Arthur Schopenhauer

Leben und Lehre - Persönlichkeit und Philosophie

Arthur Schopenhauer

Arthur Schopenhauer
1788-1860

Die folgende Darstellung zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie ist ein Textauszug aus einem Buch des Philosophen und Schopenhauer-Forschers Heinrich Hasse.* Es erschien 1926 unter dem Titel Schopenhauer. Obwohl seitdem fast 100 Jahre vergangen sind, ist Hasses Buch keineswegs veraltet, sondern nach wie vor sehr empfehlenswert. Die dort enthaltenen Anmerkungen wurden hier nicht übernommen. Dazu sei auf das Buch verwiesen. Der nachstehende Textauszug ist zugleich eine erste Einführung in Schopenhauers Leben und Lehre, wobei auch die Frage erörtert wird, inwieweit sich die Persönlichkeit Schopenhauers in dessen Philosophie widerspiegelt:

"Mein Leben in dieser Welt" - lautet eine Aufzeichnung [Schopenhauers] aus der Zeit der Entstehung seines Hauptwerkes (1816) - "ist ein bittersüßer Trank. Er ist nämlich wie mein Dasein überhaupt, ein stetes Erwerben von Erkenntnis, Gewinnen von Einsicht, daß hier diese wirkliche Welt und mein Verhältnis zu ihr betrifft. Der Gehalt dieser Erkenntnis ist traurig und niederschlagend: aber die Form der Erkenntnis überhaupt, das Gewinnen an Einsicht, das Eindringen in die Wahrheit ist durchaus erfreulich und mischt fortwährend seine Süße in jene Bitterkeit, seltsamerweise."

"Was ist der größte Genuß, der dem Menschen möglich? - ´Die intuitive Erkenntnis der Wahrheit.`- Die Richtigkeit der Antwort leidet nicht den mindesten Zweifel." Damit erhebt sich die vielerörterte Frage nach dem Verhältnis von Leben und Lehre, von Persönlichkeit und Philosophie bei Schopenhauer.

Herausgefordert wird diese Frage durch die Wahrnehmung eines auffallenden Gegensatzes, der zwischen den Grundzügen der menschlichen Individualität und dem Lebensgang des Philosophen auf der einen Seite und führenden Gedanken seiner Lehre auf der anderen zutage tritt. Befinden sich Leben und Lehre, Persönlichkeit und Werk in innerer Übereinstimmung oder in innerem Widerstreit? Und was folgt aus der richtigen Antwort darauf für die Würdigung dieser Philosophie?

Zahlreich sind die Gebiete, auf welchen man die Fragestellung nach Übereinstimmung und Widerstreit zwischen Leben und Lehre in dem hier gemeinten Sinne ohne weiteres als gegenstandslos erkennt. Bei der wissenschaftlichen Leistung eines Mathematikers, Chemikers oder Astronomen ist sie offenbar ohne Sinn. Anders scheinen die Verhältnisse zu liegen, wenn es sich um das Werk eines Philosophen handelt, zumal wenn dieser als Ethiker das menschliche Wollen und Handeln auf seinen Wert und Unwert hin erforscht und das Ergebnis seiner Untersuchung in fest umrissener Lehre fixiert hat.

Hier scheint die Frage nach dem Verhältnis zwischen Leben und Lebenswerk berechtigt, wenn nicht geboten; denn hier bewegen sich Denker und Gedachtes sozusagen auf gleicher Ebene. Hier besteht die Möglichkeit einer Verkörperung gedanklicher Ergebnisse im Leben der philosophischen Persönlichkeit. Hier kann andrerseits der Mangel solcher Verkörperung zu der Annahme verführen, es sei der innere Zusammenhang zwischen Leben und Lehre unterbrochen.

Letzteres scheint auf den ersten Blick bei Schopenhauer der Fall zu sein. Der zähen, unbeirrbaren, oft verletzenden Willensbehauptung im Leben des Philosophen steht bei ihm eine Lehre gegenüber, welche das Phänomen der Willensentäußerung zur Grundlage alles sittlichen Verhaltens macht und die 'Formel „Neminem laede, imo omnes, quantum potes, java” [Was du nicht willst, daß man dir tu, das füge keinem andern zu] als obersten Grundsatz der Ethik enthält.


Dem maßvollen, aber bewußten Streben nach entschiedenem Lebensgenuß steht eine Lehre gegenüber, welche den Einblick in das allumfassende, unausschöpfliche Weltleid zur Quelle der Abkehr von den irdischen Genüssen werden läßt. - Der Gegensatz ist offenbar. Aber hier gilt es, vor gefährlichen Irrtümern und Vorurteilen auf der Hut zu sein.

Das gekennzeichnete Kontrastverhältnis zwischen Gelehrtem und Gelebtem bietet zunächst nicht die sachliche Grundlage, um das Leben des Denkers gegen seine Lehre auszuspielen und die letztere durch Hinweis auf ersteres herabzusetzen. Ebensowenig wie die Nötigung besteht, daß der Kunstkenner und -kritiker selbst schaffender Künstler sei, ist an den philosophischen Ethiker von vornherein das Ansinnen zu stellen, daß, er erkannte Wertverhältnisse selber in praktisches Handeln umsetze.

Schopenhauer drückt dies in seiner Weise durch die scharfgeprägte Formel aus, der Philosoph brauche ebensowenig ein Heiliger zu sein, wie der Heilige ein Philosoph, entsprechend wie ein großer Bildhauer nicht ein Mensch von vollkommener Schönheit zu sein brauche und umgekehrt.

Wenn man aber in dem bezeichneten Kontrast zwischen Leben und Lehre einen „Widerspruch“ erblickt hat, so liegt dieser Auffassung, wie schon von anderer Seite betont worden ist, eine prinzipielle Unklarheit in Gestalt doppelsinnigen Gebrauchs des Wortes „Lehre“ zugrunde, indem dasselbe einmal im weiteren Wortsinne als „Theorie“, sodann im engeren Sinne als „Vorschrift“ verstanden wird.

Ein Widerspruch zwischen Gelehrtem und Gelebtem wäre aber bei Schopenhauer nur dann konstatierbar [festzustellen], wenn er eine „Lehre“ im zweiten (engeren) Sinne verträte, also Vorschriften sittlicher Art erteilte, welche er in seinem eigenen Verhalten nicht befolgt hat. Das aber ist durchaus nicht der Fall. Vielmehr lehnt die Ethik Schopenhauers es ausdrücklich ab, in Gestalt irgendwelcher Imperative [Gebote] eine präskriptive [vorschreibende] Gestalt anzunehmen.

Gleich der Erkenntnistheorie und der Metaphysik Schopenhauers begnügt sich auch dieser Teil der Philosophie unsres Denkers damit, das Vorhandene in seinem Zusammenhange zu klären und zu deuten. Er behält deskriptiven [beschreibenden] Grundcharakter und mutet niemandem eine bestimmte Weise des Handelns oder der Gesinnung zu.

Erweist sich somit die Behauptung eines „Widerspruchs“ zwischen Leben und Lehre bei Schopenhauer, tiefer gesehen, als sinnlos, so bleibt doch das Bedürfnis nach Erklärung der oben berührten Divergenz beider Glieder unvermindert bestehn. Ist das Verhältnis logisch nicht zu beanstanden, so fragt es sich doch, wie es faktisch zu beurteilen ist. Spiegeln sich die Ergebnisse der Lehre des Denkers im Leben und in der Persönlichkeit desselben so wenig wider, daß sie geradezu als ihnen widersprechend haben empfunden werden können, so erhebt sich die Frage, ob überhaupt ein innerer Zusammenhang tieferer Art zwischen beiden Teilen besteht. In der Tat sind dieser Frage gegenüber höchst verschiedenartige Antworten laut geworden.

Sehen die einen in Schopenhauers Philosophie einen entschiedenen Ausfluß seiner inneren Persönlichkeit, ja ein „allerpersönlichstes Manifest", so haben andere sie als unpersönliches Vorstellungsgebilde, als ersonnene Gedankenschöpfung betrachtet, an deren Entstehung keine tieferen Gemütskräfte der menschlichen Persönlichkeit beteiligt sind.

Kennzeichnend für die zweite Auffassung ist die Auslegung Kuno Fischers, nach welcher der philosophische Pessimismus Schopenhauers lediglich „Bild", nicht „Schicksal“ für seinen Schöpfer gewesen sein soll. Behauptet doch diese Auslegung, daß der Philosoph niemals von dem Gefühl für die von ihm verkündete leidvolle Beschaffenheit der Welt im Innersten ergriffen und durchdrungen, auch niemals selbst eine „Beute leidensvoller Schicksale“ geworden sei, sondern als ein großer philosophischer Schauspieler die tragischen und komischen Wirkungen in seiner Gewalt gehabt habe.

Geistreich erklärt Kuno Fischer, Schopenhauer habe die Tragödie des Weltelends gleichsam als Theaterstück von bequemem Fauteuil aus mit dem Opernglase betrachtet, mit gespannter Aufmerksamkeit, tiefem Ernst und durchdringendem Blick dem Verlauf der Tragödie folgend, um dann „tieferschüttert und seelenvergnügt“ nach Hause zu gehn und das Geschaute darzustellen.

Selten hat eine Deutung so fehlgegriffen wie diese. Es bedarf nur einer unvoreingenommenen Versenkung in Schopenhauers Leben und Schriften, um sich von dieser Verfehltheit zu überzeugen, zugleich aber den Weg zu richtigerem Verständnis des Verhältnisses von Leben und Lehre zu finden. Schon die eminente Hingebung, mit der das Leben des Denkers sich dem Werke unterordnet, deutet darauf, daß die Beziehungen zwischen beiden sehr innige sind. „In meinem Werke stecke ich selbst ganz“ hat Schopenhauer gelegentlich erklärt. Diese Worte sind nicht allein ernst zu nehmen, sondern eine unbefangene Nachprüfung bestätigt ihre Richtigkeit durchaus.

Schopenhauers philosophische Grundanschauungen sind in der Tat „erlebt“, wie wenige es sind, und als echter Ausfluß seiner Persönlichkeit zu betrachten. Insbesondere ist die pessimistische Lehre keineswegs „Bild“, sondern mit stärkstem inneren Erleben gesättigt. Vom Reisetagebuch des Knaben, dem die Sträflinge im Bagno von Toulon und die Ruinen von Nimes ein Sinnbild menschlichen Geschickes werden, den Jugendversen mit ergreifenden Bekundung innerer Nöte, den Briefen der Mutter mit ihren vergeblichen Versuchen, den düster gestimmten Betrachtungen des Sohnes zu steuern, dem Vitae curriculum [Lebenslauf] bis zu den Berichten Frauenstädts und Gwinners aus Schopenhauers Frankfurter Zeit liegt eine Fülle von Zeugnissen vor, welche übereinstimmend zeigen, daß die pessimistischen Grundanschauungen des Philosophen aus tiefem persönlichen Erleben geboren sind.

Dieses Erleben resultiert aus der engen Verbindung einer machtvoll-düsteren Temperamentsanlage mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit gegenüber allem, die finsteren Zusammenhänge des Wirklichen verhüllenden und daher die klare Einsicht in diese trübenden Schein. „In meinem siebzehnten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich aus der Welt sprach, überwand bald die auch mir eingeprägten jüdischen Dogmen, und mein Resultat war, daß diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens sein könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Dasein gerufen, um am Anblick ihrer Qual sich zu weiden: darauf deuteten die Data, und der Glaube, daß es so sei, gewann die Oberhand.“ So lautet ein Zeugnis der aufschlußreichsten Art. „Aus langgehegten, tiefgefühlten Schmerzen wand sich's empor aus meinem innern Herzen --“, konnte Schopenhauer kurz nach Vollendung seines Hauptwerks (1819) schreiben.

Wiederholt betont er, und sicherlich auf Grundlage eigenster Erfahrungen, daß echte philosophische Gedanken nicht ohne innere Ergriffenheit, ja innere Erschütterung ihres Urhebers zustande kommen, und daß sie auch in ihrer sprachlichen Einkleidung mit dem Kennzeichen eines so gearteten Ursprunges behaftet bleiben. „Les grandes pensées viennent du coeur“ [Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen] bekennt er mit Vauvenargues. Das gilt nun in hohem Grade von Schopenhauers eigenen Schriften. Diese tragen bis in die philosophisch tiefsten und kühnsten Darlegungen durchaus den Charakter des Innerlich-Durchkosteten und Selbsterlebten und wirken gerade deshalb auf den empfänglichen Leser so stark. Nicht zu Unrecht sagt Ruyssen, kein Denker seit Pascal habe seinem Werk ein persönlicheres Gepräge verliehen als Schopenhauer.


Auch in den Darstellungen sublimster Willensentäußerung als Krone der Moralität, wie wir sie aus der Feder dieses entschiedenen Willensmenschen besitzen, schwingt von ihm Allerpersönlichstes mit. So tritt zu den biographischen Dokumenten das Zeugnis der Philosophie Schopenhauers selbst, keinen Zweifel gestattend, daß diese Philosophie mit Leben und Charakter ihres Schöpfers psychologisch in engem Zusammenhang und demgemäß mit ihnen in innerer Übereinstimmung steht. Die Frage nach der Einheit zwischen Leben und Lehre, zwischen Persönlichkeit und Werk kann unter diesem Gesichtspunkt nur in positivem Sinne beantwortet werden. Schopenhauer „steckt“ tatsächlich „selbst ganz“ in seinem Werk.*

* Aus: Heinrich Hasse , Schopenhauer , München 1926, S. 70 ff.

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