Die Sichtbarkeit der Zwangsarbeit

Von Jennifer Hölzer

Viele von uns kennen aus dem Schulunterricht Erzählungen aus der NS-Zeit. Häufig ging es auch um den Umgang der Zivilgesellschaft mit dem Vollzug des Holocausts. Eine der Aussagen, die ich häufig im Unterricht gehört habe, war „Ich wusste davon nichts“ oder „Woher sollten wir davon wissen?“. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema ist und bleibt schwierig sowie vielschichtig, da viele Faktoren mit in die Wahrnehmung der Geschehnisse einfließen. Um sich der Frage, „Wieviel konnte man wissen?“ anzunähern, hilft es, die Zwangsarbeit genauer zu betrachten. In diesem Text soll es um die Zivilkontakte gehen, also an welchen Orten die Menschen, die in Hamburg unterwegs waren, Zwangsarbeitern begegnet sind.

Der wohl auffälligste und zufälligste räumliche Kontakt war der Weg zu den Arbeitseinsätzen. Hierzu sagte Lucille Eichengreen in ihrem Interview: „They took us every morning either by train, by truck or by bus" (1). Der Transport der Zwangsarbeiterinnen fand, wie auch aus anderen Quellen hervorgeht, also sehr öffentlich statt. Auch die Schifffahrt wurde häufig genutzt, besonders wenn es um Arbeitseinsätze im Hafengelände ging. Adele Brawman erinnert sich an die Bootsfahrten zu diesen Einsätzen: „It was terrible cold and they don’t allow us to go inside the boat“ (2). Somit waren die Zwangsarbeiterinnen auch auf den Bootsfahrten gut sichtbar für Passanten.

Der zweite Begegnungspunkt waren die Orte der Arbeitseinsätze selbst. Dort kam es zu Kontakt mit Passanten, Mitarbeitern und Vorgesetzten. Paula Herrmann berichtet zum Beispiel, dass sie, nachdem sie ihre Gruppe während eines Arbeitseinsatzes verloren hatte, von einem Mann der zufällig auf seinem Fahrrad vorbei kam zurück gebracht wurde zu den Aufsehern (3). Von einem weiteren Beispiel für einen Kontakt mit Zivilpersonen berichtet Adele Brawman. Bei Aufräumarbeiten seien die Wärter gefragt worden, wer die Zwangsarbeiterinnen seien. Darauf antworteten diese wie Adele Brawman erzählte: „Someone from the SS said that they’re whores, prostitutes (...) we were young and without hair, we looked like children“. Die Zwangsarbeiterinnen wurden also gesehen bei ihren Arbeitseinsätzen.

Hana Weingarten erzählt von ihrem Kontakt zu anderen Arbeitern in einer Ölraffinerie: „Man hat uns gesagt, dass dieser Herr Schindler war ein Jude und bevor er ausgewandert ist, war er sehr gut zu den Arbeitern und die Arbeiter haben in uns gesehen einen gewissen Herr Schindler und darauf waren sie zu uns anständig.“ (4) Dies deutet auf eine heterogene Wahrnehmung in der Gesellschaft hin, welche dazu führte, dass manche, die Zwangsarbeitern begegnet sind oder mit ihnen zu tun hatten, zumindest ein schlechtes Gewissen gehabt haben.

Das wurde auch in der Ausstellung „Eine Stadt und ihr KZ deutlich“, welche in Zusammenarbeit der Bürgergesellschaft mit der KZ Gedenkstätte Neuengamme entstand. Jetzt können die Erlebnisberichte in dem Archiv oder einer PDF-Datei, die zu der Ausstellung gehört, nachgelesen werden. Auch wenn es eher wenige belegbare Quellen für die Kontakte zwischen der Bevölkerung und den Zwangsarbeitern gibt, so sind die vorhandenen doch sehr eindeutig.


Quellen und Literatur

(1) Interview mit Lucille Eichengreen, Interviewer Hans Ellger, 23.09.2000, KZ-Gedenkstätte M 2013-0043.

(2) Interview mit Adele Brawman, Interviewer Hans Ellger, 17.02.2000, KZ-Gedenkstätte M 2019-0007

(3) Interview mit Paula Herrmann, Interviewer Hans Ellger, 05.03.2000, KZ-Gedenkstätte M 2013-0050 und M 2013-0051.

(4) Interview mit Hana Weingarten, Interviewer Hans Ellger, 23.03.2000, KZ-Gedenkstätte M 2013-0035 und M 2013-0036.