Vladimir Brjuhanov - "Anatomie des Terrors"
Zeitung "Junge Freiheit" Nr. 11/07, 7. März 2003, Seite 22
Politischer Terrorismus ist eines der wichtigsten Probleme der Gegenwart.
Die Natur dieses Phänomens ist auch heute noch bei weitem nicht erschöpfend untersucht und analysiert worden. Die Erfahrung des internationalen Terrorismus sowie des Terrorismus in Rußland der letzten zwei Jahrhunderte lehrt Folgendes.
Ein Terrorakt gegen ein gut bewachtes Objekt kann nur durch eine gut organisierte Gruppe verübt werden, wo Menschen unterschiedlichster Art zusammengefaßt sind.
Als unmittelbar Ausführende agieren üblicherweise Menschen, die aus welchen auch immer Gründen in einen schweren dauerhaften Streßzustand geraten sind. Als einziger Ausweg aus dem Streß bietet sich ein Akt der Aggression gegen sich selbst oder gegen andere. Ist ein solcher Mensch nicht mit einer extremistischen Organisation liiert und hat er keine deutlichen politischen Bestrebungen, dann kann sich seine Aggression gegen allerlei Objekte richten. Manchmal kommt es zu Massenmorden von Unbekannten und Unbeteiligten; für dieses Phänomen ist der terminus technicus "Amok" üblich. Erheblich öfter kommt es zu banalen Selbsttötungsdelikten. Für Menschen mit stabiler Psyche bleibt die Motivation der Täter meistens verschlossen.
Solche Tragödien passieren in allen menschlichen Gemeinschaften und haben nicht unbedingt irgendeinen sozial-politischen Hintergrund, obwohl sozialer Streß oft im Spiel ist. Für die Herren des Terrors (siehe unten) sind solche Menschen ein wahrer Schatz, der für "die gute Sache" eingesetzt werden kann.
Mangel an geeignetem Personal kann die Ausführung des geplanten Vorhabens erheblich verzögern. Die Suche nach Menschen im Streß gehört deshalb zu einer der wichtigsten Aufgaben der Terrorväter. Man kann Menschen aber auch zielbewußt und aufgabengerecht in einen solchen Zustand bringen. Der Terrorist der unteren Ebene ist nicht nur Mörder, sondern gleichzeitig auch Opfer des Terrors.
Um seine spezifische Bereitschaft zu erhalten bzw. zu verstärken, - die sich ja sonst von selbst entladen könnte,- muß man dem potentiellen Vollstrecker eines Terroraktes entsprechende psychologische Pflege zukommen lassen.
Er muß schnellstmöglich eingesetzt werden, - jedoch nicht auf Kosten der nötigen technischen Vorbereitung und Kampfausbildung. Solche widersprüchlichen Forderungen sind oft Quelle zahlreichen Konflikte innerhalb terroristischer Organisationen.
Gespanntes politisches Umfeld schafft Streßsituationen en masse. In Palästinensergebieten, in Nord-Irland, im Baskenland und in Tschetschenien ist es heute nicht schwer, potentielle Terroristen zu finden. Dasselbe läßt sich übrigens bezüglich fast aller Kriege behaupten, denn ein Krieg ist Schauplatz wahrer Wunder der Selbstaufopferung und Grausamkeit.
Beendigung eines Krieges begünstigt den Terror ebenfalls: Kriegsveteranen können sich oft an das Leben im Frieden nicht anpassen, und bei vielen von ihnen handelt es sich um Menschen, die berufsmäßig zum Töten ausgebildet worden sind.
Durch ihre psychologische Unausgeglichenheit - meistens in Verbindung mit mangelnder Lebenserfahrung - sind die potentiellen Terroristen der unteren Ebene nur äußerst selten fähig, einen richtigen Terrorakt zustande zu bringen.
Das Beispiel des Massenterrors in Palästina ist typisch in dieser Beziehung.
Sich selbst inmitten der Menge in die Luft zu sprengen oder einen Polizisten zu töten erfordert bereits ein bestimmtes Maß an technischer Vorbereitung, d.h. Organisation. Schwerere und ernsthaftere terroristische Verbrechen verlangen erst recht nach ausgeglichenen, technisch klugen und qualifizierten Führern im Hintergrund.
Führer terroristischer Organisationen reifen üblicherweise im intellektuell gebildeten und materiell unabhängigen Milieu. Alle Führer und Ideologen des russischen revolutionären Extremismus (zweite Hälfte des XIX. - Anfang des XX.Jahrh.) waren ausgesprochen intelligente Menschen. Darunter - Kinder aristokratischer Familien (Michail Bakunin, Pjotr Kropotkin, Sophia Perowskaja), Kinder russischer (Jegor Sosonov, Wladimir Sensinov) und jüdischer (Michail Gotz, Ilja Fondaminski) Millionäre, Kinder herausragender Vertreter der russischen (Nikolaj Tschernischevski, Nikolaj Tatarov) und der jüdischen (Ossip Minor) Geistlichkeit.
Die meisten entstammten dem russischen Adelsstand sowie der Geistlichkeit und dem Mittelstand. Eine auffallend bedeutende Rolle spielten Intellektuelle, die zur ersten Akademikergeneration in ihren Familien gehörten (Ssergej Netschajev, Andrej Shelabov, Gersch Gerschuni, Ewno Asef). Das soziale Portrait der heutigen Anführer des Terrors (angefangen mit Oussama bin Laden) ist praktisch eine Kopie dieses Bildes.
Motiviert werden sie von ihrem überdimensionalen Ehrgeiz. Von Kindesbeinen an auf einen hohen sozialen Status programmiert, begegnen sie als Erwachsene den ärgerlichen Schwierigkeiten seiner sofortigen Inanspruchnahme.
Einige können den Reichtum ihrer Vorfahren erben, jedoch normalerweise erst nach deren Ableben, - und bis dahin darf man das Wohlwollen der Älteren nicht verscherzen, - sonst wird man enterbt! Und der gesellschaftliche Status der Älteren - der läßt sich schon gar nicht direkt erben!
Noch größere Schwierigkeiten erwarten die Intellektuellen der ersten Generation, da sie über keine nützlichen Traditionen und Familienbeziehungen verfügen.
Eine Alternativlösung könnte Militärdienst sein. Während eines langen Krieges könnte man unter Umständen bereits mit 25 Jahren Oberst oder sogar General werden, wozu allerdings Bildung und harte Arbeit gehören - Kühnheit und Glück allein bringen einen nicht weit genug, und hat man Pech, dann fällt man ohne jeglichen Erfolg.
Viel arttraktiver wäre eine Revolutionskarriere...
Was ist aber, wenn Krieg und Revolution auf sich warten lassen?...
Eine erfolgreiche Lebensgestaltung erfordert in jedem Fall viele Jahre Fleiß und Schweiß, und das - ohne Erfolgsgarantie. Kein Fall für die Super-Ehrgeizigen. Eine Allerweltskarriere lassen sie sich nicht gefallen, und nicht jeder gibt sich zufrieden mit dem Ausbleiben von leichteren Alternativen des Zugangs zum Gipfel. Hinzu kommt es, daß die jeweils vorhandene Situation sehr subjektiv beurteilt wird, - beurteilt von jungen, unreifen und ungeduldigen Menschen. Die meisten lassen es sogar an Geduld zum Abschluß ihrer Ausbildung fehlen.
Das Schicksal hat den erwähnten Oussama bin Laden von Geburt an großzügig beschenkt. Seine Lebenserfolgsaussichten hätten ein goldener Traum jedes Ehrgeizlings sein können. Aber auch sie waren seinen Ansprüchen nicht gerecht. Das für einen Milliardär übliche Leben konnte ihn nicht reizen: Es wird über "einfache Milliardäre" nicht jeden Tag in den Massenmedien der Welt ausführlich berichtet, ihre Macht ist nicht grenzenlos, und in der Geschichte der Menschheit hinterlassen sie keineswegs die markantesten Spuren.
Die Schlußfolgerung ist messerscharf: der kürzeste Weg zum Reichtum ist der Bankraub, und der kürzeste Weg zum politischen Erfolg, zum Einfluß und zum Ruhm ist der politische Terror!
Der Terror ist wahrlich ein wirksames Mittel der politischen Einflußnahme.
Das ist der Grund, warum sogar respektable Poltiker - keineswegs Extremisten - manchmal der Versuchung eines solchen Mittels erliegen,- nicht der utopischen Ziele wegen, sondern um durchaus pragmatisch-praktische Ergebnisse zu erzielen. Solche Politiker sind das dritte - das entscheidende! - Element einer erfolgreichen terroristischen Aktivität.
Sie wählen das Objekt des terroristischen Anschlags, sie finanzieren teure Programme seiner Vorbereitung und Ausführung, sie liefern den Terroristen die nötigen technischen Mittel, sie unterstützen die Ausarbeitung von realistischen Plänen zum Erreichen des gesteckten Ziels, sie geben den Terroristen eine verdeckte (oft unentbehrliche) administrative Unterstützung. Ihr Herrschaftswissen und logistisches Können lassen die Idee des Terrors Wirklichket werden.
Die wahren Ziele dieser Hintermänner sind nicht immer deckungsgleich mit den deklarierten Zielen der Terroristen, und oft genug sind sie sogar das direkte Gegenteil davon! Die Terroristen der unteren Ebene geraten dabei in die Rolle von Marionetten, die von unsichtbaren Spielern aus dem Hintergrund heraus manipuliert werden.
Diese drei Schichten der Terrorszene lassen sich analog der Organisationsstruktur eines Industriebetriebs betrachten: Arbeiter, Administration und Eigentümer. Die Geschichte bietet Beispiele von verschiedenen Übergangsformen zwischen den genannten Kategorien.
Die wirkungsvollste terroristische Organisation des XX. Jahrhunderts existierte in Rußland 1902-1908. Sie verübte Dutzende von Anschlägen. Unter den Getöteten waren zwei Minister des Inneren des Russischen Kaiserreichs (1902 - Ssipjagin und 1904 - Plewe: zwei erfolgreiche aufeinanderfolgende Erneuerungen der Führung des Ressorts!). Einige Anschläge wurden durch polizeiliche Maßnahmen vereitelt.
An der Spitze dieser Organisation stand Ewno Asef (geboren in Rußland; jüdischer Abstammung; Ingenieurstudium in Karlsruhe und Darmstadt). Ein wahrer Genie der Praxis und der Theorie des Terrors, war er der erste in der Welt, der die Idee eines mit Sprengstoff geladenen Kraftfahrzeugs entwickelte. Zum ersten Mal wurde sie 1905 unter seiner Teilnahme beim Attentat der armenischen Patrioten auf den türkischen Sultan angewendet, und seitdem wird sie extensiv von allen Terroristen der Welt benutzt. Der Terrorist Asef hatte als erster auch die Idee, ein Flugzeug zum Zwecke des Terrors einzusetzen (fast ein Jahrhundert vor der praktischen Verwendung!).
Doch 1908 kam es zu seiner Demaskierung als Vertrauensmann der Polizei. Die Bezahlung war fürstlich gewesen: sein monatliches Salär glich fast dem des stellvertretenden Ministers des Inneren. Eine solche Sachlage bewog die "aufrichtigen" Revolutionäre, nur diejenigen zu töten, die aus irgendeinem Grunde der Polizeiführung der höchsten Ebene nicht genehm waren. Einige der letzteren sind bis heute nicht entlarvt.
Der bedeutendste Erfolg des Terrors im XX.Jahrhundert bleibt der Mord von Sarajewo, der bekanntlich zum Ersten Weltkrieg führte. 1914 wurde der österreichische Erzherzog Ferdinand (Thronfolger) von serbischen Terroristen ermordet. Auch heute noch wird die Schuld für den Beginn des Krieges der Regierung des damaligen deutschen Kaisers Wilhelm II. gegeben.
Die unmittelbaren Mörder waren ganz junge Serben - Studenten, Gymnasiasten, Arbeiter. Sie waren serbische Patrioten; einige befanden sich unter dem unmittelbaren Einfluß von damals wohlbekannten internationalen Revoluzzern, insbesondere - Leo Trotzki. Doch weder Trotzki noch andere Extremisten waren imstande, den Mord von Sarajewo zu organisieren. Hier bedurfte es viel bedeutenderer Mächte. Der terroristische Anschlag wurde vom russischen Militärattache in Belgrad finanziert. Die unmittelbare Vorbereitung und die Bewaffnung der Terroristen, ihr illegaler Grenzübergang und ihre Konspirativunterkünfte in Österreich-Ungarn wurden durch die Führung des serbischen Geheimdienstes (mit Oberst D.Dmitrijewitsch an der Spitze) sichergestellt.
Dann haben viel höher plazierte Nicht-Geheimdienstler eine exzellente Diplomatie geliefert und den erfolgreich organisierten Skandal in den Großen Krieg einmünden lassen.
In der nicht so weit zurückliegender Zeit wurde die Bundesrepublik Deutschland Opfer eines von den RAF-Terroristen begonnenen (beinahe) Bürgerkrieges. Die klassische Entfaltung der Handlung ist beeindruckend.
Es begann 1968 mit heftigen Unruhen im Milieu der studierenden Jugend. Die Atmosphäre des Protestes und des öffentlichen Krawalls in Verbindung mit Straflosigkeit trug zur Aktivierung von Personen (nicht unbedingt Studenten) bei, die zum aktiven Terror fähig waren. Die terroristischen Aktivitäten begannen mit kleinen Anschlägen und gewannen immer mehr an Professionalität. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands stellte es sich heraus, daß die Führung des Terrors und seine Logistik (Ausbildung, Ausrüstung, Unterkünfte usw.) maßgeblich vom "souveränen" östlichen Nachbarn operativ gesichert wurden. Viele der logistischen Maßnahmen wurden auf dem Territorium des "souveränen" Nachbarn durchgeführt.
Das Interessanteste ist aber, daß Terrorakte gegen hochgestellte Persönlichkeiten der BR Deutschland mehrere Jahre lang auch nach 1990 weitergingen!
Kanzler Bismark sagte einmal, daß die Geschichte uns immer wieder nur das Eine lehrt: die Völker lernen nie aus der Geschichte. Dies trifft zweifellos zu: zwei Jahrhunderte der Geschichte des Terrorismus haben uns nichts beigebracht.
Es sterben nach wie vor zahlreiche Opfer des Terrors und seine unmittelbaren Vollstrecker.
Die Führer des Terrors werden dagegen nach wie vor nur in den seltensten Fällen bestraft. Der erwähnte Asef wurde - nebenbei gesagt - weder von den Revolutionstätern noch von der Regierung des zaristischen Rußlands verfolgt.
Eine beispiellose Ausnahme war die Bestrafung des Obersten D.Dmitrijewitsch und seiner Kollegen - der Organisatoren des Mordes von Sarajewo. 1915 wurde die serbische Armee geschlagen und das ganze Serbien von deutschen und österreichischen Truppen besetzt. 1917 wurde es klar, daß Rußland - Serbiens wichtigster Freund und Protektor - nicht zu den möglichen Siegern gehören würde. Es schien damals absolut sicher, daß die Zukunft des serbischen Volkes von Deutschland und seinen Verbündeten abhängen würde.
Also wurden das Oberhaupt der serbischen Militäraufklärung und seine Mitstreiter von ihrer eigenen Regierung des Verrats beschuldigt und bald darauf erschossen. Dies war eine Art "Entschuldigung" für den Mord von Sarajewo; gleichzeitig wurden auch die überinformierten Zeugen beseitigt.
Nach 1918 bemühte man sich, diese Geschichte zu verdrängen. Laut Friedensvertrag von Versaille zählte Serbien zu den Siegern, und die unmittelbaren Mörder des Erzherzogs Franz-Ferdinand von Österreich wurden zu Nationalhelden des neugeborenen Jugoslawiens.
Nach wie vor werden gänzlich unbeteiligte Menschen für terroristische Taten bestraft - und das massenhaft! 1914 fielen Artilleriegeschosse auf Belgrad, und 2001 - Bomben und Raketen auf Afghanistan.
Nach wie vor gehen die unsichtbaren Herren des Terrors ungestraft ihrem Geschäft nach. Sie lassen ihre Programme nicht von Parlamenten ratifizieren, sie geben keine Interviews und keine Pressekonferenzen.
Selbst die bloße Tatsache ihrer Existenz ist keine allgemein akzeptierte Wahrheit, - obwohl die Verwirklichung ihrer Ideen eine Tragödie für die ganze Menschheit war und ist - in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft.
Frankfurt/Main, den 15.12.2002