Marina Garanin

Das Augusterlebnis
Ernte! Du fröhliches Sommerbehagen,Die Sonne besticht uns mit gleißendem Schein.Der Garten erblüht und gefüllt ist der WagenMit Äpfeln, Tomaten, Gemüse und Wein.
Soweit auf dem Land. Doch seht da, in den Städten:Euphorische Jungen in jubelnder Tracht!Mit Helmen bekränzt schärfen sie Bajonetten;Was hast du, August, mit den Menschen gemacht!
Die Hymnen des Jubels, der Sang der Entzückten,Erfüllen die Städte mit gellendem Schall.Da laufen in Märschen die Siegesverrückten,Das Licht des August scheint auf heißes Metall.
Was ist schon das Ich? Auf zur mutigen Masse!Versammelt, verbündet, verbrüdert – ein Volk!Dass keiner die mutige Masse verlasse!Versager, wer feigherzig trotzt dem Erfolg!
Zum Bahnhof! Wir fahren! Ein Prost! Hoch die Krüge!In sonnigem Licht scheint der sichere Sieg!Gefüllt ist der Steig und gefüllt sind die ZügeVon Männern und Knaben, begeistert von Krieg.
Und wie im Auguste die reifsten der FrüchteVon selber, in Fülle, hinfallen vom Ast,So taumelt das Volk in verworrener DichteWie wandelnd im Schlafe zu Feld und Morast.
Doch freilich: nicht allen scheint kämpfen geboten,Es quält sie die Angst um Vermögen und Herd;Doch sieht man bereits die „Hurrapatrioten“In Gasmaskerade und Säbel zu Pferd.
Ein Nebel von Gift hat die Sonne verdunkelt,Die Blume fällt welk vom Maschinengewehr.Das einzige Licht, das im Elend noch funkelt,Ist fliegendes Feuer vom feindlichen Heer.
Ein Jahr und ein Jahr und zwei Jahr’ sind verglommen,Erloschen ist längst der unsägliche Wahn.War’s Irrlicht, das damals die Welt überkommen,War’s Irrlicht, das ihnen den Krieg angetan?
Doch war es viel mehr, als ein Mensch zu bewerten,Ja, mehr als Geschichte zu schildern gewusst.Vielleicht war sogar – so vermuten Experten –Ein Mythos der einstige Geist des August.
2018
Das Gedicht behandelt das sogenannte "Augusterlebnis", die Kriegsbegeisterung und Euphorie im August 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Erschienen in "Der Knopf. Gedichte", Kurpfälzischer Verlag, Heidelberg 2018.