Buddhistische Philosophie

Frage

Mir ist der Unterschied zwischen Leerheit (shunyata) und Selbstlosigkeit/Nicht-Selbst (anatta) nicht so ganz klar. Das klingt für mich zu ähnlich, als dass ich es unterscheiden könnte.

Antwort

Anatta bezieht sich hauptsächlich auf die Person und besagt, dass es da kein inhärentes Selbst gibt. Shunyata ist - wenn man das so unterscheiden will - etwas umfassender und bezieht sich auf alle dhammas (= Phänomene). Die Grundlage für die Lehre von anatta wie auch von shunyata ist die Lehre der "wechselseitig bedingten Entstehung" (Skt. pratitya-samutpada): Da alles, was Objekt der Wahrnehmung sein kann (dhammas), bedingt entstanden ist, kann es kein inhärentes Selbst, keinen festen, unabhängigen Baustein geben - das bezieht sich grundsätzlich auf alles, was ist. Thich Nhat Hanh hat für die "wechselseitig bedingte Entstehung" den Begriff Intersein (engl. Interbeing) geprägt.

_________________________

Frage

Im Buch "Das Herz von Buddhas Lehre" schreibt Thich Nhat Hanh, dass im gegenwärtigen Augenblick alle Augenblicke enthalten sind und wir in ihm unsere Vorfahren, Kinder und Enkel (auch ungeborene) berühren können. Das verstehe ich nicht. Ich dachte, wichtig sei das achtsame Wahrnehmen dessen, was jetzt im Augenblick ist. Wenn ich im Augenblick Vorfahren und ungeborene Enkel berühre, also in die Vergangenheit und die Zukunft gehe, dann bin ich doch nicht mehr hier im Augenblick?

Antwort

Thich Nhat Hanh beschreibt hier das Erleben von Intersein. Kennst du das Bild von Indras Netz? Stell dir ein Netz vor, dreidimensional, mit vielen Knotenpunkten, und an jedem Knotenpunkt ist ein geschliffener Kristall, der nach allen Seiten alles widerspiegelt. Das bedeutet, in diesem Bild, dass in einem Kristall (Augenblick) alle anderen Kristalle gespiegelt sind - und zwar gleichzeitig. Alles ist in allem präsent. So ist klar, dass auch dieser eine Moment von "Jetzt" bedingt ist, und - ohne, dass wir das intellektualisieren - in diesen einen Augenblick alle Augenblicke und Erfahrungen einfliessen. Dabei geht es nicht darum, im "Jetzt" an die Vergangenheit oder Zukunft zu denken, sondern das "Jetzt" im Wissen zu erleben, dass hier alles kulminiert: Wir sind all unsere Vorfahren, Kinder und Enkel im selben, einen Moment. Für den Intellekt ist das ein Koan - das sich durch die Praxis lösen bzw. erfahren lässt.