1. Warum "Buddhismus"?

Das Missverständnis "Tradition"

Wir leben in einer Zeit, in der nahezu alles, was mit "Tradition" zu tun hat, ein recht brisantes Thema geworden ist. Die einen sehen in der Globalisierung die Lösung für alle Probleme; regionale Gegebenheiten verschwinden, und mit ihnen Sprachen und kulturelle Eigenheiten. Andere flüchten sich in überschaubare nationale oder vertraute religiöse Werte, bis hin zur Radikalisierung. Wieder andere sehen einen Ausweg darin, dass wir nun eine neue Entwicklungsstufe erreicht hätten, wo es keinerlei Religionen mehr brauche, da diese im Kern sowieso alle eins seien - letzteres läuft meist unter dem Postulat religionsübergreifender Spiritualität. Eine Gefahr von Tradition kann darin liegen, bestehende Strukturen auch dann zu erhalten, wenn sie längst überholt sind.

Eine andere, entgegengesetzte Gefahr kann in vorschneller Veränderung liegen, also darin, dass zu sehr auf Modeerscheinungen und Trends reagiert und damit möglicherweise der Kern einer Sache verwässert wird oder gar verloren geht.

Die buddhistischen Traditionen sind, bildlich ausgedrückt, wie Früchte - sie haben einen Kern, Fruchtfleisch und eine Schale. Diese drei Schichten sollten klar unterschieden werden:

· Es gibt eine buddhistische Kernaussage, die Essenz oder den "Kern" der Buddha-Lehre: Durch Nicht-Anhaften an falschen Sichtweisen ist Freiheit möglich.

· Das "Fruchtfleisch" entspricht der zweieinhalbtausendjährigen Erfahrung des Dharma-Weges und dem Weitergeben der verschiedenen Methoden, wie Freiheit verwirklicht werden kann.

· Die jeweiligen Schulen stehen immer in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext, der sich ständig verändert. Dieser Kontext entspricht der "Schale".

Kritisches und differenziertes Verständnis von Tradition bedeutet anzuerkennen, dass sich äussere Dinge verändern und wir geschichtlich gewachsene Methoden trotzdem weiterhin wertschätzen und uns vor allem auf den Kern der Buddha-Lehre besinnen können. Es ist möglich, den Buddhismus aus der Beliebigkeit aller möglichen Welterklärungen zu befreien und die Essenz der Buddha-Lehre in ihrer Klarheit zu erhalten. Gleichzeitig brauchen wir uns nicht rigide an Formen zu klammern, die durchaus verändert werden können, ja oft auch verändert werden sollen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Zu einem "modernen" Buddhismus gehören etwa die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Relativierung von Autorität und Hierarchie.

In der heutigen, durch und durch übersättigten Konsumgesellschaft, wo der Ursprung eines Produktes oft unbekannt ist und uns alles mögliche durch wirkungsvolle Werbung als unentbehrlich und für unser Glück unverzichtbar angepriesen wird, haben wir auch in spiritueller Hinsicht häufig wenige hilfreiche Massstäbe: Es fällt uns schwer zu sehen, ob etwas für uns wirklich befreiend ist oder ob es uns bei genauerer Betrachtung nur in neue Abhängigkeiten führt. Alles scheint heute käuflich, sei es Glück, Zufriedenheit oder Liebe; alles wird austauschbar, und das Gefühl für den Wert einer Sache geht leicht verloren. Persönlicher Einsatz und Verständnis für Kontinuität leuchten da oft nur noch schwer ein.

Der Bedarf nach Kontinuität und Erneuerung besteht jedoch gleichzeitig, was sich etwa anhand dieser Fragen zeigt:

· Wie sorgen wir für eine über weitere Generationen hinausgehende Kontinuität des Buddha-Dharma mit all seiner Fülle an Weisheit und dem Potential zur Leidensverminderung bzw. zur Aufhebung von Leiden, hin zu mehr Mitgefühl für alle Wesen?

· Wie organisieren und regulieren sich Gruppen intern? Gibt es bewährte Werkzeuge der Supervision, damit bekannte Fehler vermieden und, wenn sie geschehen, aufgearbeitet werden können?

· Wie werfen wir alten Ballast über Bord, ohne den wertvollen Inhalt gleich mit auszukippen?

· Wie können wir zu einem klaren und differenzierten Bewusstsein und Verständnis von Traditionen und Wegen kommen und deren Unterschiede anerkennen, ohne dabei, auch nicht ansatzweise, bereits wieder fundamentalistisch zu werden?

Klares Unterscheidungsvermögen

Das, was wir heute Konsumzwang nennen, ist jedoch auch nichts Neues. So drückte etwa bereits Zen-Meister Linji (jap. Rinzai, gest. 866) in deutlichen Worten bildhaft aus, wie wichtig es ist, die Essenz des Buddha-Dharma zu erkennen:

„Die heutigen Zen-Schüler kennen das Dharma nicht. Sie sind wie Ziegen, die alles, was ihnen vor die Nase kommt, sofort ins Maul nehmen. Sie sind unfähig, zwischen Gastgeber und Gast zu unterscheiden oder zwischen Meister und Diener. Ihre Motivation für das Betreten des geistigen Weges ist nicht rein, sie gehen bloss dorthin, wo die grösste Menge hingeht und wo am meisten Glamour herrscht. Man kann sie unmöglich als echte Weltüberwinder bezeichnen. Nein! Sie sind durch und durch weltlich.“

(Aus: Rinzai Roku. Übersetzt von Sotetsu Yuzen)

Ehe wir entscheiden können, was innerhalb einer Religion, Philosophie oder Weltanschauung Ballast ist, den wir zurücklassen oder unterschiedlich gewichten können, und was wertvoller Inhalt, den wir bewahren möchten, stellt sich die zentrale Frage, worum es bei der betreffenden Sicht im Kern geht. In unserem Kontext geht es also um die Frage: Was ist die Essenz der Buddha-Lehre? Klar, den Buddhismus an sich gibt es nicht. Wenn wir die Lehre des Buddha jedoch nur als einen weiteren "Ismus" sehen, den wir nicht differenziert hinterfragen dürfen, so haben wir sie wahrlich nicht verstanden. Der Frage nach dem Kern der Buddha-Lehre gehen wir in den folgenden Kapiteln nach.