4. Ganzheit

Bereits der Buddha suchte Wege, um die Praxis ganzheitlich zu machen. Dies kommt sehr gut im Achtfachen Pfad zum Ausdruck. Den acht Bereichen des Achtfachen Pfades steht stets das Wort samma voran, was gewöhnlich mit "recht" übersetzt wird. Doch bedeutet samma weit mehr: Es heisst auch "ganzheitlich, zusammen, alle Bereiche mit einbeziehend". Meditation (samadhi), die wirklich in die Tiefe gehen soll, braucht bestimmte Grundvoraussetzungen. Wenn wir also feststellen, dass wir in der Meditation nicht "weiterkommen", so lohnt es sich, einen Blick auf die übrigen Punkte des Achtfachen Pfades zu werfen - also die Bereiche der umfassenden Einsicht (prajna) und der ganzheitlichen Ethik (shila) - und zu überprüfen, wie weit wir sie verstehen und unser Leben danach ausgerichtet haben.

Der Achtfache Pfad ist kein Stufenweg, bei dem man sozusagen ein Thema nach dem anderen "abhaken" kann; vielmehr bedingen die Bereiche sich gegenseitig. Wir üben eine Weile vielleicht intensiver in einem Bereich, verlieren jedoch die anderen Bereiche nicht aus den Augen und erkennen, wie wichtig sie alle sind und dass sie sich gegenseitig nähren. Wenn wir hier die Sati-Zen-Praxis genauer untersuchen, so erkennen wir leicht diese gegenseitige Unterstützung und brauchen keine sture Reihenfolge der Übungen einzuhalten.

Was heisst das praktisch? Ein paar Beispiele:

    • Wir möchten uns z. B. in die Sitzmeditation vertiefen und bemerken sogleich, wie sehr uns die Kraft der Sammlung fehlt. Also können wir die Übung der Sammlung weit über unsere Sitzmeditation hinaus ausweiten: wenn wir im Garten jäten, im Haus staubsaugen, in der Küche Gemüse rüsten oder im Zendo das Sitzkissen zu unserem Platz bringen. Es liegt an uns, ob wir uns gewohnheitsmässig in Gedanken verlieren und weit davon entfernt sind, bei dem zu sein, was wir gerade wirklich mit unseren Händen tun. Oder ob wir all dies als Übung der Sammlung in unsere Praxis einbauen und damit unser ganzes Leben als Praxisgelegenheit nutzen - im Retreat wie zuhause. Dies wird unseren Alltag enorm verändern und zu einem Ort der Übung werden lassen. Das wird Retreats nicht ersetzen, aber es vermag den Graben zwischen diesen Welten zu verkleinern. Und: Es wird auch unsere Meditation verändern.

  • Oder wir bemerken, dass es mit unserer Einsicht in die "Wahre Natur des Geistes" - also in die Nicht-Dualität nicht weit her ist. Wir machen es uns daher zur Übung, in alltäglichen Handlungen konkret zu ergründen, wie wir durch Egozentrik künstliche Trennungen schaffen und damit tiefere Einsichten verhindern. Wir untersuchen beispielsweise, inwieweit wir wirklich in direktem Kontakt sind mit der Welt, den einfachen und alltäglichen Dingen und den Menschen, denen wir begegnen. Sind die Mitmenschen eher eine Bedrohung für uns und verbergen wir uns hinter Mauern aus vorgespielter "spiritueller" Zurückgezogenheit? Oder besteht da eine Mauer aus Überheblichkeit und Besserwisserei? Hat die Mauer eher die Qualitäten des Desinteresses, der Wut, des Ärgers oder der Angst? Grundsätzlich können wir natürlich sagen: Mauer ist Mauer. Jede Mauer verhindert echtes Verbundensein mit der Welt. Tiefer Kontakt und Verbundenheit müssen umgekehrt längst nicht in Anhaften münden. Sie bringen vielmehr Respekt und Dankbarkeit gegenüber der sinnlich-wahrnehmbaren Welt, ohne sich darin zu verlieren.

Übung und Praxis finden immer in der sinnlich-relativen Welt statt - selbst auf dem Sitzkissen, auch wenn sie natürlich darüber hinausgehen. Das ist die Stärke der Tradition: Sie bietet ein Angebot an verschiedenen Hilfsmitteln, die seit Jahrhunderten erprobt sind. Einige der Hilfsmittel sind nahezu unersetzlich, so etwa der Weg der Achtsamkeit (samma sati), wie ihn der Buddha gelehrt hat. Und diese umfassende Achtsamkeit geht weit über die in Mode gekommene "Allerwelts-Achtsamkeit" hinaus. Deshalb beziehen wir uns auf die zwei bereits erwähnten grundlegenden Anweisungen des Buddha: Zum einen sind da seine Anweisungen zu den Vier Grundlagen der Achtsamkeit (satipatthana), zum anderen das Sutra des Bewussten Atems (anapanasati). Diese Praxis erweitern wir mit fokussierten und spezifischen Übungen, die typisch sind für die Zen-Tradition. Beispiele dafür sind etwa der Umgang mit den Instrumenten eines Tempels wie auch traditionelle Rezitationen oder eine einfache Verbeugung (gassho). Darüber hinaus nehmen wir jede alltägliche Arbeit als Übungsgelegenheit wahr und machen sie zum Hilfsmittel für die Vertiefung der Praxis. Dabei berühren wir all unsere Widerstände, Ängste, unseren Hang zum Perfektionismus oder unseren ständigen Drang, innerhalb der menschlichen Hierarchien "jemand zu werden". Einige Leute kommen dabei auch schnell in Berührung mit ihren "religiösen Aversionen" und glauben, ihre Freiheit liege darin, sich von all dem einfach fernzuhalten. Aber: Genau diese Aversionen können ein direkter Weg sein, Anhaften zu erkennen und zu verändern.

Der Weg der Befreiung geht über Qualitäten wie Stille, Hingabe und ein Tun mit immer weniger Egozentrik hinaus: Er reicht tief hinein in Vertrauen und Einsicht - hin zum Unnennbaren, hin zur Realisation der Leerheit. Erst diese tiefste Einsicht vermag das immense Festhalten an der Egozentrik aufzulösen.

Die Einsicht, von der wir in der Buddha-Lehre sprechen, ist eine Einsicht in die - scheinbare - Doppelnatur des Geistes: Wir sprechen von einer relativen und einer absoluten Sicht. Wir haben die Fähigkeit, nicht nur die eine, relative Dimension des Lebens zu erkennen. Doch schauen wir gewohnheitsmässig stets nur in eine Richtung: Mit unseren Sinnen und dem Denken sehen wir nur die Sinnenwelt und suchen in ihr nach Befriedigung und Erfüllung all unserer Wünsche. Doch je genauer und tiefer wir schauen, desto mehr löst sich der bekannte, eingeschränkte Blick auf, der die Wirklichkeit zu sehr mit all unseren Konzepten und längst gefassten Urteilen überdeckt hat. Die Natur der relativen Welt ist Veränderung - sie ist niemals statisch und fest.

Radikale Umkehr

Der Buddha-Weg bietet uns einen Weg völliger Umkehr: Durch Meditation erfahren wir die Unmöglichkeit, die Welt der Dinge zu kontrollieren - und darin tut sich gleichsam das Tor des Sein-Lassens, des Nicht-Tuns auf. Und hier kommen die Worte an ein Ende. Doch sind die relative Welt und das "Ungeborene" oder das Tao oder wie wir es behelfsmässig nennen wollen, nicht zwei getrennte Dinge! Dämmert uns diese Ganzheit, so verliert der Griff nach der Welt seine Zwanghaftigkeit und die Vision von wahrer Freiheit tut sich auf, ohne dass wir der Welt den Rücken zukehren müssen.

Im Zen von Meister Linji (jap. Rinzai, gest. 866) sprechen wir von "Gast" und "Gastgeber" und meinen damit, dass es da all das Relative gibt: unseren Körper, seine Empfindungen und auch die Gedanken. Dies ist alles vollkommen natürlich. Doch all dies sind "nur" Gäste - was nicht bedeutet, sie abzuwerten oder gering zu schätzen. Ohne die Gäste wäre das Haus (der Gastgeber) gewissermassen unpersönlich, lediglich still und leer. Doch dieses Haus - still und leer - "existiert" gleichzeitig, auch wenn wir dies im Lärm der Gäste vergessen haben mögen. Wir beginnen mit zunehmender Praxiserfahrung immer deutlicher, diese Gleichzeitigkeit zu sehen: Wir sind jetzt Körper und Geist - und damit der Gast. Und wir sind auch der Gastgeber - das stille, leere Haus. Die Welt - und damit auch unsere ganz konkrete "kleine Welt" - wird auf diese Weise ein Ort der Überprüfung unserer Einsicht und unseres Verstehens, und wir begegnen ihr zunehmend mit Mitgefühl und Dankbarkeit.

Die Realisation der Wesensgleichheit ist eine der Einsichten in die Natur des Geistes: Sie ist vollkommen und unbegrenzt, leer in ihrer Essenz und erkenntnisfähig. Sie wird lebendig in einem Menschenbild, das die Gleichberechtigung der Geschlechter für selbstverständlich hält. Im Sati-Zen-Kontext bedeutet das, dass Frauen fraglos den gleichen Zugang zur Lehre und zum Lehren haben und natürlich auch die Fähigkeit zum Erwachen.