2.1 Traditionslinie

Geschichtlicher und geistiger Hintergrund

Sati-Zen hat wie alle Schulen des Buddhismus einen geschichtlichen Aspekt und ist tief verankert in der zweieinhalbtausend Jahre alten Lehre des Buddha. Wir gehören geschichtlich in die Tradition des vietnamesischen Zen (Thien).

Ein genauerer Blick auf unsere Traditionslinie lässt ein gutes Beispiel für die Vermischung und Entwicklung von Schulen erkennen: Gemeinhin heisst es, der vietnamesische Buddhismus sei Mahayana-Buddhismus. Doch das ist nicht ganz präzise. In Vietnam entstand schon im 3. Jh. ein Buddhismus, der ein Konglomerat aus mindestens zwei Schulen war: dem Sthaviravada, also dem heutigen Theravada (=Früher Buddhismus), und dem Mahayana. Auch unsere Linie des Thien geht auf diese Tradition zurück. Thich Nhat Hanh, unser "Grossvater-Lehrer", hat den Frühen Buddhismus als mit dem Zen/Ch‘an verbunden kennengelernt und gelehrt, wie es in seiner Tradition seit beinahe 2000 Jahren üblich ist.

Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass wir unsere gesamte Praxis auf dem Frühen Buddhismus und dem Mahayana aufbauen (Thien/Ch'an/Zen; der Bezug zu Ch'an wird weiter unten erörtert). Auch aus diesem Grund heisst unsere Tradition Sati-Zen-Sangha.

Der Weg zu Sati-Zen

Der historische Buddha, der als Gautama Siddharta vor etwas mehr als 2500 Jahren in Nordindien lebte, war nach etlichen Jahren intensivster Praxis bekanntlich mit seinen Meditationstechniken und seinem spirituellen Weg unzufrieden. So fand er eine ganz eigene Meditationsform, die ihn zum vollen Erwachen führte - eine Erfahrung, die er in den darauffolgenden 45 Jahren seiner Lehrtätigkeit seinen Schülern und Schülerinnen in vielfältigster Weise zu vermitteln suchte. Diese Vermittlung hin zur authentischen Erfahrung des Erwachens überdauerte die Jahrtausende und wurde von Meisterinnen und Meistern an ihre Schüler und Schülerinnen weitergegeben. Ursprünglich aus Indien kommend, gelangte die Buddha-Lehre nach und nach in nahezu alle asiatischen Länder und ist heute weltweit verbreitet. In unserer Schule beziehen wir uns auf eine Traditionslinie, die von Buddha und seinen Nachfolgern in Indien im 3. Jh. nach Vietnam und China gelangte.

Mein persönlicher Zugang zum Buddhismus erfolgte 1968 über das Ch'an. Daher habe ich auch den Namen Haus Tao für unser Zentrum gewählt, was in unserem Fall nichts mit dem Taoismus zu tun hat: Der Begriff Tao/Dao (im klassischen Chinesisch in der Bedeutung von "Weg") wurde von den alten Ch'an-Meistern für den Begriff Dharma (also Buddhas Lehre bzw. Buddhas Weg) verwendet.

In Indien kam ich dann mit dem tibetischen Buddhismus in Berührung (mit Geshe Rabten, 1920-1986). Anschliessend folgte eine Jahrzehnte dauernde Ausbildung in Vipassana und Zen mit verschiedenen Lehrenden im Osten und im Westen.

Durch die Autorisation, die Weihe zum Dharmacharya* (Lehrer des Dharma), durch Thich Nhat Hanh im Jahr 1994 gehören wir zur Traditionslinie des vietnamesischen Thien. Doch aus der für diese Linie des Thien spezifischen Kombination von Frühem Buddhismus und Mahayana erkennt man, wie erwähnt, dass eine fixe Einteilung der Sache nicht wirklich gerecht wird.

Früher Buddhismus, Ch'an und Thien

Zusammengefasst kann man sagen, dass wir im Sati-Zen drei Strömungen zu vereinen suchen: die Lehren des Frühen Buddhismus, der alten Ch'an-Meister und der weltoffenen Herangehensweise von Meister Thich Nhat Hanh im vietnamesischen Zen (Thien), wo Zen und die Einsichtsmeditation (Vipassana) sich seit Jahrhunderten vereinen.

So lehren wir die Grundlagen gemäss den frühen Sutren wie dem Sutra des Bewussten Atems (anapanasati) und dem Sutra über die Vier Grundlagen der Achtsamkeit (satipatthana); dies ist allgemein bekannt unter dem Begriff Vipassana (Skt. vipashyana). Auch aus dem Frühen Buddhismus stammen die Vier Grenzenlosen Geistzustände (Brahmaviharas), die unser Herz öffnen und so vieles im Leben leichter und freundlicher gestalten helfen.

Es ist sicher nicht so, dass dem Frühen Buddhismus die Einsicht in die Leerheit (shunyata) fehlen würde. Buddhas Erwachen war umfassend! Auch sind wir nicht der Meinung, dass sich parallel und völlig abgegrenzt neben den Methoden der Achtsamkeit und dem, was wir heute Vipassana nennen, dieses Mysterium des "wortlosen Zen" entwickelt hat, das gerne auf die Begegnung zwischen Buddha und Mahakashyapa ("Der erhabene Kashyapa") zurückgeführt wird. Die Geschichte erzählt, dass der Buddha einst bei einer Lehrrede eine Blume emporhob und sie der versammelten Zuhörerschaft zeigte. Während alle schwiegen, lächelte Kashyapa - was der Buddha erfreut als Erkenntnis jenseits der Worte lobte.

Buddha lehrte gemäss dem Verständnis und Charakter seiner Zuhörerschaft und verwendete alle möglichen Methoden, seine Schülerinnen und Schüler der direkten Erfahrung des nibbana (Skt. nirvana), des "Ungeschaffenen, Ungewordenen", näherzubringen. Weil das offensichtlich nicht einfach ist, entstanden in späteren Generationen immer wieder Einseitigkeiten: Die Menschen versuchten die Essenz oft zu sehr mit dem Intellekt zu erfassen und beschränkten sich darauf, unzählige Texte auswendig zu lernen und auf philosophischer Ebene zu diskutieren. Aus solchen Einseitigkeiten entstand in China die Bewegung des Ch'an (Zen), mit dem wir durch unsere Lehrervorfahren verbunden sind. Wichtige Zen-Elemente sind auch Teil unserer Praxis.

Die Praktizierenden vergangener Zeiten haben sich immer wieder mit den Methoden des Frühen Buddhismus auseinandergesetzt, sie angewendet und gleichzeitig nach Wegen gesucht, sie frisch und möglichst effizient einzusetzen. Genau darum wenden auch wir Zen-Methoden an und erweitern damit die Praxis der Achtsamkeit und das Verständnis der Leerheit weit über die formelle Meditation hinaus. Damit wird ein intuitives Empfinden geschult, das die Einheit allen Lebens in seiner Relativität und seiner bedingten Entstehung erkennt und wertschätzt. Gleichzeitig wird in aller Klarheit darauf hingewiesen, dass alles Formhafte, Relative niemals unsere wahre Zuflucht sein kann, sondern wir nur im "Ungeborenen, Ungeschaffenen" echte Befreiung und tiefen Frieden finden können. Dies eröffnet eine nicht-dualistische Sicht des Lebens, ein tiefes Verständnis für das, was wir Leerheit (shunyata) nennen.

Bedeutung und erneuernde Kraft von Traditionslinien

In einer Traditionslinie zu stehen, bedeutet für uns wie ausgeführt grundlegend, uns bewusst zu sein, was unter "Erwachen", "Erleuchtung" und "echter Freiheit" im Sinne der Drei Merkmale zu verstehen ist: Freiheit von Täuschung bezüglich (1) der Beständigkeit, (2) der Idee dauerhafter Befriedigung durch die Sinnenwelt und die Phänomene und (3) des Glaubens an einen ewigen, inhärenten Wesenskern. Die Zuflucht in die Befreiung, Nirvana oder die Buddha-Natur ist die Zuflucht in die Möglichkeit, dass alle Ego-Projektionen durchschaut, echter Friede verwirklicht und "das Ungeborene, Ungewordene" als Wirklichkeit erkannt werden können. Somit ist für uns "Buddhismus" keine Religion, an die wir zu glauben haben, sondern ein gangbarer Erfahrungsweg, der im Alltag geprüft und verwirklicht werden kann.

Von einer Meisterin oder einem Meister eine Bestätigung oder Lehr-Autorisation als Dharmacharya* zu erhalten, bedeutet für uns, von ihr oder ihm die Anerkennung zu bekommen, diese Kernaussagen erkannt zu haben und unerschütterlich anzuerkennen, da sie als wahr und praktisch umsetzbar erfahren wurden. Dies bedeutet in keiner Weise, als perfekt zu gelten oder gelten zu müssen bei der konkreten täglichen Umsetzung bzw. Verwirklichung dieser Einsicht. Wir empfinden uns alle als sogenannte Unsuis* - stets auf dem Weg, so wie "Wolken und Wasser".

Diese Bestätigung wurde mir von Meister Thich Nhat Hanh mit dem Auftrag gegeben, die Buddha-Lehre auch an zukünftige Generationen weiterzugeben und die dafür notwendigen Bedingungen mitgestalten zu helfen.

Übungsgrundlagen

Die Vierzehn Ordensregeln oder Übungen der Achtsamkeit des Ordens Intersein, der 1966 von Thich Nhat Hanh gegründet wurde, wurden 2001 von mir überarbeitet und aktualisiert und in den Neun Pfeilern der Sati-Zen-Sangha zusammengefasst (vgl. S. 96). Sie basieren auf modernen westlichen Werten und bilden die Grundlage und den "Nordstern" der Sati-Zen-Praxis. Beide Texte können als Beispiel für eine zeitgemässe Formulierung der Grundlagen der Praxis und deren Umsetzung in den Alltag dienen.

Erläuterungen

* Dharmacharya: Dharma ist zum einen die Lehre des Buddha, zum anderen deutet es auch auf die Grundgesetze des Lebens hin wie die Unbeständigkeit aller Dinge oder ihre Leerheit. Acharya ist ein edler Lehrer.

* Unsui bedeutet im Japanischen "Wolke und Wasser", eine Abkürzung für kounryusui, 'ziehende Wolken, fliessendes Wasser' - gleichmütig und nirgends verweilend, so wie Wolken und Wasser. Die ins Deutsche übersetzten Begriffe wie "Zen-Mönch/Nonne" und "Zen-Priester/Priesterin" sind genauso korrekt und genauso erklärungsbedürftig wie Unsui.


PDF Anhänge

Neun Pfeiler.pdf von Marcel Geisser

Vierzehn Achtsamkeitsübungen.pdf von Thich Nhat Hanh