums verfolgen, sogar solche, welche vom Rechteinhaber absichtlich stillschweigend geduldet werden. Art. 7 des Richtlinienentwurfs würde zu einer Teilprivatisierung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens in Zusammenhang mit behaupteten Verletzungen geistigen Eigentums führen durch die Einrichtung gemeinsamer Ermittlungsgruppen von Anzeigeerstattern und Polizei.Bereits dieses kurze Beispiel zeigt die gewaltigen Gefahren für Grund- und Menschenrechte sowie für den Rechtsstaat, welche in der Überhöhung des geistigen Eigentums liegen.

Das erste Lissabon-Urteil hat die Gefahren bzgl. der Überhöhung des geistigen Eigentums schon deutlich eingegrenzt. Durch den Vorrang der Grundrechte des Grundgesetzes ist die Gefahr der Aushöhlung des Eigentums an körperlichen Gegenständen wie vor allem Saatgut und Lebensmitteln deutlich verringert worden, da im Grundgesetz das Eigentum (Art. 14 GG) an körperlichen Gegenständen mangels ausdrücklicher Spaltung gleichrangig ist mit dem geistigen Eigentum. Auch die Gefahr von Verfolgung auf Grund religiös motivierter Ablehnung von Patenten auf Leben ist durch das erste Lissabon-Urteil erheblich verringert worden, da die Gewissensfreiheit und die Religionsfreiheit in Art. 4 GG sowie die Meinungsfreiheit in Art. 5 GG als Grundrechte verankert und alle nach dem ersten Lissabon-Urteil vorrangig vor dem EU-Recht sind.

Außerdem hat das erste Lissabon-Urteil der Überhöhung des geistigen Eigentums Grenzen dadurch gesetzt, dass es in Rn. 358 klarstellt, dass das Strafrecht in seinem Kernbestand “nicht als rechtstechnisches Instrument zur Effektuierung einer internationalen Zusammenarbeit” dient, “sondern steht für die besonders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum”. Auch die Gefahr, dass sich die Überhöhung des geistigen Eigentums in maßlosen Strafvorschriften auf Kosten anderer Grundrechte auswirkt, ist damit zumindest für Deutschland erheblich verringert worden.

Das Beispiel des o. g. EU-Richtlinienentwurfs mit einer funktionellen Teilprivatisierung der Polizeiarbeit auf Grundlage des geistigen Eigentums zeigt aber auch, wie sehr es geboten ist, auch die grundrechtsgleichen Rechte des Grundgesetzes als Grenzen für die Umsetzung des EU-Rechts auf nationaler Ebene anzuwenden, denn der Funktionsvorbehalt aus Art. 33 Abs. 4 GG sichert zuverlässig, dass auch unter Berufung auf das geistige Eigentum das polizeiliche Gewaltmonopol nicht ausgehebelt werden darf. Das erste Lissabon-Urteil hat in Rn. 249 und 252 den Schutz des Gewaltmonopols ausdrücklich bekräftigt, und Rn. 249 zeigt die Verbindung mit Leitsatz 3 des ersten Lissabon- Urteils auf.

Ebenso unentbehrlich ist der Schutz der universellen Menschenrechte vor der Überhöhung des geistigen Eigentums, weil dessen Überhöhung vor allem die Menschenrechte auf Nahrung (Art. 11 UNO-Sozialpakt) und auf Gesundheit (Art. 12 UNO- Sozialpakt) gefährdet. Diese beiden Menschenrechte sind für Deutschland ausschließlich über die universellen Menschenrechte der Vereinten Nationen normiert und damit auch über das GG nicht hinreichend auffangbar. Wenn das geistige Eigentum über die Rechte auf Nahrung und auf Gesundheit gestellt wird, ermöglicht das solch hohe Preise auf patent- bzw. sortengeschütztes Saatgut, dass die Versorgung mit einer ausreichenden Menge an gesunden Lebensmitteln gefährdet würde. Entsprechendes würde für patentgeschützte Medikamente gelten. Hinzu kommt, dass die Patentierung von Leben der entscheidende wirtschaftliche Anreiz zur Genmanipulation von Nahrungsmitteln ist, sodass zum Schutz gesunder Nahrung die Rechte auf Gesundheit und auf Nahrung als Grenzen der Umsetzung des EU-Rechts auf nationaler Ebene unentbehrlich sind.

Auch das grundrechtsgleiche Wahlrecht aus Art. 38 GG macht es erforderlich, die Kompetenz der demokratisch legitimierten Bundestagsabgeordneten zum Schutz der grundrechtsgleichen Rechte sowie der universellen Menschenrechte auch gegenüber dem EU-Recht zu wahren, denn es würde der über das Wahlrecht vergebenen demokratischen Legitimation zuwiderlaufen, wenn der Schutz der sensibelsten Rechte der Wähler nicht hinreichend sichergestellt würde. Darüber hinaus hat das Recht auf Nahrung (Art. 11 Uno-Sozialpakt) eine direkte inhaltliche Verbindung zur unantastbaren Demokratie (Art. 20 Abs. 1 GG). Denn zum Wesensgehalt des Rechts auf Nahrung gehört nach Tz. 8 des Allgemeinen Kommentars Nr. 12 zum UNO- Sozialpakt auch, dass niemandem kulturell nicht akzeptierte Nahrung aufgezwungen werden darf. Eine deutliche Mehrheit der Deutschen lehnt den aufgezwungen Verzehr genveränderter Nahrungsmittel ab; das ist ein klarer Auftrag an den Gesetzgeber, besonders die Rechtsgrundlagen zu schützen, welche geeignet sind, diesem Auftrag einer klaren Mehrheit des Volkes nachzukommen. Die Menschenrechte der Vereinten Nationen sind, laut Rn. 218 des ersten Lissabon-Urteils, der universelle Grund für die Ewigkeitsgarantie von Art. 79 Abs. 3 GG. Dies zeigt im Umkehrschluss die Priorität, welche auch auf formeller Ebene der Schutz der universellen Menschenrechte erfordert.

Die Überhöhung des geistigen Eigentums innerhalb des EU-Rechts hätte außerdem schwerwiegende Folgen im Falle eines Staatsformwechsels zum “Gewährleistungsstaat”. Denn wer sich das Wissen, wie man Verwaltung, Militär, Polizei, Gerichtsbarkeit und die Erstellung von Gesetzentwürfen privat organisiert, patentieren oder urheberrechtlich schützen lassen würde, könnte damit Monopolpreise für die Lizenzvergabe von allen anderen Anbietern hoheitlicher Dienstleistungen verlangen, die natürlich auf die Steuerzahler umgelegt würden. Und im Falle der Umsetzung des oben als Beispiel für mögliche EU- sekundärrechtliche Folgen der Überhöhung des geistigen Eigentums erörterten EU-Richtlinienentwurfs könnte solch ein Rechteinhaber sogar noch zusammen mit der ebenfalls privat betriebenen Polizei gegenüber den anderen Anbietern hoheitlicher Dienstleistungen ermitteln.

Daher ist es erforderlich, eine verpflichtende Verfassungidentitätsprüfung durch Bundestag und Bundesrat in das IntVG aufzunehmen, welche ausdrücklich auch die Überprüfung der EU-Rechtsakte zum geistigen Eigentum umfassen muss. In den Prüfungsmaßstab sind ausdrücklich neben den Strukturprinzipien und Grundrechten des GG auch die universellen Menschenrechte und die grundrechtsgleichen Rechte einzubeziehen.

Die Beschwerdeführerin würde bei Rafifizierung des “Vertrags von Lissabon” ohne vorherige Änderung der Begleitgesetze zum Schutz der Grundrechte, Strukturprinzipien, grundrechtsgleichen Rechte und universellen Menschenrechte selbst, unmittelbar (ohne weitere Rechtsakte) und gegenwärtig (sofort) betroffen, wie der Schutz ihrer Rechte vor der Überhöhung des geistigen Eigentums formell-rechtlich auf der einfachgesetzlichen Ebene nicht hinreichend gesichert wäre.

Die verpflichtende Verfassungsidentitätsprüfung unter Einbeziehung der o. g. Rechte auch durch das Parlament und unter ausdrücklicher Überprüfung der EU-Rechtsakte zum geistigen Eigentum ist darüber hinaus erforderlich, weil die über das grundrechtsgleiche Wahlrecht (Art. 38 GG) den Parlamentariern vermittelte Befugnis und moralische Verpflichtung zum Schutz dieser Rechte auch nicht durch die Überhöhung des geistigen Eigentums ausgehebelt werden darf. Darüber hinaus ist das Wahlrecht aus Art. 38 GG selbst ein grundrechtsgleiches Recht.

“ ' ...Privateigentum bei vollständiger Konkurrenz bedeutet somit:

a) Verfügungsmacht und Verfügungsfreiheit im Dienste der Volkswirtschaft;

b) Ohnmacht, die Verfügungsmacht und Freiheit der anderen Eigentümer zu Lasten der Gesamtheit

einzuschränken.

Im Zustande vollständiger Konkurrenz besteht zwischen den Privateigentümern der Betriebe Gleichgewicht wirtschaftlicher Machtverteilung. '

Das gilt aber nur, insoweit der Charakter des Privateigentums wirklich wettbewerbskonform ist. Es gilt nicht, wenn angebots- oder nachfragemonopolistische Gebilde in all ihren verschiedenen Ausprägungen entstehen. Denn solche Machtgebilde verfälschen den volkswirtschaftlichen Sinn des Privateigentums und führen als den Intentionen des Gesamtsystems widersprechend zu schweren Schädigungen des Wirtschaftsprozesses. Dann wirkt das Privateigentum in der Tat unsozial.”

(Walter Eucken “Grundsätze der Wirtschaftspolitik”, Mohr Siebeck – Verlag, S. 274, dieser unter Zitierung der Dissertation “Die Wirtschaftsordnung und die ökonomische Bedeutung des Privateigentums” von F. Spiegelhalter, Freiburg 1949).

“Diese Gefährdung läuft dabei immer auf folgendes hinaus: Je größer ein Wesen ist, desto mehr Autarkie will es besitzen. Es will immer weniger abhängig und umsomehr selbst eine Art Gott sein, der niemandes anderen bedarf. Hier entsteht dieser Wille zur Unbedürftigkeit, den wir Hochmut nennen. Im geistigen Wesen steckt immer eine Versuchung. Sie besteht in einer Art Verkehrung, daß man nämlich die Liebe als Abhängigkeit ansieht und nicht mehr als das Geschenk, das mich überhaupt erst lebend macht. Daß man diese Beziehung nicht mehr als Leben stiftend betrachtet, sondern als Begrenzung der eigenen Unabhängigkeit.” (Seine Heiligkeit Papst Benedikt XVI., damals Kardinal Joseph Ratzinger (zur Frage, wie die Versuchung des Menschen aussehe) in “Gott und die Welt”, S. 403, Gespräche mit Peter Seewald, Deutsche Verlagsanstalt München)

V.11 EU-Austritt als ultima ratio

Deutschland ist nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG verpflichtet, “zur Verwirklichung eines vereinten Europas” mitzuwirken “bei der Entwicklung” der “Europäischen Union”, welche “demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet”. Diese grundsätzliche Verpflichtung Deutschlands zur EU-Mitgliedschaft hat das Bundesverfassungsgericht im ersten Lissabon- Urteil durch Feststellung des Staatsauftrags “europäische Integration” (Rn. 219, 224 und 225) klargestellt.

Gleichzeitig besteht für Deutschland auf Grund seiner Souveränität (Art. 2 Abs. 1 UNO- Charta) und seiner Eigenschaft als existentieller Staat (Art. 20 Abs. 1 GG) das Recht, aus der EU auch wieder auszutreten (Rn. 233, 299 und 329 des ersten Lissabon-Urteils). Dieses darf auf Grund des Staatsauftrags “europäische Integration” (Präambel und Art. 23 Abs. 1 GG) aber nur dann in Anspruch genommen werden, wenn die Sicherung der Verfassungsidentität und des Staatsauftrags Frieden gegenüber dem EU-Recht nicht mehr sichergestellt wäre. Das bedeutet, dass selbst die Einfügung von mit dem GG unvereinbaren Vorschriften in das EU-Recht solange nicht zum EU-Austritt führen muss und vermutlich auch nicht führen kann, wie sich dies noch wirksam durch die Begrenzung der Umsetzung des EU-Rechts auf der nationalen Ebene abfangen lässt.

Eine Verpflichtung zum EU-Austritt wäre dann gegeben, wenn die EU sich zu einem Angriffsbündnis entwickeln würde. Durch die Einführung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ist die EU auch zu einem Sicherheitsbündnis geworden. Die Einordnung Deutschlands in internationale Sicherheitsbündnisse ist nach Art. 24 Abs. 2 GG zugunsten solcher Bündnisse zulässig, welche auf die “Wahrung des Friedens” ausgerichtet sind. Nur die Beschränkungen deutscher Hoheitsrechte sind in die-sem Rahmen zulässig, welche “eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.” Nach dem Tornado-Urteil (2 BvE 2/07) ist nicht nur der Beitritt zu unfriedlichen Bündnissen untersagt, sondern auch “die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 GG entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich untersagt und kann deshalb nicht” von einem Zustimmungsgesetz gedeckt sein. “Damit ist das Gebot der Friedenswahrung stets zwingender Bestandteil der Vertragsgrundlage eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit; die friedenswahrende Zwecksetzung ist nicht nur einmalige Voraussetzung des Beitritts, sondern fortdauernde Voraussetzung des Verbleibs Deutschlands in dem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Diente ein solches System in seiner generellen Ausrichtung nicht mehr der Wahrung des Friedens im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GG, wäre dadurch auch die verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Einordnung in ein entsprechendes militärisches Bündnissystem überschritten.”

Der Möglichkeit zur Umwandlung der EU in ein Angriffsbündnis ist durch erste Lissabon-Urteil durch das Supranationalisierungsverbot der GASP (Rn. 255) materiell-rechtlich entgegengetreten worden, dies bedarf allerdings noch einer hinreichenden formell- rechtlichen Absicherung im IntVG, damit Situationen, die zum EU-Austritt zwingen können, weil nur noch so die Verfassungsidentität und der Staatsauftrag Frieden zu sichern wären, nicht auftreten können. Ohne eine hinreichende auch formell-rechtliche Absicherung wären die Gefahren von unbestimmten Rechtsbegriffen wie “vom Menschen verursachte Katastrophe” (Art. 222 AEUV), “gescheiterte Staaten” (Art. 42 EUV i. V. m. der EU-Sicherheitsstrategie) und “Krise” (Art. 43 EUV) sowie der Instrumentalisierbarkeit der Werte (Art. 2 EUV) der EU für militärische Missionen in aller Welt, sowie die Abwägbarkeit der UNO- Charta und der universellen Menschenrechte nach Art. 21 EUV mit beliebig selbstdefinierten “strategischen Interessen” nicht auf ein verfassungskonformes Maß einzugrenzen. Das ist bisher im IntVG noch nicht erfolgt. Auf die Abschnitte dieser Verfassungsbeschwerden zur Solidaritätsklausel, zum wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt und zum Schutz derMenschenrechte und der Charta der Vereinten Nationen gegenüber dem EU-Recht auf der nationalen Ebene wird insoweit verwiesen.

Wie notwendig z. B. die ausdrückliche Absicherung des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts gegenüber allen Militäreinsätzen der EU ist, zeigt auch folgender Ausschnitt aus der Stellungnahme (A-Drs. Nr. 16(21)910) von Prof. Dr. Murswiek auf der 90. Sitzung des Europaausschusses des Bundestags vom 26.+27.08.2009:

“Für die Regelung eines Parlamentsvorbehalts für Beschlüsse über Militäreinsätze nach Art. 43 EUV spricht außerdem, daß durch das Integrationsverantwortungsgesetz jetzt alle anderen Fälle, in denen der Vertreter des Rates nicht ohne parlamentarische Zustimmung handeln darf, ausdrücklich geregelt sind. Die Unterlassung der Regelung für die Entscheidung über Bundeswehreinsätze im Rahmen von europäischen Militärmissionen könnte daher zu dem Umkehrschluß verleiten, daß dort eine Zustimmung des Bundestages nicht erforderlich sei.”

Art. 24 Abs. 1 GG gestattet Deutschland die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und dafür auch Hoheitsrechte auf diese zu übertragen. Nach Leitsatz 2 des Maastricht-Urteils (BVerfG 89,155) ist das Recht Deutschlands, Mitglied in einer supranational organisierten zwischenstaatlichen Gemeinschaft wie der EU zu sein, davon abhängig, dass “eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert ist.” Genau wäre mit dem Staatsformwechsel zum “Gewährleistungsstaat” aber nicht mehr gegeben. Die demokratische Legitimationskette im Sinne von Art. 4 Abs. 2 lit. a BVerfSchG würde durchtrennt, weil die Aufsicht der demokratisch legitimierten Politik (Art. 38 GG) über die mit hoheitlicher Macht beliehenen Privaten nicht mehr sichergestellt wäre. Dabei kann es keinen Unterschied machen, dass es beim Maastricht-Urteils es darum ging, wieviel hoheitliche Macht auf die EU übertragen werden, während es, was zum Zeitpunkt des Maastricht-Urteils den damaligen Verfassungsrichtern vermutlich unvorstellbar gewesen wäre, beim “Gewährleistungsstaat” darum geht, ob und inwieweit Deutschland sich über das EU-Recht darauf verplichten darf, hoheitliche Macht an Privatfirmen wegzugeben. Denn es geht damals wie heute nicht darum, der europäischen Integration Grenzen zu setzen, sondern darum, die Rechtsgüter, welche noch höherrangiger sind als die europäische Integration, zu schützen. Hinzu kommt, dass ja gerade der “Gewährleistungsstaat”, wie im Abschnitt zur europäischen Integration erläutert, mit diesem Staatsauftrag unvereinbar ist. Deutschland wäre, wenn sich auf einem anderen rechtlichen Wege der Staatsformwechsel zum “Gewährleistungsstaat” nicht mehr verhindern ließe, zum EU-Austritt gezwungen. Das wird umso deutlicher daran, dass ein Austritt de- facto nach einem solchen Staatsformwechsel nach einer gewissen Zeit gar nicht mehr möglich wäre, weil man, außer vielleicht noch im Bereich der Legislative, nicht mehr genug eigene staatliche Beschäftige hätte, um den Staat wieder selbst betreiben zu können. Dass mit hoheitlicher Macht beliehene Private mehrheitlich einen EU-Austritt mitmachen würden, welcher sie ihrer Geschäftsgrundlage berauben würde, ist äußerst unwahrscheinlich. Das zeigen auch die Zustände in Kolumbien.

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