3.1 Übersicht

Die Geisteshaltung von Sati-Zen: Bodhicitta

Wenn wir den Weg der Befreiung beschreiten, so gehen wir ihn nie nur für uns allein, ob wir uns dessen nun bewusst sind oder nicht. Wir sprechen nicht allzu viel von Bodhicitta, doch ist dies die allem zugrunde liegende Geisteshaltung, ohne die alles Denken, Fühlen und Handeln stets Selbstzweck bleibt. Bodhicitta ist also die Ausgangslage, die Motivation und die Frucht der Praxis! Diese Geisteshaltung kann kultiviert und somit zur Basis unseres Lebens werden. Darum sprechen wir von einer Schulung oder Kultivierung des Geistes und des Herzens, auch wenn wir wissen, dass die wahre Natur des Herz-Geistes keinerlei Schulung bedarf: Sie ist vollkommen und unbegrenzt, leer in ihrer Essenz und erkenntnisfähig.

Bei Bodhicitta werden zwei Ebenen unterschieden:

· eine sogenannte weltliche, "relative" Ebene: anderen Gutes zu wünschen und einander im Alltag ganz konkret zu helfen;

· eine "überweltliche", "absolute" Ebene.

Letztere kennzeichnet sich dadurch, dass die Leerheit mit einbezogen wird, was auch das Aufkommen von Missionseifer verhindert. Ein Buddha, ein "Erwachter", sieht die beiden Seiten der einen Realität gleichzeitig: Alles ist traumgleich - und dennoch leiden die lebenden Wesen ganz konkret in und an ihren Träumen. Und genau darin gründet das Mitgefühl des Erwachten: Es ist der Wunsch, hilfreich zu sein, um dieses Leiden der Wesen lindern zu helfen - im Wissen darum, dass letztliche Freiheit unabhängig ist von weltlichem Glück oder Unglück. Wirkliches Freisein von Leiden ergibt sich durch die direkte Einsicht in die "leere", prozesshafte Natur von allem, was ist.

Die Leerheit nicht zu erkennen bedeutet, die Wirklichkeit zu sehr als „letztendliche Wirklichkeit“, als zu „wahr“ und "fest" anzuschauen; und dadurch können wir leicht am Leid der Welt selbst verbrennen. Die Leerheit welt– und realitätsverneinend zu begreifen heisst, im anderen Extrem, sich in einem gefühl– und mitgefühlslosen Raum zu verlieren. Aus diesem Grund benötigen wir die Praxis beider Ebenen von Bodhicitta!

Die Meditationsschulung von Sati-Zen

Die meditative Schulung umfasst im Sati-Zen vier Bereiche, die sich gegenseitig ergänzen und befruchten:

Die vier Bereiche unserer formellen Meditationspraxis sind gegenseitig verbunden:

  • Liebevolle Haltung (Kultivierung der Vier Grenzenlosen Geisteszustände, Brahmaviharas, oder anderer transformativer Methoden)

  • Sammlung (samatha, Skt. shamatha)

  • Wahrheitsergründung, die zur Einsicht führt (vipassana, Skt. vipashyana)

  • Formlose Meditation (shikantaza, prajna-samadhi u. a.)

Bodhicitta ist dabei, wie oben ausgeführt, Grundhaltung und Frucht dieses Praxiswegs.

Im Folgenden führen wir diese vier Bereiche etwas genauer aus:

Liebevolle Haltung

Eine liebevolle Haltung sich selbst und anderen gegenüber ist insbesondere bei Konflikten für viele keine Selbstverständlichkeit und muss deshalb grundlegend kultiviert werden. Die Kultivierung einer freundlichen Haltung uns selbst gegenüber ist dabei nicht mit narzisstischer Selbstliebe zu verwechseln. Der Unterschied sollte klar erkennbar sein in der Art und Weise, in der sie sich äussert: als offen und grosszügig, im Unterschied zu einem selbstbezogenen Handeln und Reden. Eine liebevolle Grundhaltung verhindert innere Selbstverurteilung sowie innere und äussere Kritiksucht oder Konkurrenzdenken - Geisteshaltungen, die tiefere Meditation ebenso wie ein friedvolles Zusammenleben verhindern.

Ohne diese liebevolle Grundhaltung (metta, Skt. maitri) vertiefen wir möglicherweise durch die Meditationspraxis unser egozentrisches Bestreben noch mehr. Unser alltägliches Denken ist gewohnheitsmässig meist viel zu sehr auf Gewinn und Erfolg und auf das Erreichen besonderer Geisteszustände ausgerichtet, als dass wir so leicht von all dem lassen und den Wert innerer Umkehr hin zum Nicht-Erreichen, zum Nicht-Anhaften als echte Chance für eine tiefere Befreiung erkennen können. Deshalb ist das klare Erkennen und Entwickeln eines wahrhaft liebevollen Denkens, Empfindens und Handelns in der buddhistischen Praxis immens wichtig.

Natürlich ist Liebe im Sinne von metta bzw. der Brahmaviharas nicht nur am Anfang des Praxisweges gefragt. Sie ist stets von höchster Bedeutung und kennt viele Ebenen: Im Sinn von Bodhicitta ist sie wie erwähnt auch die Frucht des tieferen Verstehens, das erst langsam in uns reift. Verstehen ist im buddhistischen Kontext, wie wir gesehen haben, immer auch "tiefes Verstehen", also Weisheit (Pali panna, Skt. prajna).

Sammlung (samatha, Skt. shamatha)

Die Fähigkeit der Konzentration ist im Grunde allen Wesen eigen. Sie bildet die Ausgangslage für die Meditation. Meist ist sie jedoch nicht sonderlich geschult, sondern vielmehr ihr Gegenteil, die Zerstreuung: Wir sind trainiert, möglichst vieles gleichzeitig zu tun und überall dabeizusein, aus purer Angst, etwas zu verpassen. Ohne Sammlung können wir jedoch nicht in die Tiefe vordringen und das Resultat ist Unzufriedenheit - unmittelbar erfahrbar oder auch auf lange Sicht, was wir beispielsweise etwa daran merken, dass wir in der Meditation nicht von der Stelle kommen.

Vipassana

Bei dem, was wir Vipassana (Skt. vipashyana) nennen, unterscheiden wir ebenfalls zwei Ebenen:

    • die phänomenale, dualistische Ebene unserer alltäglichen Wirklichkeit (= Vipassana als Methode);

    • die absolute, nicht-dualistische Ebene der Einsicht in die Natur der Dinge (= Vipassana als Frucht).

Die alltägliche Wirklichkeit ist es, in der wir die Drei Merkmale erforschen und erkennen können - in diesem Sinn bezeichnet der Begriff Vipassana eine Methode. In der alltäglichen Wirklichkeit ist die Einsicht in die Beschaffenheit der Dinge von grosser Bedeutung: Erkennen wir, dass alle Dinge unbeständig sind, löst sich der Griff nach ihnen und wir befreien uns aus dem Kreislauf von Gewinn und Verlust, Erfolg und

Misserfolg. Und dies relativiert unser menschliches Streben nach Anerkennung, nach bleibender Sicherheit und Beständigkeit. Im nicht-dualen Vipassana erkennen wir die Leerheit aller Phänomene und berühren das "Ungeborene, Ungeschaffene", was als Weisheit bezeichnet wird.

Diese subtilere Ebene von Vipassana leitet über zu dem, was wir "formlose Meditation" nennen können:

Formlose Meditation

Dies ist zugegebenermassen ein etwas unzulänglicher, da nicht sehr präziser und leicht missverständlicher Begriff, den wir mangels besserer Alternativen dennoch benutzen. Hier können wir kaum mehr von einer „Methode“ sprechen, sondern vielmehr von einem meditativen Verweilen in einer „Schau“, ähnlich einer Schau der „offenen Weite des Raumes“, in einem Geisteszustand klaren „Sehens“ der Wirklichkeit, der Natur der Dinge und der Natur des Geistes. Fehlt uns die Praxis der anderen Meditationsformen, verlieren wir uns leicht in einem diffusen „offenen Raum“ und meinen, vermeintlich eine hohe Stufe der Meditation erreicht zu haben.

Dennoch ist es möglich, direkt in diese Sicht einzutreten. Hier werden die Fragen von "Leben" und "Tod" als Konzepte durchschaut - und damit bedeutungslos. Hier hört alles Streben und Erlangen auf. Hier gibt es nichts zu erreichen oder zu transformieren, denn der Geist verweilt in Klarheit, Stille und Verstehen (Weisheit), in einer direkten "Schau".

Diese Art der sogenannten „Formlosen Meditation“ geht unter anderem auf Meister Hongzhi Zhengjue (1091-1157) in der 14. Generation nach Hui-neng aus der Caodong-(Soto)-Schule zurück. Hongzhi entwickelte die sogenannte "Meditation des heiter gelassenen Widerspiegelns", also ein Verweilen im "Reinen Gewahrsein", was unter Begriffen wie "silent illumination" (im chinesischen Ch'an), "shikantaza" (im japanischen Zen) oder "rigpa" (im tibetischen Dzogchen) bekannt ist.

Verstehen ist Liebe

Aus diesem "genährten" und stillen Geist heraus handeln wir auf natürliche Weise anders in der Welt, als wir es als "hungrige Geister" tun, indem wir aus Neid und Eifersucht, aus Angst oder Ärger oder anderen unheilsamen Geistzuständen heraus die Welt für uns und andere zu einem leidvollen Ort machen. Damit wird klar, dass es um die gesamte Lebensgestaltung geht - um eine Verwirklichung von Liebe im täglichen Leben, basierend auf Weisheit und Verstehen.

Einer solch "buddhistischen Lebensgestaltung" steht allerdings die bereits erwähnte allgegenwärtige Konsumhaltung gegenüber, was bei vielen Menschen zu einer mehr oder weniger grossen Zerrissenheit führt. Wir wissen zwar heute sehr wohl, wohin die masslose Ausbeutung von Ressourcen jeglicher Art führt, doch haben Begriffe wie Entsagung und Verzicht oft einen dermassen bitteren Beigeschmack, dass sich nur wenige dafür begeistern können. Wenn wir schon immer "haben wollen" - werfen wir doch einmal den Blick darauf, was uns denn möglicherweise Entsagung und Verzicht "bringen" könnten. Schauen wir in dieser Weise einmal genauer hin, was uns der "spirituelle Weg" geben könnte, bemerken wir schnell, dass es Qualitäten sind wie Zeit, Freude

an kleinen Dingen, so etwas wie Musse, die nicht Ausdruck von Schlappheit oder Faulheit ist, Direktheit oder Kontakt zur Welt anstelle des rastlosen Jagens nach allem Möglichen. Langsam können wir die Welt so

sehen und annehmen, wie sie ist: ein unsicherer Ort, der nicht dadurch an Sicherheit gewinnt, dass wir uns in selbstgebaute Gefängnisse aller Art begeben durch Abhängigkeit von Dingen, die uns nur vermeintlich absichern. Dieser Weg wird - und darf - zudem durchaus auch Freude bringen! Freude ist sogar eine geistige Qualität, die unabdingbar zu einem erwachten und freien Geist gehört.

Erinnern wir uns daran: Es gibt stets einen mittleren Weg. Wenn wir die Probleme der Welt sehen, neigen wir oft dazu, sie "sofort" lösen zu wollen. Hier braucht es jedoch viel Geduld, Einsicht in die Natur des Menschen und Sorgfalt. Allzu leicht kommt im Wunsch nach tiefgreifender Veränderung ansonsten Fanatismus zur Hintertüre herein und mit ihm schnell einmal Gewalt, gegen sich und andere. Mit der geistigen Haltung des mittleren Weges gewinnen wir die Gegenstücke zu Fanatismus, also Toleranz und Geduld und letztlich das, was wir "das weise Lächeln des Buddha" nennen könnten: die weise Gelassenheit, die uns geschickte Wege des Handelns oder des Nicht-Handelns erkennen und wählen lässt. Und wenn wir hier noch eine Stufe tiefer gehen, so kommen wir zu dem, was wir alle so sehr suchen: unvoreingenommene Liebe und tiefes Verstehen.

Der Westen und das "Ich"

Wir hören den Buddha sagen, dass die Illusion eines abgeschlossenen Selbstes, die uns zu so viel Egozentrik verleitet, die Quelle allen Leidens ist. Hier könnte ein Missverständnis entstehen: Es ist wichtig zu verstehen, dass es dabei nicht darum geht, die Wichtigkeit der Bildung einer selbständigen Persönlichkeit und einer gesunden individuellen Ausprägung in Abrede zu stellen. Für eine gesunde menschliche Entwicklung ist diese selbstverständlich wichtig und notwendig. Und sie ist natürlich auch eine wichtige Voraussetzung für die buddhistische Praxis, die zur Freiheit führt. Beim Verständnis von "Nicht-Ich" geht es vielmehr um das Erkennen und Loslassen der vielen Ich-Identifikationen im Sinne des Anhaftens daran.

Und eine weitere Präzisierung: Viele Kulturen des Ostens haben sich besonders intensiv mit der Bildung einer harmonischen Gemeinschaft und Familie beschäftigt - sie sind allein deswegen jedoch nicht einfach "Ego-los"! Das Aufgehen des Individuums in der Gemeinschaft ist nicht per se gleichzusetzen mit der Einsicht in die Leerheit (Nicht-Selbst).

Westliche und östliche Erkenntnisse ergänzen und bereichern sich hier also in besonderer Weise.