1.1 Der Kern der Buddha-Lehre

Die Vier Edlen Wahrheiten

Buddhistische Schulen beziehen sich grundsätzlich auf die erste Lehrrede des Buddha über die Vier Edlen Wahrheiten. Die zentralen Aussagen dieser Lehrrede sind auf Einsicht basierende und damit praktisch überprüfbare Feststellungen:

(1) Da ist Leiden.

(2) Da ist Entstehung (des Leidens).

(3) Da ist Erlöschen (des Leidens).

(4) Da ist ein Weg (zum Ende des Leidens).

In diesen vier Aussagen ist die gesamte Lehre des Buddha enthalten. Direkter lässt sich der Lehrinhalt nicht ausdrücken:

(1) Ganz offensichtlich gibt es Leiden in der Welt.

(2) Wir erfahren es immer dann, wenn unsere Wirklichkeit nicht mit unseren Erwartungen übereinstimmt und wir an der Identifikation mit dem Ego, dem Selbstkonzept, festhalten. Wir leiden also, weil wir über die Natur der Dinge falsche Vorstellungen haben und glauben, dass es im Universum Dinge gibt, die fest und unvergänglich sind. Wir erhoffen uns von diesen Dingen bleibende Befriedigung und sind der Illusion verfallen, dass wir ein inhärentes und beständiges Selbst haben. Doch die Erfahrung zeigt laufend, dass alles unbeständig ist, sich in stetiger Veränderung befindet - auch unser Körper und Geist.

(3) Genau darin liegt auch die Befreiung: Wenn diese falsche Sichtweise durchschaut wird und erlischt, erlöschen damit auch die Leid schaffenden Kräfte Gier, Aversion und Verblendung. Und damit wird Befreiung, Freiheit möglich.

(4) Um zu dieser Freiheit zu gelangen, gibt es einen Weg, eine Praxis - den Achtfachen Pfad, der uns dahin führt, die falsche Sichtweise zu überwinden und unsere wahre Natur zu erkennen.

Durch die Auflösung der falschen Sichtweise werden wir nicht in ein "Paradies" ohne jegliche unangenehme Erfahrungen katapultiert: Alter, Krankheit und Tod bleiben erlebbare Realitäten. Mehr und mehr erkennen wir jedoch, dass dies ein natürlicher Lebensprozess ist und dass es vielmehr unsere Identifikation ist, die Leiden verursacht.

Viele andere grundlegenden Themen, die wir im Buddhismus vorfinden, gibt es in ähnlicher Weise auch in anderen Religionen, Weltsichten oder spirituellen Wegen. Mitgefühl und Ethik zum Beispiel sind natürlich keine Errungenschaften der Buddhistinnen und Buddhisten allein. Längst ist in heutiger Zeit vielen Menschen klar, dass Ethik bestens auch ohne Religion auskommt, wenn man persönlich oder als Gesellschaft ethisch handeln möchte. Uns geht es nicht darum, verschiedene Religionen und Sichtweisen miteinander zu vergleichen und zu bewerten, sondern aufzuzeigen, was den eigentlichen Kern des Buddhismus ausmacht. Und dieser ist nicht in äusseren Dingen zu finden, die wir gemeinhin mit "Buddhismus" identifizieren - also beispielsweise nicht in Ritualen und Formen aller Art.

Kennzeichen einer buddhistischen Sichtweise

Wir finden das Spezifische vielmehr in der grundlegenden Einsicht in die wahre Natur des Geistes und der phänomenalen Welt. Darin liegt die Kernaussage der Vier Edlen Wahrheiten, die Essenz der Lehre. Diese Essenz wird als die Drei Merkmale (Pali: tilakkhana, Skt. trilakshana) oder die Vier Dharma-Siegel bezeichnet (vgl. Anhang 1 und 2). Der Buddha hat genau diese Merkmale allen Lebens in seiner Erfahrung des Erwachens in einer solchen Tiefe gesehen, dass er wusste: Befreiung aus dem Leiden ist möglich! Der sogenannte Achtfache Pfad beschreibt in acht verschiedenen, umfassenden Aspekten die Elemente einer ganzheitlichen Praxis, die zum Erwachen führt.

Jede Religion und Weltanschauung hat ihre Besonderheiten. Was den Buddha wirklich auszeichnet und seine Lehre einzigartig - im Sinne von unverwechselbar - macht, ist, auf den kürzesten Nenner gebracht, seine Erkenntnis der Leerheit (shunyata): Er erkannte, dass alle Phänomene leer von einem unveränderlichen, von anderen getrennten Selbst sind. Diese Erkenntnis führt zu einer tiefen Verbundenheit mit allem Sein. Diese Leerheit können wir in Ansätzen durchaus auch intellektuell nachvollziehen. Doch nur eine tiefste intuitive Einsicht in unseren Herz-Geist vermag unsere Illusion eines permanenten und abgetrennten Selbst aufzulösen. Diese Weisheit im Alltag mit all seinen Herausforderungen in Liebe umzusetzen und dadurch Befreiung aus dem Leiden zu verwirklichen, ist die wohl lohnendste Aufgabe, die man sich vorstellen kann.

Ohne dieses Unterscheidungsvermögen und den praktischen Lebensbezug der Einsicht in die Leerheit kann es beim Verständnis der Lehre des Buddha von simplen Missverständnissen über ungenaue oder unvollständige Auslegungen bis hin zu einer Leugnung der Drei Merkmale kommen. Dies kann an mangelhafter Einsicht liegen, aber auch an Bequemlichkeit oder an Angst, vertraute und vermeintlich Sicherheit vermittelnde Denkweisen aufzugeben. Genauso kann es in dogmatischen Gründen wurzeln - etwa, um den Glauben an eine unveränderliche Seele oder einen Schöpfergott nicht aufgeben zu müssen. Buddhas Einsicht hat also durchaus einen Geschmack von Radikalität, im Wortsinn von "zu den Wurzeln gehend" (lat. radix = Wurzel, Ursprung).

Kurz gesagt können wir davon ausgehen, dass eine Sicht der Dinge, die sich ausserhalb der Drei Merkmale oder der Vier Dharma-Siegel positioniert, nicht als buddhistisch bezeichnet werden kann, da gemäss der Einsicht des Buddha alle Phänomene des Universums prozesshaft sind und nichts letztlich Dauerhaftes, Unveränderliches existiert. Wird beispielsweise ein ewiger Schöpfergott oder eine ewige Seele postuliert, widerspricht dies grundlegend dem Lebensgesetz von anicca, der Vergänglichkeit von allem Gewordenen. Natürlich kann man argumentieren, dass ein Schöpfergott wie auch eine Seele schon vor dem Beginn der Zeit existierten und mithin ausserhalb des Prozesses stehen. Damit jedoch befinden wir uns in der Welt des Glaubens, also auf einer anderen Ebene von Argumentation und Religiosität. Die Freiheit, von der der Buddha spricht, ist hingegen dahingehend radikal, als sie darauf zielt, wirklich alles loslassen zu können! Hier gilt es, echtes Nicht-Anhaften von Gleichgültigkeit zu unterscheiden. Tief in uns wissen wir genau, dass es dieses Wunder gibt - Liebe ohne Anhaften. Ganz alltäglich wissen wir auch, wie wichtig es ist, etwas zu schützen und zu pflegen - und das ist auch bzw. gerade dann am besten möglich, wenn wir nicht in etwas verwickelt sind oder daran haften.

Buddhismus und andere Weltsichten im Licht eines offenen und klaren Geistes

Eine Definition dessen, was "buddhistisch" ist und was nicht, ist nur dann sinnvoll und nötig, wenn es um die bereits erwähnte Klärung von Missverständnissen geht. Also dann, wenn es um die Abgrenzung gegen missbräuchliche Interpretationen oder um Vereinnahmung durch andere Religionen geht.

In diesem klärenden Sinn zu definieren, was "buddhistisch" ist, dient also genau nicht der geistigen Engführung, sondern bedarf eines offenen und klaren Geistes. Es zielt - natürlich! - auch keineswegs darauf ab zu behaupten, dass etwa alle anderen Religionen oder Weltanschauungen "falsch" wären - das wäre ein weiteres, fatales Missverständnis! Verschiedene Religionen und Weltsichten haben schlicht einen unterschiedlichen, oft völlig anderen Ansatz. So liegt beispielsweise die Stärke einer Glaubensreligion eben gerade im Glauben an etwas, was sich nicht beweisen lässt. Unabhängig von solchen Unterschieden haben die verschiedensten Religionen, wie bereits erwähnt, zu allen Zeiten einen grossen Beitrag für eine gerechtere und friedvollere Welt geleistet und tun es bis heute, so gut es den wohlgesinnten Vertretern der jeweiligen Gemeinschaften möglich ist. Was immer aus einer Religion oder einem spirituellen Weltverständnis, was aus der Kunst, den Errungenschaften des Humanismus oder der Wissenschaft an kulturellen Werten und im Sinn einer mitfühlenden Ethik zum Wohl der Menschheit und einer besseren Gesellschaft beigetragen hat, war und ist von grosser Bedeutung und verändert und verbessert das Leben unzähliger Menschen, Tiere und Pflanzen.

Abschliessend können wir sagen, dass der Begriff „Buddhismus“ keine absolute Bedeutung hat und — richtig verstanden — für Klärungen hilfreich sein kann. Oder, wie Zen-Meister Sokei-An so treffend sagte:

„Heutzutage spreche ich über Buddhismus und Zen in Vorträgen, aber wenn ich allein bin, denke ich nicht darüber nach. Ich erfreue mich an etwas, das keinen Namen hat, aber sehr natürlich ist. Es ist das einzige, was zählt und es ist wunderbar.

Was meine Vorträge anbetrifft: Dass ich hier an dieser Strassenecke solch grosse Worte sage, ist unerheblich — aber sie sind dennoch wahr!“

(Aus: Sokei-An: Man sieht nur in der Stille klar; Hrsg. Agetsu Wydler Haduch)


Begleitende Texte: